Paul, seine Freunde und Rojkus verbrachten unruhige Stunden in ihrem Unterschlupf. Dankbar für die Rast nach ihrer anstrengenden und gefährlichen Wanderung waren sie dennoch in Gedanken ständig bei Zäkary und Ailyan. Vielleicht hätten sie doch besser alle zusammenbleiben sollen? Wenn nun ausgerechnet den beiden Kleinsten ein Leid geschah?
Rojkus spürte die Unruhe der Kinder. Auch er sorgte sich um die mutigen, kleinen Späher. Vor allem aber um Grusine.
»Denkt ihr dasselbe wie ich?«, fragte Philipp plötzlich.
»Wenn du meinst, wir hätten Zäkary und Ailyan nicht alleine losschicken sollen, dann denke ich dasselbe«, sagte Paul.
»Ich mach mir solche Sorgen«, stimmte Anna mit weinerlicher Stimme zu.
»Wir waren eben blöd«, stellte Lukas fest.
»Nein! Blöd nicht. Nur total kaputt und erledigt. Die Sache mit dem Riesen war ja auch wirklich der Hammer. Das mussten wir erst mal verkraften.« Philipp suchte wie immer nach vernünftigen Erklärungen.
»Am liebsten würde ich mich gleich auf den Weg in die Stadt machen und selbst nach Grusine suchen.« Paul bebte vor Ungeduld.
»Leute, jetzt mal ganz langsam! Bevor wir uns nicht richtig ausgeruht haben, sollten wir gar nichts unternehmen. Das, was dort in dieser Stadt auf uns wartet, wird unsere gesamten Kräfte fordern. Also! Jetzt schlafen wir noch ein paar Stunden! Und wenn dann Zäkary und Ailyan nicht wieder zurück sind, brechen wir auf. Am besten, solange es noch dunkel ist«, meinte Rojkus.
An Schlaf war aber gar nicht zu denken. Sobald sie die Augen schlossen, spukten tausend Schreckensbilder in den Köpfen der Kinder herum.
Rojkus wusste, dass sie sich auf diese Weise nur weiter in eine Panik hineinsteigern würden. Er beschloss, die Kinder mit einer Geschichte von ihren Ängsten abzulenken. Und so begann er zu erzählen: »Einst lag in der Anderwelt, weit abseits von den Wohnstätten der Menschen, eine große, blühende Stadt, umgeben von hohen Bergen, deren ewiges Eis selbst die Sommersonne nicht zum Schmelzen brachte. Hier wohnte ein Hirtenvolk, das recht abgesondert lebte. Selten verirrten sich Fremdlinge in diese Gegend. Eines Tages aber schritt ein Unbekannter durch den Ort. Der Mann war von hohem Wuchs, ganz in Schwarz gekleidet, und sein Gesicht hatte die Farbe von gebleichtem Leinen. Obwohl er total erschöpft aussah, ließ er sich nirgends nieder und betrat auch keine Schenke. Denn auf ihm lastete ein Fluch: Er musste ewig weiterwandern, es sei denn, jemand lud ihn zu sich ein.
Der Mann ging von Haus zu Haus, blieb vor jeder Tür stehen und seufzte laut. Aber niemand forderte ihn auf, sich zu setzen oder einzutreten. Den Bewohnern graute vor ihm, und dennoch versammelte sich allmählich ein ganzer Tross, der ihm durch die Straßen folgte.
Schließlich drehte sich der unheimliche Fremde um und sprach: ›Bewohner dieser Stadt! Ihr seid grausam und habt kein Herz. Ich werde gehen, aber ihr bleibt zurück. Ihr werdet vergehen, und wenn ich wiederkehre an diesen Ort, so werden eure Häuser leere Hüllen sein. Ich werde auch ein drittes Mal kommen und dann nichts als einen Haufen Steine finden.‹
Alle erschraken und traten zur Seite. Der finstere Geselle schüttelte drohend seinen Wanderstab und strebte stumm dem Ortsausgang zu.
Da öffnete sich die Tür einer schäbigen, kleinen Kate.
Heraus stürmte ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen. Es warf einen Ball in die Luft und jauchzte hell auf. Als es den fremden Mann kommen sah, stutzte das Kind einen Augenblick. Dann rief es: ›Komm, spiel mit mir!‹ Und es griff nach der Hand des großen Fremden.«
»Das könnte hier passiert sein. Hier, in Karakoy«, unterbrach Philipp die Erzählung.
»Und was geschah dann?«, fragte Anna. Dabei konnte sie ein Gähnen nicht unterdrücken.
»Nahm das kleine Mädchen den Fremden mit in sein Haus? Meine Mutter hätte das sicher nicht erlaubt«, sagte Lukas nachdenklich.
»Ja. Das tat die Kleine.« Rojkus beendete seine Geschichte mit den Worten: »Und so erlöste sie den Mann von seinem Fluch, und die Stadt war gerettet.«
»Hat sich das wirklich zugetragen, oder hast du die Geschichte einfach so erfunden?«, wollte Anna wissen.
»Schöne Geschichte und auch ein wenig gruselig«, fand Paul. »Wie alles hier in der Anderwelt.«
»Jede Geschichte enthält auch ein Körnchen Wahrheit«, sagte Rojkus. »Überlegt selbst, warum ich sie euch erzählt habe!«
»Vielleicht um uns Mut zu machen«, glaubte Anna. »Ein kleines Mädchen hat die Stadt gerettet. Und wir sind ja auch Kinder.«
»Es wird alles gut gehen«, verkündete plötzlich Philipp mit großer Zuversicht.