Tatsächlich fanden die Kinder etwas Schlaf. Doch mitten in der Nacht, es war noch stockfinster, spürte Paul, wie eine kleine Pfote mit scharfen Krallen an seinem Ohr zupfte. Völlig benommen schreckte er hoch und tastete nach dem unsichtbaren Ruhestörer. Es war Zäkary.
»Oh, du bist zurück. Gott sei Dank! Aber wo ist Ailyan?«, fragte Paul.
»Ja, ihr Schlafmützen. Auf, auf! Was ich euch jetzt mitteile, wird euch nicht erfreuen.«
Nach und nach erwachten auch die anderen Kinder. Als sie erkannten, wer da mit Paul sprach, waren sie mit einem Schlag hellwach. Sie wollten nichts von dem verpassen, was Zäkary zu berichten hatte.
»Ailyan ist auf der Burg geblieben. Es hätte viel zu lange gedauert, ihn ein zweites Mal durch den Geheimgang zu bugsieren.«
»Also hast du Grusine gefunden?«, fragte Rojkus hoffnungsvoll.
»Geheimgang?«, stutzte Philipp.
»Bist du unverletzt?«, fragte Anna.
»Geht es Grusine gut?«, wollte Paul wissen.
Alle sprachen gleichzeitig. Sie überschütteten Zäkary regelrecht mit Fragen.
»Halt! Für Einzelheiten bleibt keine Zeit. Wir müssen sofort los. Solange es noch dunkel ist. Gerade haben die Wächter die Bestien wieder in ihre Käfige zurückgebracht. Soweit ich das beurteilen kann, halten sich von zwei Uhr nachts bis sechs Uhr morgens nur einige wenige Wachen auf dem Gelände der Festung auf. Irgendwann müssen die ja auch mal schlafen. Deshalb ist es günstig, wenn wir jetzt aufbrechen. So kommen wir wenigstens heil in die Stadt hinein und zum Brunnen hin.«
»Brunnen?«, wunderte sich Lukas.
»Aber sag uns zumindest, was mit Grusine ist! Geht es ihr gut?«, fragte Paul besorgt.
»Gut kann man nicht gerade behaupten. Atrox’ Männer scheinen sich nie zu waschen. Die Farbe ihrer Gesichter ist nicht zu erkennen. Sie waschen auch keine Wäsche. Ihre Pelzkleidung und ihr Schuhwerk sehen aus, als seien sie einem toten Hund abgezogen worden. Sie verbreiten einen ekelhaften Gestank! Aber sie lebt, wenn ihr das meint.«
Furcht kroch in den Kindern hoch. Die bruchstückhaften Auskünfte von Zäkary klangen alles andere als ermutigend. Es sah so aus, als wollte er von seinen Erlebnissen nur wenig preisgeben, damit sie nicht vor dem letzten Teil ihres Abenteuers zurückschreckten.
»Also, jetzt geht es aufs Ganze! Es gibt kein Zurück mehr«, sagte Philipp und täuschte Entschlossenheit vor. »Denkt an den Schutzzauber, den uns die Große Mutter mitgegeben hat!« Er tastete nach dem Band mit dem geheimnisvollen Knochenstück, das er um den Hals trug.
Die anderen Kinder taten es ihm gleich.
»Zur Not haben wir ja auch noch die Schrumpf- und die Unsichtbarkeitstropfen«, erinnerte Anna sie. Aber ihre Stimme zitterte.
»Die werdet ihr auch brauchen.«
Na super! Wenn Zäkary keine flotten Sprüche mehr auf Lager hatte, konnte das nur eines bedeuten: Er hatte selbst ordentlich Muffensausen.
»Aber Rojkus kommt doch mit uns?« Lukas fühlte sich nur in der Obhut des Wolfes einigermaßen sicher.
Bei diesen Worten erhob sich das Tier. Es verließ den Unterschlupf und richtete sich im Freien zu seiner vollen Größe auf. Majestätisch reckte der Wolf den Kopf gen Himmel und schickte einen schaurigen Klagegesang Richtung Stadt.
Als die Kinder ebenfalls vor die Tür der Hütte traten, sahen sie seine schwarzen Umrisse genau vor der runden Scheibe des Mondes.
»Ich werde bei euch sein, wohin ihr auch geht, und ich werde euch beschützen. Notfalls mit meinem Leben«, versprach Rojkus.
In der Dämmerung erreichten die Kinder den Platz, wo der Brunnen stand. Die Stadt wirkte immer noch wie ausgestorben. Zäkary hatte den Kindern unterwegs von den Riesenkatzen erzählt. Selbst sie schienen so früh am Morgen spurlos verschwunden zu sein.
Als die Kinder ahnten, was für einen halsbrecherischen Weg sie im Inneren des Brunnens nehmen mussten, kroch erneut Furcht in ihnen hoch.
»Los! Steigt rein! Es hilft alles nichts. Es gibt nur diese eine Möglichkeit, um heimlich in die Festung zu kommen«, versuchte der Rattenmann, die Kinder zu ermutigen.
»Haben wir denn gar keine Lampe?«, fragte Anna besorgt.
»Ich werde euch führen«, beruhigte Rojkus sie.
Also kletterten alle hinter Zäkary und dem Wolf in den Brunnen. Die morschen Pfosten ächzten und knarrten unter ihrem Gewicht.
Bald waren sie so tief unten angelangt, dass kein heller Schimmer mehr von oben zu ihnen durchdrang. In vollkommener Dunkelheit tasteten sie sich mit Händen und Füßen weiter voran.
Nach gefühlten Stunden rief Zäkary: »Achtung! Wir haben’s beinahe geschafft. Jetzt kommt der Tunnel.«
Der letzte Pfosten endete knapp über einem runden Loch. Für Zäkary war es kein Problem, dort hineinzuschlüpfen. Aber die Kinder mussten regelrecht akrobatische Verrenkungen machen, um in die Öffnung zu gelangen.
»Schau nicht nach unten!«, ermutigte Philipp Anna, die stumm zu weinen anfing.
»Ich sehe sowieso nichts«, schluchzte sie, »aber ich weiß, wenn ich falle, breche ich mir sämtliche Knochen.«
»Du fällst aber nicht«, sagte Philipp energisch. »Zur Sicherheit kannst du ja mal nach dem Knochenstück an deinem Hals greifen.«
Heimlich taten das daraufhin alle Kinder.
Tatsächlich landeten sie heil in dem engen, dunklen Tunnel. Hier konnten sie sich allerdings nur kriechend vorwärts bewegen.
»Ich komme mir vor wie ein Maulwurf«, jammerte Paul.
»Da siehst du wenigstens mal, wie wir Vierbeiner so leben«, witzelte Zäkary.
Nach einer Weile spürten sie, dass der Tunnel sich weitete. Sie konnten sich aufrichten und schließlich sogar aufrecht stehen.
Plötzlich flackerten in einiger Entfernung kleine Lichter auf.
»Still! Bewegt euch nicht!«, flüsterte Zäkary. »Das kommt mir spanisch vor. Ich werde mich mal anschleichen und die Lage peilen.«