Völlig erstarrt vor Angst hockten die Kinder reglos in der Dunkelheit. So sehr sie sich auch anstrengten: Sie hörten nichts. Ungeduldig warteten sie auf die Rückkehr Zäkarys.
Es dauerte auch nicht lange, da bewegte sich eines der Lichter auf sie zu. Der Schein wurde größer und größer. An Flucht war nicht zu denken.
Wie furchtbar!
Man hatte sie entdeckt.
»Psssst! Erschreckt nicht! Ihr werdet es nicht glauben, wen ich hier im Schlepptau habe!«
Zäkarys Stimme klang nicht im Geringsten panisch. Im Gegenteil! Er schien geradezu begeistert zu sein.
Die Kinder rieben sich die Augen. Geblendet von einem grellen Lichtschein konnten sie im ersten Moment nicht erkennen, wer da neben Zäkary stand. Erst als ihre Augen sich ein wenig an die Helligkeit gewöhnt hatten, sahen sie ein Wesen, halb Tier, halb Mensch. Nicht größer als sie selbst war es von Kopf bis Fuß in ein zotteliges Fell gehüllt. Das unheimliche Geschöpf lief auf zwei Beinen und verbarg unter seiner Hülle ein dunkles, runzeliges Gesicht mit langem, weißem Bart.
»Das ist Dodupak Wämsken!«, rief Paul plötzlich. »Ich kenne ihn. Mit Grusine war ich schon einmal nachts in seinem Haus.«
»Ja, mein Junge. So ist es. Und nun bin ich mit meinem ganzen Volk gekommen, um Grusine zu befreien. Es ist an der Zeit, dass jemand diesem Atrox endlich das Handwerk legt. Als wir hörten, dass ihr so mutig wart und dies tun wolltet, warfen auch wir alle unsere Bedenken über Bord. Wir sind gekommen, um euch zu unterstützen.«
»Das ist großartig!«, rief Paul. »Aber sag uns: Habt ihr einen Plan? Wie wollen wir vorgehen? Kennt ihr euch auf der Festung aus?«
»Wie du siehst, haben wir unser Äußeres verändert. Kommt mit nach vorne! Dann werdet ihr es sehen«, teilte der kleine Mann den Kindern mit. »Außerdem hat Zäkary ja schon das Gelände erkundet. Er und Rojkus werden sich an die Spitze unserer Truppe begeben.«
Nun beeilten sie sich, die Gefährten von Dodupak einzuholen. Was sie dann weiter vorne in dem Felsentunnel vorfanden, verschlug ihnen die Sprache. Eine riesige Armee der kleinen Geschöpfe füllte den engen Gang. Alle waren in Tierhäute gehüllt. Ein furchteinflößender Anblick! Es mussten Tausende sein, denn die Spitze der Truppe verlor sich in der Ferne.
»Wir werden in die Festung eindringen und dort die Wachen überrumpeln«, erklärte Dodupak. »Sie werden denken, die Hölle hätte ihre schrecklichsten Kreaturen entsandt. Wir müssen die Wachen überwältigen, bevor sie richtig zu sich kommen und erkennen, dass wir nicht sind, was wir zu sein vorgeben. Und bevor sie dazu kommen, die Orochien aus den Gewölben zu holen.«
Lautlos teilte sich die Menge der gruselig aussehenden Fellträger und ließ die kleine Gruppe mit Dodupak, Rojkus und Zäkary passieren. Hinter ihnen schlossen sich die Reihen wieder lautlos. Von vorne betrachtet sah das aus, als ob sich ein einziges, unheimliches Urzeitmonster durch den Felsengang wälzen würde.
Gut so!, dachte Philipp. Damit haben wir eine echte Chance, Atrox und seine Mannen zu überwältigen.
Der Felsentunnel mündete in ein hohes Gewölbe. Von diesem aus verzweigten sich Gänge in mehrere Richtungen. Zäkary musste nicht lange überlegen. Er lotste die Verbündeten geradewegs in den mittleren Gang. Der weitere Weg durch den Felsen führte nun in unzähligen Windungen steil nach oben.
Paul drehte sich mehrmals ängstlich um, da er sicher sein wollte, dass die Armee des Kleinvolks ihnen auf dem Fuße folgte und nicht etwa alles nur ein Spuk war. Die Laternen der kleinen Gestalten malten Irrlichter an die Wände. Paul kam sich vor wie in einem schrecklichen Albtraum.
Aber es war kein Traum.
Bald standen sie in einem riesigen Vorratskeller. Dass es sich um einen solchen handelte, erkannten sie an den Utensilien, die hier – allerdings in größter Unordnung – gestapelt lagen: Säcke mit Getreide, Rüben und Äpfeln. Viele davon hatte man geöffnet. Ihr Inhalt ergoss sich zum Teil auf den nackten Felsenboden. In einer Ecke standen Hunderte von Eichenfässern. Ein scharfer Geruch nach faulig Gegorenem stieg den Ankömmlingen in die Nase. Von der Decke herunter hingen an Haken Streifen getrockneten Fleisches.
»Ich möchte lieber nicht wissen, von welchen Lebewesen dieses Fleisch stammt«, murmelte Zäkary leise vor sich hin.
»Besonders üppig scheinen die Mahlzeiten von Atrox und seinen Getreuen ja nicht gewesen zu sein. Das hier sieht alles total verwahrlost aus. Als hätte sich schon lange keiner mehr um eine ordentliche Vorratshaltung gekümmert«, sagte Dodupak Wämsken verächtlich.
Paul musste an das blitzsaubere Häuschen am See denken. Wie freundlich waren er und Grusine dort bewirtet worden …
Zäkary wetzte bereits hinüber zu einer niedrigen Tür, gezimmert aus dicken Holzbohlen. »Hier geht’s direkt in den Hof der Burganlage. Die Frage ist, ob sich in Reichweite eine Wache aufhält? Ich gehe besser erst mal alleine vor. An Ratten sind die ja hier gewöhnt. Da falle ich überhaupt nicht auf.«