Kapitel 38

Dodupak Wämsken lugte durch einen Türspalt nach draußen. Rojkus hatte sich dicht neben ihm postiert. Im Burghof legte die Dämmerung graue Schleier über Gesinde- und Zeughaus sowie über die Mauern des Palas’. Viele der Fackeln auf den Wehrgängen waren bereits erloschen. Nur noch einige wenige schickten zuckende Flämmchen in den Himmel hinauf.

Es dauerte auch nicht lange, da war Zäkary zurück. Er kam in Begleitung eines Jungen, der etwa so groß wie Paul war. In dem düsteren, nur von Laternen erhellten Vorratskeller erkannten ihn die Kinder im ersten Moment nicht. Es war Ailyan.

»Mensch, du bist ja in der Zwischenzeit ein ganzes Stück gewachsen!«, flüsterte Philipp begeistert.

»Ja, stimmt! Das ist gut und auch wieder nicht. Denn inzwischen wurde es richtig gefährlich für mich. Ich wusste nicht mehr, wie ich mich vor der Burgbesatzung verstecken sollte. Während ich zuerst problemlos überall hineinschlüpfen und mich umsehen konnte, bin ich nun andauernd damit beschäftigt, mich von einem Winkel in den nächsten zu verdrücken. Gut, dass ihr jetzt hier seid! Aber keine Sorge! Bisher bin ich noch nicht aufgeflogen.«

Ungeduldig unterbrach Dodupak diesen Bericht. »Wie sollen wir denn nun vorgehen? Wo befinden sich die Wachen? Wo ist Grusine, und wo hält sich Atrox auf?«

Ailyan wusste genau Bescheid. »Ein Großteil der Besatzung hat sich im Zeughaus zum Schlafen niedergelegt. Dort solltet ihr beginnen. Aber Vorsicht! Die Kerle sind schwer bewaffnet. Vor dem Palas steht nur ein Wachmann. Der schläft zwar nicht, ist aber inzwischen so erschöpft von seinem Nachtdienst, dass er sich kaum noch auf den Füßen halten kann. Im Palas befinden sich die Gemächer von Atrox. Um ihn außer Gefecht zu setzen, müssen wir uns des Steins bemächtigen. Sobald der nicht mehr in seinem Besitz ist, wird Atrox zu Staub zerfallen – und mit ihm alle seine schrecklichen Kreaturen.«

»Gut«, sagte Dodupak. »Dann teilen wir uns jetzt auf. Die Hälfte von meinen Leuten dringt in das Zeughaus ein. Wir sind nicht gekommen, um zu töten, sondern um zu verwandeln. Also werden wir die Männer nur tüchtig erschrecken und dann festsetzen. Die andere Hälfte unserer Armee wird unter der Führung von Rojkus in den Palas eindringen. Und dort brauchen wir euch.« Dodupak wandte sich nun an die Kinder. »Dies ist der Moment, wo ihr die Unsichtbarkeitstropfen der Großen Mutter einnehmt. Denn anders kommen wir nicht an den Stein heran. Ihr müsst ihn so schnell wie möglich finden und in euren Besitz bringen. Wir können Atrox zwar überrumpeln und für geraume Zeit in Schach halten, aber ohne den Stein in unseren Händen wird das Böse wieder übermächtig werden.«

»Aber wo sollen wir suchen? Das Gebäude ist ja riesig«, fragte Anna verzagt.

»Ihr braucht gar nicht zu suchen«, sagte Ailyan. »Ich habe bereits alles ausgekundschaftet. Die Getreuen von Atrox munkeln, dass er den Stein in einem ledernen Etui aufbewahrt. Er gibt ihn nie aus den Händen. Wenn er schläft, legt er ihn unter sein Kopfkissen.«

»Dann finden wir den Stein ganz sicher«, sagte Philipp. »Vor allem, weil Atrox uns ja nicht sehen kann.«

»Aber Grusine! Was ist mit Grusine? Ihr darf nichts geschehen!«, rief Paul voller Angst.

»Grusine hat er in den Turm gesperrt. Dort kommt ihr aber vorerst nicht hinein. Da müsste man schon bis zur ersten Fensterluke hochklettern. Ohne Leiter ist das unmöglich. Und die wird streng bewacht. Oder kann einer von euch fliegen?«, fragte Ailyan.

»Ich kann das«, sagte Paul. »Ich kann schweben. Grusine hat es mir beigebracht. Also werde ich keine Unsichtbarkeitstropfen zu mir nehmen, sondern Grusine befreien.«

Nachdem so weit alles geklärt war, reichten sich die Verbündeten feierlich die Hände. Mit ernsten Gesichtern schworen sie sich gegenseitig, dass jeder für den anderen da sein würde. Auch in Momenten größter Gefahr.

Dann öffnete Dodupak lautlos die Tür. Rojkus und Zäkary schossen hinaus. Hinter den beiden schwärmte ein Heer wimmelnder, pelziger Geschöpfe in den Burghof. Mitten im Gewusel liefen Paul, Anna, Philipp, Lukas und Ailyan. Nur dass man drei von ihnen gar nicht sehen konnte.