Kapitel 39

Paul stand am Fuße des Bergfrieds und blickte in die Höhe. Der Turm ragte steil in den Himmel. Die erste Fensterluke war sehr schmal und schien so weit vom Erdboden entfernt zu sein, dass der Junge am Gelingen seines Planes zweifelte.

Vom Zeughaus wehten jetzt dumpfe Schreie herüber. Paul hoffte inständig, dass den Leuten von Dodupak Wämsken kein Leid geschah.

Dagegen ging im Palas alles lautlos vonstatten. Niemand hielt sich mehr im Freien auf. Also mussten seine Freunde und der Rest der Armee des Kleinvolkes bereits ins Innere des Gebäudes vorgedrungen sein.

Paul versuchte, sich zu erinnern, was Grusine ihm damals im Räuberwäldchen beigebracht hatte.

»Du musst alle Energie nach oben in die Schultern wandern lassen, bis dein Körper sich leicht wie eine Feder anfühlt. Dann sprichst du leise zu dir selbst hoch, und schon geht es ab in die Lüfte.«

Er atmete aus, und tatsächlich fühlte er, wie sich seine Füße vom Erdboden lösten.

Bald schwebte er ungefähr auf der Höhe der Wehrgänge.

Dort ereignete sich etwas sehr Seltsames. Eine der Riesenkatzen, von denen Zäkary erzählt hatte, schob ihren löwengleichen Kopf über die Mauerbrüstung. Dabei setzte sie zeitlupenartig Pfote vor Pfote, als ob sie eine fette Beute im Visier hätte. Dann, ganz unvermittelt, machte sie einen Satz und landete auf leisen Sohlen direkt im Burghof.

Schon entdeckte Paul eine zweite Katze, die über die Mauer hechtete.

Aber nun musste er den Blick abwenden, denn er war direkt vor der ersten Fensterluke angekommen.

Paul krallte sich mit aller Kraft am Fensterrahmen fest, bis seine Füße ein wenig Halt auf dem Gesims fanden. Verstohlen spähte er ins Innere des Turms. Drinnen war es stockfinster. Ein modriger Geruch stieg ihm in die Nase. Eiseskälte schlug ihm entgegen.

»Grusine! Bist du da? Ich bin’s. Paul«, flüsterte er und lauschte eine Weile.

Doch nichts rührte sich. Bevor er sich kurz entschlossen durch die enge Luke zwängte, warf er noch einmal einen Blick hinüber zu den Wehrgängen. Dort wimmelte es inzwischen vor lauter Riesenkatzen.

»Ist das nun ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?«, überlegte Paul laut.

Im nächsten Moment fiel er und landete unsanft auf hartem Stein.

Erst einmal blieb er vor Schreck reglos liegen. Er drückte sich flach auf den Boden und spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Sein rechtes Knie begann zu schmerzen, aber er wagte nicht, seine Stellung zu verändern. Allmählich sah er, wo er gelandet war. Etwas Helligkeit drang durch die schmale Fensterluke herein und tauchte die kahle Kammer, in der Paul kauerte, in fahles Dämmerlicht.

Hier war Grusine jedenfalls nicht.

Und auch sonst niemand.

Gott sei Dank!

Aber er entdeckte eine enge Wendeltreppe, die nach oben und auch in die Tiefe führte. Paul beschloss, den Weg nach unten zu nehmen. Schritt für Schritt tastete er sich auf den steinernen Stufen vorwärts, immer wieder innehaltend.

Sollte er nach Grusine rufen?

Das erschien ihm aber doch zu gefährlich. Wie konnte er denn wissen, ob sich nicht Wachen in diesem Turm aufhielten?

Je weiter er nach unten vordrang, umso mehr wuchs in ihm die Überzeugung, dass er dort Grusine finden würde.

Die Treppe nahm jedoch vorerst kein Ende. Paul wurde es langsam schwindlig von den vielen Windungen. Er vermutete, dass er sich bereits unter der Erde befand.

Plötzlich drang ein Geräusch an sein Ohr. Wurde lauter, je tiefer er stieg. Nun konnte er es schon deutlich hören: Es klang wie Hämmern auf Metall.

Etwas Rötliches flackerte auf. Atemlos verharrte Paul auf seiner Treppenstufe. Er konnte in der Dunkelheit kaum etwas erkennen. Da musste irgendwo eine offene Feuerstelle sein. Magisch von dem roten Glühen angezogen stieg Paul lautlos die letzten Treppenstufen hinunter.

Doch was er nun vorfand, ließ ihn entsetzt keuchen. Über einer kreisrunden Öffnung im unebenen, felsigen Untergrund hing ein Gitterkäfig. Darin kauerte eine schmale Gestalt im schleierartigen, weißen Gewand. Grusine! Das Mädchen drückte sich ganz eng an die Käfigwand. Im Loch, aus dem der Feuerschein nach oben drang, hockte ein Orochus. Die Bestie erreichte mit ihrem langen, spitzen Schnabel gerade so den Boden des Käfigs. Wütend hackte das Biest immer wieder gegen die eisernen Gitterstäbe. Dabei kamen grässliche Zischlaute aus seiner Kehle.

»Grusine! Liebste Grusine! Hörst du mich? Was hat dieser Wüstling, dieser Unmensch, dieser Atrox, denn nur mit dir gemacht?«

Das Mädchen zuckte zusammen. Mit vor Angst geweiteten Augen starrte es in die Richtung, wo Paul auf seiner Stufe kauerte.

»Paul? Paul, bist du’s wirklich? Ich kann dich nicht sehen.«

Grusines Stimme wehte nur wie ein leiser Hauch zu dem Jungen herüber.

»Ja, ja! Ich bin’s. Halte durch! Ich werde dich hier rausholen. Sag mir, was ich tun soll!«

Im selben Moment sah er auch schon die eiserne Kette. Hoch über seinem Kopf, an der Decke des ersten Treppenabsatzes, war sie verankert. Mit einer Kurbel konnte man den Käfig hochziehen.

Sofort machte Paul sich ans Werk. Die Kette war rostig und wohl schon lange nicht mehr eingeölt worden. Paul hing sich mit seinem ganzen Gewicht an den Griff der Kurbel. Die Mechanik ächzte, quietschte und knirschte. Aber plötzlich ruckte der Käfig und bewegte sich ein Stück in die Höhe. Paul ließ nicht locker, obwohl seine Arme schmerzten. Der Orochus stieß nun heisere Wutschreie aus. Grusine kroch in die Mitte des Käfigs. Dieser begann, gefährlich zu schwanken.

»Halt! Es reicht schon!«, rief Grusine. »Jetzt kann der Orochus mich nicht mehr mit seinem Schnabel erreichen.Den Schlüssel! Der Schlüssel muss irgendwo neben der Kurbel liegen. Such den Schlüssel!«

Paul tastete ringsum den nackten Fels ab. Aber nirgends fand er einen Schlüssel.

»Such weiter!«, rief Grusine verzweifelt. »Der Schlüssel muss hier irgendwo sein.«

Schließlich fand Paul ihn auf einem Mauervorsprung direkt vor seiner Nase. »Und was jetzt? Meine Arme sind zu kurz. Ich kann die Käfigtür nicht öffnen«, jammerte er.

»Wirf den Schlüssel zu mir herüber!«

Paul wurde schwarz vor Augen. Er stellte sich vor, wie der Schlüssel an einem der Gitterstäbe abprallte und dann hinunter in das Loch fiel, in dem der Orochus lauerte. »Ich glaube, ich kann das nicht. Wenn ich nicht treffe, ist alles verloren.«

»Dann musst du eben jetzt zu mir herüberschweben! Eine andere Lösung gibt es nicht.«

Grusine hatte recht.

Also dann lieber schweben!

Paul stellte sich kurz vor, wie er in das Höllenloch stürzte und von der Bestie verspeist wurde … Er griff nach dem wundersamen Knochenstück an seinem Hals und flüsterte: »Große Mutter, bitte, beschütze mich mit deinem Zauber!« Dann raffte er sich auf und trat von der steinernen Stufe aus ins Leere.