Grusine und Paul standen vor der Fensterluke, von der aus der Junge in das Innere des Turmes gelangt war. Sie hielten sich an den Händen und blickten hinunter in den Burghof. Dort hatten sich nun ganze Heerscharen der Riesenkatzen versammelt. Eine größere Gruppe von ihnen belagerte den Eingang des Zeughauses.
»Was bedeutet das?«, fragte Paul. »Was tun diese Tiere hier?«
»Das sind die Unerlösten des Unsichtbaren Volkes und der Stadt Karakoy. Sie alle sind gekommen, um mitzuhelfen, Atrox endlich zu entmachten. Ohne euch hätten wir jedoch niemals den Mut gehabt, es zu versuchen.«
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür des Zeughauses, und Dodupaks fellverhüllte Kämpfer schwärmten in den Hof. Sie führten etwa ein Dutzend übel aussehende Gesellen mit sich. Die Männer stierten mit irrem Blick vor sich hin und konnten nicht begreifen, was mit ihnen geschah.
Einige Katzen erhoben sich lautlos. Sie sprangen die völlig überrumpelten Kerle an und warfen sie zu Boden. Dodupaks kleine Gefolgsleute wichen rasch zur Seite. Nun konnten Paul und Grusine sehen, wie die Katzen sich auf die am Boden hingestreckten Männer stürzten und ihnen ihre Tatzen auf die Schultern legten. Weiter taten sie nichts.
»Das sieht ja wirklich gruselig aus«, flüsterte Paul. »Was geschieht jetzt mit denen?«
»Warte nur ab! Das hängt davon ab, ob es deinen Freunden gelungen ist, Atrox den Stein zu entwenden.«
»Sollen wir nicht zum Palas hinübergehen und nachsehen, ob sie unsere Hilfe brauchen?« Paul war beunruhigt, weil sich drüben in dem Gebäude überhaupt nichts rührte.
Er wunderte sich über sich selbst und über seine mutige Tat. Ihm wurden jetzt noch die Knie weich, wenn er daran dachte, wie er zu Grusine hinübergeschwebt war, unter sich den Abgrund und den grässlich zischenden Orochus. Er hatte sich von außen an die Gitterstäbe des Käfigs geklammert und Grusine den Schlüssel hineingereicht.
Danach war alles ganz schnell gegangen. Die Käfigtür sprang auf, und Grusine hatte seine Hand gepackt. Ohne die Treppenstufen zu benutzen schwebten sie bis nach oben.
Und nun standen sie hier. Immer noch Hand in Hand. Grusine wirkte inzwischen heiter und entspannt. Als ob sie bereits wüsste, was als Nächstes geschehen würde.
Philipp, Lukas und Anna hatten im Schutz der kleinen, pelzverhüllten Gestalten die Treppe gestürmt, die hinauf zum Palas führte.
Dort hockte einer von Atrox’ Gefolgsleuten. Er schlief, anstatt seine Pflicht zu tun und den Eingang zu bewachen.
Rojkus sprang als Erster die Stufen hinauf und verbiss sich im Arm des Mannes. Der schreckte hoch und wollte nach seiner Waffe greifen. Doch Ailyan schnappte sie blitzschnell. Er warf sie einem der kleinen Fellträger zu. Der so überrumpelte Wachmann stieß einen Schrei aus, als er erkannte, wer ihn da gepackt hielt. Mit hektischen Bewegungen versuchte er, den Wolf abzuschütteln.
Zäkary war sofort zur Stelle, kletterte am Hosenbein des Tobenden hoch und biss ihn in die Hand. Da fiel der Blick des Mannes auf das Gewimmel der pelzigen Wesen, die nun ebenfalls die Treppe eroberten. Die Augen fielen ihm beinahe aus dem Kopf. Sein Körper erschlaffte, und Rojkus konnte ihn wie einen Sack voller Rüben ins Innere des Gebäudes schleppen.
»Rasch! Nehmt das da und stopft es ihm in den Mund!«, flüsterte einer von Dodupaks Zwergen und riss mit einem energischen Ruck ein Stück Stoff von seiner Tunika ab.
Ailyan entriegelte die Klappe zu einem niedrigen Verschlag neben dem Eingang. Rojkus zerrte den willenlosen Mann hinein, und der Zwerg schob lautlos die drei mächtigen Eisenriegel wieder vor.
Nun standen sie in der gewaltigen Eingangshalle des Palasʼ. Alle rückten eng zusammen und verharrten einen Augenblick. Hatte Atrox etwas von dem Gerangel mitbekommen? Gab es etwa irgendwelche Bedienstete in diesem Teil der Burg?
Im oberen Stockwerk blieb es still. Unheimlich still!
»Kannst du uns zeigen, wo sich Atrox’ Schlafgemach befindet?
Ailyan zuckte zusammen, als er Philipps Stimme direkt an seinem linken Ohr vernahm. Er spürte, wie der Atem des Jungen seine Wange streifte. Die Kinder waren ganz in seiner Nähe, er konnte sie berühren, aber keines von ihnen sehen.
»Diese Treppe endet direkt vor dem Festsaal. Den müsst ihr durchqueren, dann kommt ihr an der Stirnseite zu einer niedrigen Tür. Und die führt in die Kemenate, wo Atrox schläft. Aber ihr wollt da sicher nicht alleine hineingehen, oder?«
»Doch«, sagte Philipp und raffte seinen ganzen Mut zusammen. »Wir drei müssen das tun. So wird es am besten sein. Erst wenn wir den Stein gefunden und an uns genommen haben, könnt ihr zu uns stoßen.«
Rojkus, Ailyan und die Zwerge warfen sich stumme Blicke zu.
»Ich komme mit«, zischte Zäkary. »Glaubt bloß nicht, dass ich mir dieses Schauspiel entgehen lasse!« Und schon flitzte er die Treppe hinauf.
Die Zurückgebliebenen sahen, wie oben die mächtige Tür lautlos aufschwang und von unsichtbaren Händen behutsam wieder geschlossen wurde.
»Jetzt geht es los. Nein! Es hat schon angefangen. Wir sollten ebenfalls nach oben gehen und uns links und rechts neben der Tür aufstellen. So können wir jederzeit eingreifen, wenn es nötig wird«, schlug Ailyan vor.
Philipp, Anna und Lukas blieb wenig Zeit, den Festsaal zu bewundern. Es war ein herrlicher Raum, wie sie noch nie einen gesehen hatten. Der Boden bestand aus glatten, fünfeckigen Fliesen. Ein fein gewebter Teppich bedeckte sie teilweise. Die Wände und die Deckenkuppel zierte ein außergewöhnliches Mosaik. Es stellte ein Himmelsgewölbe dar, an dem Wölkchen trieben. Durch drei Fenster, eingerahmt von kunstvollen Säulen, blickte man auf den Innenhof, den nun Dodupaks Truppen und die Riesenkatzen besetzt hielten. Die einzigen Möbelstücke in dem großen Saal waren ein niedriger Marmortisch und in gleichmäßigem Abstand verteilte Sitzkissen.
Ein kunstvoll geschnitzter Türbogen wies den Kindern den Weg hinüber zur Kemenate. Dort würden sie also Atrox finden.