Kapitel 41

»Halt! Noch nicht!«, wisperte Philipp, bevor einer von ihnen voreilig die Tür öffnete. »Reicht euch die Hände und lasst auf keinen Fall los! Was auch immer da drinnen passiert, wir müssen zusammenbleiben. Da wir uns ja gegenseitig nicht sehen können, sollte nicht jeder von uns in einer anderen Ecke der Kammer suchen. Bildet eine Kette!« Dann drehte er vorsichtig an dem kunstvoll ziselierten Türknauf.

Die schwere Türe leistete etlichen Widerstand. Als Philipp kräftiger zog, bewegte sich der Türflügel ein wenig. Die Kinder machten sich so dünn, wie sie nur konnten, und schlüpften durch den schmalen Spalt. Sie wollten unbedingt jedes Geräusch vermeiden. Nicht, dass ein lautes Knarren oder Quietschen ihre Anwesenheit verriet.

Als Erstes fiel ihr Blick auf ein prunkvolles Himmelbett. Es nahm mehr als die Hälfte der kleinen Kammer ein. Auf einem Steinsockel thronend reichte sein blausamtener Baldachin bis hinauf zur niedrigen Balkendecke. Der Betthimmel war über und über mit goldenen Sternen bestickt.

Da drin würde ich mich fühlen, als flöge ich durchs Weltall, fuhr es Anna durch den Kopf.

Kostbare Brokatvorhänge umschlossen die Schlafstätte. Was oder wer verbarg sich dahinter?

Die Kinder hofften und fürchteten zugleich, dass sie in diesem Bett Atrox finden würden. War er womöglich bereits wach? Das würde die Sache nicht leichter machen. Sei’s drum! Er konnte sie ja nicht sehen.

Aber komisch fanden sie es doch, dass sie kein Atmen hörten, geschweige denn ein Schnarchen.

»Attacke!«, befahl Philipp im Flüsterton. »Ich zähle bis drei, dann rennen wir los!«

Die unsichtbaren Angreifer stolperten die Steinstufen zum Bett hoch, zogen mit einem Ruck, nahe beim Kopfteil, den Vorhang zur Seite und … prallten zurück.

An mindestens ein Dutzend Daunenkissen gelehnt saß das hässlichste Wesen, das sie je gesehen hatten, und starrte sie an. Panik flackerte in den angstvoll geweiteten Augen des Geschöpfs auf, als sich neben dem Vorhang niemand zeigte.

Diese Jammergestalt war also der berüchtigte Atrox: runzliges Gesicht, spitze Nase, wirr abstehende, verfilzte Haarsträhnen. Außerdem stank der Kerl wie ein ganzes Jauchefass.

»Wer ist da?«, kreischte er mit einer schrillen Fistelstimme und stach ohne Sinn und Verstand planlos mit einem Degen in die Luft.

Die Kinder traten einen Schritt zurück. Beinahe hätte es Lukas’ Ohr erwischt.

»Hilfe! Wachen!«, brüllte jetzt Atrox. »Wo sind diese faulen Säcke, wenn man sie einmal braucht, verdammt noch mal?!« Nun erhob sich der Wüterich und tanzte wie Rumpelstilzchen auf seinem Bett herum. Dabei brüllte er unentwegt »Wachen!« und zerfetzte mit seinem Degen die wundervollen Damastvorhänge. Er sah unglaublich lächerlich aus, wie er da in seinem schmutzig weißen Nachtkleid einen Kriegstanz aufführte.

Aus dem Nichts tauchte plötzlich Zäkary auf, sprang auf das Bett, hechtete zum Kopfende und verschwand unter den Bergen von Daunenkissen.

Atrox bemerkte ihn gar nicht, denn jetzt taumelte er von der Bettkante, verhedderte sich in seinem langen Nachthemd, prallte gegen Philipp und fiel der Länge nach auf den Boden. Er japste einmal und schrie dann mit einer Stimme, die nichts mehr Menschliches an sich hatte: »Geister! Hilfe! Die Geister! Sie sind gekommen, um mich zu holen. Die Hölle hat ihre Pforten geöffnet!«

»So ein Schlappschwanz!«, rief Zäkary, der in diesem Moment wieder aus dem Kissengebirge auftauchte. Keuchend zerrte er ein ledernes Etui ans Tageslicht.

Aber bevor Philipp danach greifen konnte, überschlugen sich die Ereignisse.

Rojkus streckte seinen Kopf durch den Türspalt, machte einen einzigen riesigen Satz und bedeckte den am Boden liegenden Atrox mit seinem mächtigen Rumpf. Hinter ihm drängten Dodupaks Getreue in die Kammer und füllten den Raum bis in den hintersten Winkel.

Jetzt betraten Grusine und Paul das Schlafgemach. Ehrerbietig rückten die kleinen Fellträger zusammen, sodass eine Gasse entstand. Hoheitsvoll schritt Grusine zum Himmelbett hinüber, nahm von Zäkary das Etui entgegen und öffnete es.

Philipp, Anna und Lukas standen immer noch nahe am Bett und konnten deshalb genau sehen, wie sich der Stein verwandelte.

Als Grusine ihn aus seiner Hülle zog, war er schwarz und durchzogen von blutroten Adern. Nun lösten sich die Farben auf, und der Stein wurde durchsichtig wie klares Wasser.

Grusine umschloss ihn mit beiden Händen, hob ihn hoch über ihren Kopf und sprach mit fester Stimme:

»Incantabilis,
Kudni ne oquä,
beloa sä syntux,
nube ra köksi,
apodem kopdü.«

»Kann mir das mal jemand übersetzen?«, wisperte Zäkary, der inzwischen auf Pauls Schulter geklettert war.

»Das brauche ich nicht. Sieh mal, was passiert ist!« Rojkus hatte sich erhoben und den Blick frei gemacht.

Ungläubig starrten alle im Raum auf die am Boden hingestreckte Gestalt. Atrox … war … zu … Stein … geworden. Seine ganze Hässlichkeit offenbarte sich in der Versteinerung: die verkniffenen Gesichtszüge, seine dürren Beine, die unter dem zerknitterten Hemd hervorlugten, die wirren, nach allen Seiten abstehenden Haarsträhnen, der grausame Blick.

Grusine wiederholte ihre Beschwörung in der Menschensprache:

»Werde Stein,
der du nicht Mensch warst,
der du für den Sinn des Lebens
nicht empfänglich warst,
werde Stein!
Und mit dir
all deine schrecklichen Gefährten
und bösen Kreaturen!
Auf dass Freude, Glück und Frieden
wieder einkehren in Karakoy
und in der Anderwelt!«