Kapitel 42

Grusine fasste Ailyan an der Hand und rief Rojkus an ihre Seite. Wie eine Königin schritt sie in den Festsaal hinaus. Die Kinder mussten sich erst aus ihrer Erstarrung lösen, schlossen sich jedoch dann an. Das Heer der Fellträger folgte ihnen ebenfalls. In einem stummen Schweigemarsch durchquerten sie die Halle.

Grusine stellte sich an eines der Fenster, öffnete es und blickte in den Hof hinunter. Die Kinder drängten sich dicht an sie, um zu sehen, was sie sah.

Unten hatten sich Dodupak und die andere Hälfte seiner Truppe in Reihen aufgestellt. Dahinter standen viele Leute von sonderbarem Äußeren. Männer und Frauen, Junge und Alte, auch Kinder. Sie trugen seltsame Kleidung. Die Männer lange Hemden, die Frauen hatten bunte Baumwolltücher sehr fantasievoll um ihren Körper und um die Köpfe gewickelt. Alle verneigten sich ehrerbietig, als Grusine am Fenster erschien.

Dann trat Dodupak zur Seite. Er hob seine Hand und wies mit einer stummen Geste auf die am Boden liegenden Strepiter. Auch sie waren zu Stein geworden. Kreuz und quer, wie von einer Riesenfaust hingeworfen, lagen sie da: für die Ewigkeit bestimmte Denkmäler des Bösen.

»Huch! Hier wird es mir zu ungemütlich. Friedhöfe konnte ich noch nie leiden«, wisperte Zäkary auf Pauls Schulter. »Aber wo sind die Riesenkatzen geblieben? Denen möchte ich eigentlich nicht über den Weg laufen?«

»Habt keine Angst! Kommt mit! Nun hat ja alles wieder seine Ordnung«, sprach Grusine mit leiser Stimme.

Wie sich dann herausstellte, waren die Riesenkatzen in Wirklichkeit Angehörige des Unsichtbaren Volkes. Atrox hatte sie mithilfe des Steins Incantabilis verwandelt, weil er sich vor einem Aufstand der Bevölkerung von Karakoy fürchtete.

Als die Kinder hinter Grusine und Ailyan den Burghof betraten, begann bereits allenthalben geschäftiges Treiben. Jeder ging irgendeiner Tätigkeit nach. Die Erstarrung war gewichen und machte einer fröhlichen Betriebsamkeit Platz. Die Bewohner der Stadt kehrten in ihre Häuser zurück und setzten dort fort, was sie vor ihrem Leben als Katzen getan hatten. Diejenigen, die in der Burg als Stallmeister, Zofen, Mägde, Stallknechte, Köchinnen und Küchenjungen gearbeitet hatten, machten sich daran, Ordnung zu schaffen. Mit Eifer packten sie an und versuchten, der Verwahrlosung Herr zu werden, die Atrox und seine Besatzung hinterlassen hatten.

Grusine verhandelte gerade mit dem Verwalter. »Seht nach den Vorräten und lasst aus dem, was irgendwie verwertbar ist, eine Mahlzeit für alle zubereiten!«

Freudig nahmen die Leute ihre Befehle entgegen.

Die stärksten Männer entfernten die versteinerten Gestalten aus dem Burghof. Sie schleppten auch Atrox, der immer noch oben in der Kemenate lag, die Treppe hinunter. Alle wurden in das unterirdische Verlies geschafft, in dem ursprünglich die Orochien gehaust hatten.

Zäkary, der neugierig die schwer schuftenden Knechte begleitete und ständig zwischen deren Beinen herumwuselte, hetzte völlig aufgewühlt zu den Kindern zurück.

»Ein Horror! Ich sage euch. Ein echter Horror! So etwas habe ich mir in meinen schlimmsten Träumen nicht ausgemalt. Diese Biester sehen auch im versteinerten Zustand noch aus wie von der Hölle ausgespien. Hoffentlich kommt nicht irgendwann der Tag, an dem diese ganze Höllenbrut, warum auch immer, wieder zum Leben erwacht!«

Die Tageszeit war schon weit fortgeschritten. Die Kinder, Rojkus und Zäkary saßen im Gesindehaus an einer langen Tafel. Dodupaks Getreue hatten ihre Felle abgelegt und bevölkerten ebenfalls eng gedrängt Tische und Bänke, die rasch aus langen Brettern und groben Holzblöcken aufgebaut worden waren.

»Ging es euch auch so? Mir lief regelrecht eine Gänsehaut über den Rücken, als Grusine oben in der Kemenate diese Worte sprach«, sagte Zäkary. »Es klang so erhaben.«

»Irgendwie habe ich von Anfang an gespürt, dass Grusine etwas Besonderes ist. Aber eine Königstochter? Das konnte doch niemand von uns ahnen. Sie wollte mir ja auch nicht verraten, wo sie wohnt, als ich sie danach gefragt habe. Überall und nirgendwo lautete damals ihre Antwort«, erzählte Paul.

»Hmm! Aber trotzdem zittere ich immer noch wie Espenlaub. Wir konnten ja in dem Moment, als Atrox versteinerte, nicht vorhersehen, was dann passierte.« Anna war total erschöpft. Man hörte es ihrer Stimme an. Das Erlebte steckte ihr tief in den Knochen.

»Und ob die Orochien nicht plötzlich aus den Gewölben ausbrechen und über uns herfallen würden«, ergänzte Lukas.

Eine Weile hingen alle schweigend ihren Gedanken nach. Die Bilder des Niedergangs von Atrox’ Schreckensherrschaft liefen ein ums andere Mal vor ihren Augen ab.

Die Köchinnen und ihre Gehilfen hatten Erstaunliches geleistet. Es gab süßen Joghurt, Käse aus Schafs- und Ziegenmilch, im Ofen gebackene Kuchen aus Getreidemehl, Datteln, Nüssen und wildem Honig, in Ziegenbutter gebackene Teigkrapfen und Gemüseeintopf.

»Jetzt merke ich erst, wie hungrig ich bin!«, sagte Philipp.

Anna, Philipp und Lukas waren immer noch unsichtbar. Niemand wunderte sich deshalb, als ein Stück Kuchen vom Tisch in die Höhe schwebte und dann auf geheimnisvolle Weise verschwand.

»Unsichtbaren Leuten beim Essen zuzusehen finde ich wirklich komisch«, kicherte Zäkary.

»Mach dich bloß nicht lustig über uns! Hoffentlich stimmt das, was die Große Mutter über die Unsichtbarkeitstropfen gesagt hat. Denn ich fühle mich gar nicht wohl so als Gespenst«, jammerte Lukas.

»Keine Sorge!«, beruhigte ihn Philipp. »Bisher ist alles so eingetroffen, wie sie es vorhergesagt hat. Wenn ich mich nicht täusche, ist Ailyan auch schon wieder ein Stück gewachsen. Er sieht jetzt fast aus wie ein erwachsener Mann. Aber wie soll es denn mit uns weitergehen?«

Grusine hatte die letzten Worte gehört. Sie war mit Rojkus und Ailyan an den Tisch der Kinder getreten und winkte ihnen mitzukommen.