Grusine führte die Kinder hinüber in den Palas. Dodupak Wämsken begleitete sie. Durch verwinkelte Gänge und dunkle Korridore gelangten sie zu einer engen Wendeltreppe, die schier nicht enden wollte.
Schließlich standen sie vor einem großen Portal. Grusine öffnete es mit einem verschnörkelten, goldenen Schlüssel. Alle drängten sich hinter ihr in den Raum.
Was sie nun sahen, erinnerte an die Erzählungen von Tausend und einer Nacht. Die Wände des prächtigen Gemachs waren mit unzähligen Seidenteppichen bedeckt. Die darauf gestickten Bilder erzählten von exotischen Landschaften, fremdartigen Tieren, Menschen mit brauner Haut und noch so mancherlei. Man hätte Tage verweilen und immer wieder etwas Neues entdecken können.
Der Baldachin und die Vorhänge des Bettes in der Ecke waren aus himmelblauer Seide gefertigt. Es gab auch einen Kamin, in dem noch Reste von Asche lagen.
Ein Gegenstand aber stach vor allem ins Auge: der mannshohe Spiegel mit seinem vergoldeten Rahmen. Er lehnte an der Wand, genau gegenüber der Tür, neben einer Truhe aus Zedernholz.
»Wir sind hier im Zimmer meiner Mutter. Seit meine Eltern im Krieg, den Atrox gegen das Unsichtbare Volk geführt hat, ums Leben gekommen sind, war ich nicht mehr in diesem Raum.« Grusines Augen füllten sich mit Tränen. Sie schluckte ein paarmal und wandte sich dann einem der Wandteppiche zu.
Darauf war ein Baum, der goldene Äpfel trug, abgebildet. Im Hintergrund des Gemäldes sah man eine gläserne Brücke. Sie führte über eine tiefe Schlucht.
Das Mädchen drückte auf einen der Äpfel auf dem Wandbehang. Daraufhin hörten alle im Raum ein schabendes Geräusch. Grusine schob den Teppich ein wenig zur Seite. Ein schmaler Durchgang in ein kleines Kabinett wurde sichtbar.
»Dieses Geheimnis wollte Atrox unbedingt aus mir herauspressen. Deshalb hat er mich gefangen genommen, im Turm in den Käfig gesperrt und mich Tag und Nacht von einem der Orochien quälen lassen. Doch ich bin standhaft geblieben. Wie lange ich das allerdings noch ausgehalten hätte, kann ich euch nicht sagen. Bevor ihr geht, möchte ich euch etwas schenken, was euch immer an mich erinnern wird, und mich so für alles bedanken, was ihr für mich, mein Volk und das Volk der Lyndorier getan habt.«
»Müssen wir denn die Anderwelt jetzt verlassen?«, fragte Paul. »Wer bringt dann den Stein Incantabilis zur Großen Mutter?«
»Und wenn wir gehen, kehren wir dann nie mehr zurück?«, wollte Anna wissen.
»Nun hört mir mal zu!«, sagte Dodupak und scharte die Kinder um sich. »Ich selbst werde den Stein mit einigen meiner Freunde aus dem Kleinvolk nach Lyndoria zurückbringen. Grusine, Ailyan und Rojkus bleiben hier in Karakoy. Sie müssen das Reich des Unsichtbaren Volkes wieder zu dem machen, was es einmal war. Lyndoria, das Unsichtbare Volk und das Kleinvolk werden sich zusammenschließen und sich ab jetzt gegenseitig unterstützen. Und ihr kehrt in eure Menschenwelt zurück. Es wird höchste Zeit.«
Seltsamerweise überfiel in diesem Moment die Kinder wie aus heiterem Himmel die Erinnerung an zu Hause. Sie sahen sich bei Tante Hedwig in der Küche sitzen und die geheimnisvolle, grünliche Flüssigkeit aus Mokkatässchen trinken. Wie lange war das wohl her? Ihrem Gefühl nach Monate. Oder vielleicht sogar ein ganzes Jahr?
Oh Gott! Die armen Eltern! Wahrscheinlich waren die vor lauter Kummer schon ganz krank. Wieso hatte denn die ganze Zeit keiner von ihnen auch nur einmal an sie gedacht?
Als ob Dodupak ihre Gedanken gelesen hätte, sagte er: »Keine Sorge! Ihr werdet noch nicht vermisst in der Menschenwelt. Aber nun solltet ihr euch sputen! Die Uhr tickt in der Anderwelt eben anders als bei euch. Wenn bei euch ein paar Stunden vergehen, vergehen bei uns Tage und Wochen.« Bei diesen Worten lächelte er weise.
Die Kinder mussten sich bücken, um mit Grusine in das enge Kabinett zu schlüpfen. Hier gab es Truhen, Koffer, Kästen und Tonkrüge, über und über gefüllt mit goldenen Münzen, Perlen, Edelsteinen, silbernen Ketten, Medaillons und mehr. Die Kinder machten große Augen. Da verbargen sich ja Schätze von unsagbarem Wert. Kein Wunder, dass Atrox die in seinen Besitz hatte bringen wollen!
»Davon darf nie jemand etwas erfahren«, sagte Grusine. »Nur ihr wisst nun von dem Schatz des Unsichtbaren Volkes. Ihr müsst mir versprechen, dass ihr niemandem erzählt, was ihr gesehen habt. Die Gier nach Reichtum macht die Menschen böse. Krieg und Elend sind die Folge. Wir haben es alle am eigenen Leibe erfahren. Ich werde den Schatz hinter dieser Wand einmauern lassen und das Geheimnis hüten wie meinen Augapfel. Für euch aber habe ich etwas viel Kostbareres als Gold und Edelsteine.« Grusine griff nach einem kleinen Büchlein mit einem Einband aus rotem Samt.
Goldene Buchstaben waren darauf gestickt. Sie drückte es Paul in die Hand. Als dieser die Schriftzeichen entschlüsseln wollte, verblassten sie vor seinen Augen und verschwanden nach und nach gänzlich.
Er schlug das Buch auf, blätterte in den Seiten und sah dann Grusine fragend an. »Es steht gar nichts drin. Was bedeutet das?«
»Lasst euch überraschen! Am Ende eurer Reise werdet ihr es wissen.«
»Reise? Was meinst du denn mit Reise?«, fragte Philipp.
»Um in eure Welt zurück zu gelangen, müsst ihr nichts anderes tun, als euch vor diesen Spiegel zu stellen. Ihr geht hinein und werdet wieder dort sein, wo alles angefangen hat.«
»Das macht mich jetzt sehr, sehr traurig«, sagte Paul mit kläglicher Stimme. »Kommt wenigstens Zäkary mit? Und dürfen wir jederzeit zu euch zurückkehren?«
Dodupak erklärte den Kindern, dass solche Besuche in der Anderwelt die Ausnahme bleiben würden.
»Aber wir werden euch besuchen, so oft es geht«, mischte sich Zäkary ein und ringelte zärtlich seinen Schwanz um Pauls Hals.
»Genau dafür braucht ihr dieses Buch. Mit seiner Hilfe könnt ihr uns rufen, wenn euch der Sinn danach steht«, tröstete Grusine die Kinder.
»Allerdings werden wir dann nicht die sein, die ihr zu kennen glaubt«, fügte Dodupak hinzu.
»Aber wie sollen wir dann wissen, dass ihr es seid?«, riefen die Kinder im Chor.
»In welcher Gestalt auch immer wir zu euch kommen: Eure Herzen werden euch sagen, dass es einer von uns ist.«
»Und jetzt verschwindet endlich! Sonst muss ich noch heulen«, schniefte Zäkary.