Kapitel 1

»Paulchen! Paulchen! Wo bleibst du denn so lange? Wir sollten doch schon längst unterwegs sein.«

Paul hasste es, wenn seine Mutter »Paulchen« zu ihm sagte. Wütend riss er die Tür seines Zimmers auf. Sein Kopf steckte noch in dem quietschgelben T-Shirt, das er nun mit einem Ruck herunterzog. »Ich komm ja gleich«, murmelte er, »aber sag nicht immer Paulchen zu mir! Es ist schon schlimm genug, dass ich der Kleinste in meiner Klasse bin.«

»Klein, aber oho«, sagte Frau Zagermann und fuhr mit einem Kamm durch Pauls wilden Haarschopf. »Jetzt beeil dich bitte, sonst versäumen wir am Ende noch die Straßenbahn!«

»Ist mir doch egal. Ich habe heute keine Lust, Tante Hedwig zu besuchen.«

Tante Hedwig war eigentlich gar nicht seine richtige Tante. Seine Mutter kümmerte sich um die alte Dame, die ganz allein in einem Haus am Stadtrand wohnte und sonst keine Verwandten hatte. Um ihr eine Freude zu machen, musste er Tante zu ihr sagen. Und nicht nur das. Sie drückte ihm feuchte Küsse auf die Wangen. Und was das Schlimmste war: Sie strickte Pullover für ihn. Aus kratziger, weißer Wolle. Die musste er immer anziehen, wenn er und seine Mutter Hedwig besuchten. Natürlich nur im Winter.

»Das hältst du schon mal ein paar Stunden lang aus«, sagte Frau Zagermann, »und Hedwig freut sich, wenn du ihre Stricksachen trägst.«

Heute war es jedoch viel zu heiß für einen Pullover. Bereits die kleinste Anstrengung trieb einem den Schweiß aus den Poren. Paul wäre viel lieber ins Schwimmbad gegangen. In der Schule hatten sich Philipp, Lukas und Anna für den Nachmittag verabredet. Ohne ihn zu fragen! Kein Wunder. War er doch in der großen Pause wieder einmal in eine wilde Rauferei mit Max verwickelt gewesen. Der Blödian hatte beim Kopfrechnen die Lösung nicht gewusst. Paul natürlich schon. In Mathe war er spitze.

Daraufhin schrie Max in der Pause: »Paulilein, kleiner Wicht, frisst nur Stroh, drum wächst er nicht!«

Einige Jungs aus seiner Klasse gesellten sich zu Max und stimmten in den Spottvers mit ein.

Außer sich vor Wut stürzte sich Paul auf seinen Peiniger und versetzte ihm einen Kinnhaken. Max ging zu Boden. Er hatte nicht damit gerechnet, dass so viel Kraft in dem stämmigen, kleinen Kerl steckte. Die Kumpane von Max johlten und feuerten ihren Freund an. Philipp, Lukas und Anna hielten Paul fest, damit der sich nicht weiter in seine Wut hineinsteigerte.

Als Paul sich gerade hochrappelte und rot vor Zorn erneut auf Max losgehen wollte, kam im Stechschritt Lehrer Jablonski herbei. Er packte die beiden Kampfhähne am Kragen und redete ihnen ins Gewissen.

Für Paul war der Tag gelaufen.

Wütend stapfte er jetzt hinter seiner Mutter her. Nun musste er wieder stundenlang auf einem Stuhl sitzen und Kuchen essen. Kuchen backen konnte Hedwig allerdings. Das musste er zugeben. Pauls Laune besserte sich schlagartig. Das letzte Mal, als er mit seiner Mutter die alte Dame besucht hatte, gab es Gewittertorte. Noch jetzt lief ihm das Wasser im Mund zusammen.

Zuerst war er natürlich äußerst misstrauisch gewesen, als Hedwig mit geheimnisvoller Stimme angekündigt hatte: »Heute gibt es Gewittertorte.«

Aber als sie dann mit der Tortenplatte ankam, begriff er, warum der leckere Kuchen so hieß. Auf eine Schicht Kirschen hatte Hedwig Blitze aus Sahne gespritzt. Aus Sahne, die nach Vanille schmeckte.

Paul fragte sich, was Hedwig heute auftischen würde. So übel war es eigentlich gar nicht bei ihr. Auf dem Weg von der Straßenbahnhaltestelle zu Tante Hedwigs Haus pfiff Paul wieder fröhlich vor sich hin.

»Hallo! Da seid ihr ja. Ist das eine Hitze heute! Ich dachte schon, ihr hättet es euch anders überlegt und wärt lieber ins Schwimmbad gegangen, statt die dumme, alte Hedwig zu besuchen.«

»Ach, i wo!«, wiegelte Pauls Mutter ab.

Paul ließ geduldig die feuchte Umarmung über sich ergehen.

»Kommt rein, kommt rein! Ich habe eine Bowle kühl gestellt, und es gibt Schneewittchenkuchen.«

Hedwig öffnete das schmiedeeiserne Gartentor. Es quietschte derart, dass man Zahnweh davon bekam.

Ein schmaler Pfad schlängelte sich durch ein Blütenmeer hinüber zum Haus. Jeder Zentimeter des Bodens war mit Blumen bedeckt.

»Hedwig, ich kenne niemanden, der so einen grünen Daumen hat wie du«, sagte Frau Zagermann.

Paul schielte unauffällig auf Tante Hedwigs Daumen. Hatte er etwas verpasst? Ihm war noch nie aufgefallen, dass einer ihrer Finger grün gewesen wäre. Was redete seine Mutter da nur für seltsames Zeug?

Irgendwie kam man sich hier immer vor wie in einem verwunschenen Märchengarten.

Dem Haus sah man das Alter schon an. Ein grüner Fensterladen war aus den Angeln gerutscht und hing schief herunter. Der gelbe Putz bröckelte an manchen Stellen von den Wänden. Aber wilder Wein und Kletterrosen bedeckten gnädig die Wunden des Hauses. Bienen summten und brummten im dichten Pelz der Blätter. Paul hatte das Gefühl, als würde das Haus singen.

»Kommt gleich mit! Ich habe den Tisch in der Laube gedeckt.«

Hedwig führte ihren Besuch um das Haus herum. Dort stand mitten auf der Wiese ein Pavillon. An zierlich geschnitzten Holzgittern wucherten Rosen empor. Innen war es dämmrig und schön kühl. Die alte Dame hatte den Gartentisch liebevoll mit feinem Porzellan gedeckt. Pauls Blick fiel auf eine Schüssel aus Kristall, gefüllt mit einer rosafarbenen Flüssigkeit. Darin schwammen Erdbeerstückchen, Gänseblümchen und Rosenblätter. Daneben lockte der Schneewittchenkuchen. Nun verstand Paul auch, warum dieser so hieß. Weiß wie Schnee, rot wie Blut, und schwarz wie Ebenholz. Nur dass es sich bei der wundervollen Leckerei um Sahne (weiß), Kirschen (rot) und Schokolade (schwarz) handelte.

»Lass es dir gut schmecken, mein Junge!«

Tante Hedwig schnitt ein besonders großes Stück für Paul ab. Insgeheim schämte er sich nun, dass er so gemeine Sachen gesagt hatte, bevor er mit seiner Mutter von daheim aufgebrochen war.