Kapitel 2

Der Nachmittag ging schneller vorbei als gedacht. Peinlich wurde es nur noch einmal beim Abschied.

Tante Hedwig drückte Paul eine Tüte in die Hand. »Da, nimm die mit! Ich habe sie gestrickt, damit du im Winter nicht an den Ohren frieren musst.«

Paul bedankte sich hastig, packte die Tüte, ohne einen Blick hineinzuwerfen, und rannte zum Gartentor.

Frau Zagermann zuckte entschuldigend mit den Schultern, umarmte Hedwig herzlich und versprach, bald wiederzukommen.

»Das war aber gar nicht nett von dir«, rügte Pauls Mutter ihn, als sie beide um die Ecke gebogen waren.

»Wie kann man denn nur jetzt bei dieser Hitze schon an den Winter denken? Ich will die blöden, kratzigen Dinger von Tante Hedwig nicht mehr anziehen. Und schon zweimal nicht auf den Kopf.«

Mit mürrischem Gesicht trottete Paul neben seiner Mutter zurück zur Straßenbahnhaltestelle. Er musste wieder an die Rauferei von heute Morgen auf dem Pausenhof denken. Am liebsten hätte er sich in ein Mauseloch verkrochen. Wie sollte das nur weitergehen mit Max? Bestimmt würde der ihn wieder hänseln und verspotten, weil er so klein war.

»Mutti, warum wachsen manche Menschen schneller als andere? Ich will endlich größer werden! Kannst du mir nicht vom Arzt irgendwas verschreiben lassen?«

»Nun mach dir mal keine Sorgen!«, sagte Frau Zagermann und tätschelte beruhigend Pauls Hand. »Das hat die Natur eben so eingerichtet. Manche Menschen sind groß und andere klein. Hauptsache, du bleibst gesund und behältst deinen hellen Kopf.«

Paul machte sich aber trotzdem Sorgen. Was nützte ihm sein heller Kopf, wenn ihn die Jungs aus seiner Klasse »Knirpsi« nannten. Dann musste er immer beweisen, was in ihm steckte. Und das führte meistens zu einer Rauferei. Wie heute Morgen.

Unauffällig studierte er seine Mutter, die ihm in der Straßenbahn gegenübersaß. Sie war klein und zierlich, sah aus wie ein junges Mädchen und überhaupt nicht wie eine Mutter. Sein Papa dagegen wirkte neben ihr immer wie ein Riese. Groß, blond, mit einem Bart und einer Brille. Paul wollte auch so sein wie er. Obwohl …

Seine Mutter sagte immer: »Dein Vater hat zwei linke Daumen. Am besten ist er bei seinen Büchern aufgehoben.«

Was war das nur immerzu mit den Daumen? Grüner Daumen? Linker Daumen?

Paul kam nicht mehr dazu, dieses Problem weiter zu verfolgen, denn die Straßenbahn hielt, und sie mussten aussteigen.

Zu Hause angekommen verzog er sich gleich in sein Zimmer. Dort bemerkte er, dass er noch die Tüte von Tante Hedwig in der Hand hielt. Unwillig schleuderte er sie auf sein Bett. Dabei sah er, wie etwas bunt Geringeltes herausrutschte. Misstrauisch beäugte er das neueste Machwerk der alten Dame.

Lächerlich!

Einfach lächerlich!

Dieses Ding sollte er aufsetzen?

Diesmal war sie anscheinend in einen Farbenrausch verfallen. Alle Farben des Regenbogens hatte Hedwig in diese Mütze hineingestrickt.

Zur Probe zog er sich das Ding über den Kopf, schlich auf den Flur hinaus und huschte ins Bad. Dort zog er den kleinen Schemel vor das Waschbecken. Den benutzte er immer, um beim Haarekämmen in den Spiegel schauen zu können.

Er stieg hinauf und … sah nichts.

Paul sah sich nicht im Spiegel! Fassungslos starrte er auf die blanke Fläche. Er sah nur den Duschvorhang mit dem Blümchenmuster hinter sich. Vorsichtig wischte er mit einem Handtuch über die glatte Scheibe. Aber der Spiegel zeigte ihm nichts.

Nun begann sein Herz zu pochen. Was war nur passiert?

Paul setzte sich auf den Badewannenrand. Seine Beine zitterten. Also war er noch am Leben. Aber er konnte sich nicht im Spiegel sehen. Er war unsichtbar. Ausradiert sozusagen! Das gab es doch gar nicht!

Langsam beruhigte er sich wieder und dachte nach. Die Mütze! Es musste etwas mit dieser Mütze zu tun haben. Irgendetwas stimmte mit dieser Mütze nicht!

Mit einem Ruck riss er sie sich vom Kopf und stürzte hinüber zum Spiegel. Und tatsächlich! Jetzt zeigte ihm der Spiegel wieder sein Gesicht. Wie immer. Das war er. Paul. Mit seinen schwarzen Locken, den grünen Augen und der runden Brille auf der Nase.

Angewidert warf er die Mütze auf den Boden, als hätte er sich die Finger daran verbrannt. Doch im selben Moment huschten seltsame Gedanken durch seinen Kopf.

Wenn er sich mit dieser geheimnisvollen Mütze unsichtbar machen konnte, hatte das auch gewisse Vorteile. Paul setzte sich wieder auf den Badewannenrand und dachte nach.

Er stellte sich vor, wie es wäre, wenn er in der großen Pause als Unsichtbarer zwischen den anderen Kindern herumliefe. Dann würde er hören, was sie über ihn redeten. Zum Beispiel Max und seine Kumpane. Und wenn der wieder etwas Fieses über ihn sagen würde, könnte er ihm einen Tritt verpassen. Ohne dass jemand ahnte, aus welcher Richtung und von wem dieser Tritt gekommen war.

Großartig!

Die Mütze von Tante Hedwig war nicht lächerlich. Im Gegenteil! Sie war großartig. Jetzt musste Paul nur noch herausfinden, ob man ihn, wenn er das Ding aufsetzte, irgendwie spürte. Oder ob man durch ihn hindurchlaufen würde. Bei diesem Gedanken wurde ihm leicht mulmig.

Na gut! Für den Anfang reichte es ja, wenn er ausprobierte, ob ihn seine Mutter sehen konnte. Rasch setzte er die Mütze wieder auf.

Im nächsten Moment öffnete Frau Zagermann die Türe zum Bad und rief: »Paul, ich hab doch gehört, dass du auf die Toilette gegangen bist. Was ist mit dir? Ist dir nicht gut?«

Paul gab keinen Mucks von sich.

Seine Mutter guckte sich um. Dann murmelte sie: »Hier ist er nicht!« Und lauter: »Paul! Paul! Wo steckst du denn? Komm in die Küche und hilf mir, das Abendessen vorzubereiten!«

Aha, dachte Paul, sie hat mich nicht gesehen.

Auf leisen Sohlen schlich er wieder zurück in sein Zimmer, nahm die Mütze vom Kopf und versteckte sie ganz hinten in seiner untersten Schreibtischschublade. »Ich komme gleich!«, rief er.