7. KAPITEL

Genau zwei Stunden und siebeneinhalb muntere Seiten weiter konnte ich mich über das Ergebnis in keinster Weise beklagen: a) war ich nun in deutlich besserer Stimmung und b) hatte ich selbst schon das Gefühl, das besondere Etwas für jede Julia, Katinka, Lalia oder Nina gefunden zu haben. Die jungen Alleinreisenden schickte ich nach Mallorca und Formentera. Die Schicksen mussten natürlich nach Ibiza. Die älteren Semester warnte ich vor den Balearen und verwies sie auf die Kanaren. (Vielleicht wurde das mein Folgeauftrag: Gran Canaria, Fuerteventura, Lanzarote … warum nicht?) Die Frauen auf Selbsterfahrungstrip mit Öko-Touch schickte ich nach Menorca zum Wandern. Die auf dem intellektuellen Selbsterfahrungstrip schickte ich in die hippen Wellnesshotels, von denen es auf jeder Insel inzwischen Dutzende gab. Dabei sparte ich Formentera geschickt aus, denn das war irgendwie meine Idee gewesen, und die sollten mich da in Ruhe lassen!, dachte ich ziemlich unlogisch. Angespornt durch meine eigene Fantasie tippte ich also munter vor mich hin, bis das Telefon zum siebten Mal innerhalb von zwei Stunden klingelte.

Das erste Mal hatte es sich so angehört: Ringringring, mein AB springt an: »Hallo, das ist der Anschluss von Thelse Simon, sorry, bin gerade unterwegs, hinterlasst bitte eure Nachricht auf Band. Wenn ich mich nicht innerhalb von 24 Stunden melde, ist was Schwerwiegendes passiert und ihr solltet euch um mich kümmern, ciao.«

Beep.

»Hallo, mein Schatz, hier ist Mutti. Wollte nur mal deine Stimme hören. Papa ist gerade beim Arzt. Verträgt die Tabletten gegen den Bluthochdruck wohl nicht so gut. Na ja, da ist er jetzt wieder bei Doktor Müller. Die Abwasserpumpe im Keller ist auch schon wieder kaputt. Kommt morgen jemand. Und am ersten Advent singt Papa mit den Bäckern in der Union. Müssen wir früh aufstehen, aber dann gibt es auch Frühstück. Jeder Sänger darf jemanden mitbringen. Ich schreibe dir mal wieder einen Brief, macht gut, mein Schatz. Tschüs, Mutti.«

Na dann. Vielleicht sollte ich bei meiner Mutter grundsätzlich nur den Anrufbeantworter sprechen lassen, dann hört sie meine Stimme wenigstens in einem vollständigen Satz. Die Sache mit meinem Vater registrierte ich – mehr aber auch nicht. Er hatte schon seit Jahren einen zu hohen Blutdruck. Er sang schon seit Jahrzehnten im Chor.

Zehn Minuten später das zweite Mal. Ringringring und so weiter: »Hi, Thelse, wenn du jetzt nicht auf dem Markt bist, dann beweg deinen faulen Hintern aus dem Bett. Es ist Samstagmittag! Ich muss dir ganz dringend etwas erzählen.«

Das war Babette, und ich bin trotzdem nicht drangegangen. Würde ich später nachholen. Sie hörte sich etwas gepresst an, aber nach allem, was passiert war, wollte ich mir den Zeitpunkt lieber selbst aussuchen, um mit ihr zu reden.

Drittes Klingeln, 12.12 Uhr: Klack, Teilnehmer hat aufgelegt.

Aha!

Viertes Klingeln, 12.24 Uhr: Klack, Teilnehmer hat aufgelegt.

Ja, was denn nun?!

Fünftes Klingeln, 12.26 Uhr: »Hi, Tim hier. Na, liegst du immer noch im Koma? Bin gut zu Hause angekommen. Habe mir übrigens ein Buch von dir geliehen, den Jazzroman, vielleicht können wir die Autorin ja mal einladen. Melde dich, wenn du magst …«

Interessant! Typisch Tim! Knallkopf, erinnere mich nicht an gestern. Gib mir mein Buch zurück.

Sechstes Klingeln, 12.32 Uhr: Klack.

Ich starrte auf das Telefon. Na, Moritz, der Einzige, der in dem Reigen noch fehlt, bist wahrhaftig du.

Das fortwährende Anspringen des Anrufbeantworters zwang mich zu Überlegungen, die ich durch das Abtauchen in balearische Frauenfantasien eigentlich auszuschalten versucht hatte, da mir der Kopf (und das Herz) nicht im Geringsten danach stand, den gestrigen Abend Revue passieren zu lassen. Fassen wir zusammen: Ich hatte zufällig Tim wieder getroffen und vor Schreck gleich ein Stück meines Lieblingskuchens fallen lassen. Das war ja wohl schon schlimm genug! Und dann war da noch mein Quasi-Auftraggeber, der es sich anscheinend zur Lebensaufgabe gemacht hatte, mich aus der Bahn zu schleudern. Er konnte es nicht wissen, allenfalls instinktiv ahnen, doch souveräne Typen wie er waren genau der Grund, warum ich so lange in der Provinz versauert war. Der Druck jener feinen Celler Nachbarn, die mit aller Selbstverständlichkeit in die Großstadt fuhren, weil sie fanden, dort ihren legitimen Platz zu haben, hatte mich lange von einem Umzug abgehalten. Nun endlich war auch mein Platz an der Sonne zum Greifen nah, hier in Hamburg, und ich hatte keine Lust, nach einem halben Jahr des mehr oder weniger stabilen inneren Gleichgewichts erneut von den alten Minderwertigkeitsgefühlen heimgesucht zu werden.

Ich sagt mal so rum: Ich hatte ihn mir wahrlich erstritten, meinen Platz. Ich hatte alles hinter mir gelassen. Ich hatte neu angefangen. Es ging mir gut, wirklich, zumindest im Großen und Ganzen, schließlich hat jeder so sein Auf und Ab. Und das alles sollte plötzlich wie weggewischt sein, bloß weil ein attraktiver Mann, mit dem ich nichts zu tun haben wollte, unvermutet meine Bahn kreuzte? Schlimmer noch: Dieser unausstehliche Mensch, der nun wahrlich kein Recht hatte, mein beschauliches Leben durcheinanderzubringen, der sollte am Ende der Grund sein, warum ich seit dem Aufwachen unbewusst an meinen Fingernägeln knabberte und mir die Haare zu raufen begann?

Als ich jetzt auf meine malträtierte Nagelhaut starrte, stieg mir regelrecht die Galle hoch. Ich war es leid, mir andauernd über Menschen, mit denen ich nichts zu schaffen hatte, den Kopf zu zerbrechen!

So gesehen konnte ich es kaum erwarten, dass das Telefon an diesem Morgen endlich ein weiteres Mal klingelte.

Und das tat es auch. Es klingelte. Zum siebten Mal innerhalb von zwei Stunden. Ich war zufrieden mit meinem Einstieg in den Balearen-Guide, und ich freute mich wie verrückt auf Formentera, die kleinste und romantischste der vier Inseln. Mein Herz klopfte wie wild und das Telefon klingelte. Und nun? Sollte ich erst mal so tun, als wäre ich mein eigener Anrufbeantworter: »Guten Tag, das ist der Anschluss von Thelse Simon. Ich bin derzeit auf den Balearen. Ich … hatschi … Entschuldigung, ich war gestern Nacht zu dünn angezogen und …«?

Nein, spätestens da müsste ich auflegen. Aus der Nummer käme ich nicht mehr raus.

Das Telefon klingelte. Na los, darauf hast du doch gewartet, Thelse. Also komm, egal. Früher oder später wollte ich ihm sowieso den Marsch blasen.

Ich setzte mich aufrecht hin, räusperte mich laut und nahm ab. »Simon«, sagte ich streng, knapp, professionell. So weit, so gut.

»Frau Simon? Ach, das ist aber schön, dass ich Sie noch erwische. Ich dachte schon, Sie wären übers Wochenende weggefahren.«

Nanu? Wer war diese Frau, die sich so rührend um meinen Tagesablauf sorgte?

»Entschuldigung, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Ina Barth, und ich rufe Sie von der Abonnentenbetreuung des ›Hamburger Abendblatts‹ an. Mit Bedauern mussten wir feststellen, dass Sie Ihr Probeabo nicht verlängern möchten. Dürfte ich Ihnen dazu wohl ein paar Fragen stellen?«

O nein, nur das nicht. Schuldbewusst drehte ich mich, den Hörer in der Hand, zu dem Papierberg um, der sich neben meiner Spüle stapelte. Noch nicht mal die Schnur, mit der die Zeitungen zusammengebunden waren, hatte ich von den Ausgaben gelöst. Was sollte ich der Frau antworten? Dass der tolle dreifarbige Kuli, mit dem sie mich als Stammleserin zu locken versuchten, von Anfang an nicht geschrieben hat? Oder sollte ich sie fragen, ob Moritz Göhrken, der größte selbstverliebte Windhund der Stadt, sie vielleicht auch schon mal als Rettungsanker missbraucht habe? Oder ob sie wisse, was wahrer Liebeskummer war? Auf der Schiene müsste ich sie doch eigentlich ablenken können. Ein vertrauliches Gespräch, so von Frau zu Frau. Stattdessen sagte ich:

»Gern. Schießen Sie los. Ich habe allerdings nicht viel Zeit.«

»Ja, ja«, lachte die Abobetreuerin, »Zeit, davon haben wir alle nicht genug, was, haha?« Hatte Sinn für Humor, diese Ina Barth. Innerlich dankte ich ihr jedoch für die Steilvorlage, denn sie hatte mich auf eine Idee gebracht, wie ich mich geschickt aus der Klemme ziehen könnte. Also sprudelte ich los und erzählte ihr was von beruflich sehr eingespannt (o ja, in der Tat) und dass ich leider doch feststellen müsse, dass ich neben den drei überregionalen Tageszeitungen, die ich ohnehin schon täglich studiere, nicht zu vergessen die ›FTD‹ und die ›New York Times‹, leider nicht mehr richtig dazu käme, mich auch noch über das Geschehen in der Stadt zu informieren und mir über deren kulturelle Angebote einen Überblick zu verschaffen, die ich sowieso nicht wahrnehmen könne, denn vor Mitternacht käme ich selten aus dem Büro, und dass ich jetzt am Wochenende zu Hause wäre, hätte damit zu tun, dass ich gerade über einem wichtigen Auftrag brüte (na, wer sagt’s denn, das stimmte sogar); dass ich mir da nicht auch noch die Zeit aus den Rippen schneiden könne, um ihr hochgeschätztes Blatt zu lesen, könne sie gewiss verstehen …

Und wie sie es verstehen konnte. Es herrschte einen Moment betretenes Schweigen, während dessen mich das Gefühl überkam, dass Frau Barth mir gern einen Blumenstrauß oder so was nach Haus geschickt hätte, so leid schien ich ihr zu tun.

»O weh«, sagte sie. »Sicher, arbeiten müssen wir alle viel, aber bei Ihnen … das hört sich ja schrecklich an. Da hat man irgendwann ja auch gar kein Privatleben mehr. Und eine erfolgreiche Frau, das verträgt auch nicht jeder Mann, finden Sie nicht?« Ich fand, Frau Barth wurde ein wenig zu persönlich.

So souverän wie ich nur konnte, erwiderte ich, dass sie da vermutlich recht habe, zum Glück sei das aber für mich noch nie ein Problem gewesen. »Meine Lebenspartnerin ist Künstlerin, wissen Sie. Sie ist ebenfalls viel unterwegs. New York, Tokio, Moskau. Wir sind schon seit zehn Jahren sehr glücklich miteinander.«

Frau Barth schluckte, wünschte mir schnell ein schönes Wochenende und legte wie erhofft sofort auf. Das war gut. Schlecht war, dass meine innere Stimme sich nun hinterhältig zu Wort meldete und wissen wollte, warum die Aboabteilung des ›Hamburger Abendblatts‹ mehr Energie darauf verwendete, mich zu bedauern als ein Mensch, der dazu wirklich allen Grund gehabt hätte.

Der Bildschirmschoner meines Laptops verschwand. Das Gerät schaltete auf Stand-by, und ich starrte immer noch ratlos Löcher in die Luft. Was haben andere bloß, was ich nicht habe?, fragte ich mich zum hundertsten Mal, ohne eine Antwort zu finden. Genauso wenig wie auf die andere Frage: Was habe ich an mir, auf das andere aus gutem Grund verzichten? Vielleicht erwarte ich ja doch zu viel? Aber was heißt das eigentlich: »zu viel«? Ohne mit der Wimper zu zucken, hatte ein wohlhabender, zugegeben attraktiver, aber dennoch fremder Kerl mir in kompletter Unkenntnis meiner Lebenssituation den vielleicht entscheidenden, den vielleicht alles entscheidenden Freitagabend meines Lebens zerstört, weil er nicht den Mumm fand, seinem Betthäschen ein für alle Mal zu erklären, dass es sich zum Teufel scheren solle. Durfte man denn da nicht erwarten, dass dieser Jemand am nächsten Tag anrief, um sich wortreich für seine billige Tour zu entschuldigen? Wenigstens das, bitte schön!

Und dann Tim! Ich hatte vor lauter Nägelkauen bisher nicht genug Zeit gehabt, mich gebührend über Tim zu ärgern, aber wenn man bedachte, was uns alles nicht mehr verband, war auch sein Verhalten eine bodenlose Frechheit gewesen …

Fast auf den Tag genau waren wir sechseinhalb Jahre zusammen gewesen. Meine Güte, wie die Zeit verging! Dass auch unsere Beziehung ein Ende finden würde, hätte ich spätestens nach zweieinhalb Jahren wissen müssen. Wenn ich ehrlich war: Ich hätte es vom ersten Tag an wissen müssen. Aber was erkannte man nicht alles, wenn es längst zu spät war! Der Mensch ließ eben nur ungern von seinen Gewohnheiten, wenn die Dinge denn endlich zur Gewohnheit geworden waren.

Was mich anging, so war der Anfang unserer Geschichte wirklich der Abmachung mit mir selbst geschuldet, die ersten vier Wochen durchzuhalten – wegen Eli! Ich verlor keine Freundin, weil ich mit dem Mann ins Bett gehen wollte, mit dem sie auch schon geschlafen hatte. Ich verlor allenfalls eine Freundin, weil deren Stolz es nicht verkraften konnte, dass sie nur eine Affäre für den Mann war, mit dem ich die große Liebe teilte. Wenn es die dann doch nicht sein sollte, nun ja … Aber zumindest ein Minimum an Zeit musste verstreichen, um das herauszufinden. So gesehen hatte es die große Liebe in unserem Fall von der Stunde null an schwer, sich durchzusetzen. Fehler Nummer eins.

Verliebt hatte ich mich erst später, viel später, aber da hatte ich Tim auch schon oft genug mit Füßen getreten, wenn man das so sagen konnte. Meine Gefühle waren irgendwie nicht auf mein Handeln abgestimmt gewesen. Und das ließ ich den anderen auch spüren. Nicht bewusst, meine ich. Tim hatte wirklich mich gemeint, und weil er nicht blöd war, merkte er natürlich, dass ich dachte: Es ist okay mit dir, aber wenn ein Besserer kommt, dann tausche ich dich aus. Hört sich nach Zicke an. War aber das Leben. Und im gleichen Maße wie ich anfing, Tim Schritt für Schritt zu lieben, weil ich immer mehr auch ihn meinte, fing er an, mir zu misstrauen und sich zurückzuziehen. Das nenne ich Ungleichzeitigkeit. Als wir uns dann endlich in der Mitte trafen, so etwa nach anderthalb Jahren, war das Fundament unserer Beziehung schon ziemlich am Wackeln. Nichtsdestotrotz zogen wir zusammen. Für mich war mein Glück damals, so dachte ich, perfekt. Ich liebte ihn. Er war für mich der großartigste Mensch, den ich kannte. Ich wollte keinen anderen als ihn. Und ich wollte nun anfangen, mit ihm die Beziehung zu leben, die er sich vor anderthalb Jahren gewünscht hatte. Und er? Er stand nach wie vor zu mir und machte sich vor, ich sei die Frau seines Lebens. Aber er glaubte mir nicht mehr. Vielleicht wusste er es damals noch nicht. Ich aber bin mir heute sicher: Er glaubte mir nicht mehr. Gesagt hat er es nie. Das war vielleicht sein Fehler. Ganz sicher sogar.

Eine Zeit lang gaben Tim und ich nach außen das strahlende, glückliche Paar ab, nach dem sich jeder Single den Kopf verrenkte. Er war freier Kulturschaffender, ich hatte im Ausland gelebt und war jetzt Journalistin (okay, mittelmäßige Lokalreporterin, aber wie gesagt, wir lebten in einer Kleinstadt und für kleinstädtische Verhältnisse war das ganz schön oho!). Wir hatten eine Menge Freunde, na ja, sagen wir mal Bekannte. Wir konnten miteinander reden, was wir gern taten, und wir konnten hitzig streiten, was wir ebenso gern taten. Wir hatten für die Leute um uns herum stets ein offenes Ohr. Wir waren für alle da, mit Leib und Seele, immer im Doppelpack. Entsprechend beliebt waren wir. Unsere Außenwirkung war perfekt. Im rein Privaten passten wir ähnlich gut zusammen, wenn man das »gut« in Anführungsstriche setzte. Was Tim und mich verband, war unsere Schüchternheit und vor allem unsere Angst. Keiner von uns hatte wirklich die große Klappe, die alle anderen uns und wir beide uns gegenseitig zuschrieben. Wir suchten das Rampenlicht, weil wir glaubten, selbst keine großen Leuchten zu sein. Wir waren nett, weil wir die Nettigkeit der anderen brauchten. Wir strengten uns an, weil wir ständig zu scheitern glaubten. Wir liebten den anderen, weil wir unbedingt selbst geliebt werden wollten. So einfach war das gewesen. So fatal. Ich hatte keinen wirklichen Partner gesucht, dachte ich später, sondern jemanden, der mich aufbaute, die schützende Rolle übernahm, die ich bei meinen Eltern immer vermisst hatte.

Kein Wunder, dass wir schon bald, so etwa nach zweieinhalb Jahren, aufhörten, miteinander zu schlafen. Man schläft nicht mit seinem großen Bruder. Und auch nicht mit seinem besten Freund. Doch weil wir beide das damals nicht begriffen, gingen die Machtkämpfe los. Erst wollte ich nur reden. Ich redete und redete, und je verbissener er schwieg, desto mehr redete ich auf ihn ein. Dann kamen die vorwurfsvollen Fragen: Fällt dir dazu denn nichts ein? Hast du mir überhaupt zugehört? Und danach seine ersten Affären, gefolgt von Türenknallen, dem einen oder anderen zerdepperten Teller, Heulkrämpfen und einem harmlos, aber effektvoll mit einer Rasierklinge bearbeiteten Arm – ich hatte von jeher ein Händchen für dramatische Einlagen –, die ganze Palette eben. Nach außen hin spielten wir jedoch weiterhin das strahlende Paar, wollten nach guten Tagen sogar noch mal richtig von vorn anfangen, und wie das Leben so ist, wenn man den Karren mit 180 Stundenkilometer in der nächsten Sekunde gegen die Wand fährt, starb auch bei uns die Hoffnung zuletzt.

Erst nach etwa fünf Jahren ließ ich ab und an Babette gegenüber mal ein Wort fallen. Es kam vor, dass ich morgens das Haus nicht verlassen konnte, weil meine Beine wie gelähmt waren, und ich abends Herzklopfen bekam, wenn ich seinen Schlüssel im Schloss hörte. Vor Freude klopfte mir das Herz bis zum Hals. Oder vor Angst? Wer konnte das schon genau unterscheiden? Innerhalb weniger Wochen nahm ich fünf Kilo zu, obwohl ich noch nicht mal Schokolade in mich reinstopfte. Vielleicht trank ich zu viel. Vielleicht bewegte ich mich zu wenig. Reglos lag ich stundenlang auf dem Sofa, machte nicht auf, wenn es klingelte, und zum Einkaufen kam ich irgendwie nie. Klassische Situation, erkannte ich später. Damals klebte ich an meinem häuslichen Nest wie an meinem Schicksal – Glück konnte man es wohl nicht mehr nennen –, weil ich fürchtete, dass ohne Tim alles noch viel schlimmer würde, aber nicht auf die Idee kam, dass es vielleicht auch besser werden könnte. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Ich hatte Angst. Vor dem Leben. Vor dem Erwachsenwerden. Was weiß denn ich. Richtig verstehe ich es ja heute noch nicht! Das nicht. Andere Dinge schon.

Wie um weitere fruchtlose Gedanken zu verscheuchen, strich ich mir die Haare aus der Stirn. Vielleicht sollte ich ernsthaft darüber nachdenken, mich bei der Aboabteilung des ›Hamburger Abendblatts‹ zu bewerben. Ina Barth führte bestimmt ein beschauliches Leben. Sie arbeitete hart, motzte über ihre Chefs und über lästige Abonnenten, schlenderte nach Feierabend noch einmal nett durch die Mönckebergstraße, kaufte sich bei Peek & Cloppenburg vielleicht eine hübsche Hose, stieg dann in die U-Bahn nach Wandsbek oder Niendorf, und auf der Fahrt fiel ihr ein, dass sie im Supermarkt noch einen Liter Milch, eine Packung Rigatoni, 250 Gramm Gehacktes halb und halb und eine Flasche Frascati besorgen musste. Passierte Tomaten im Tetrapack und Parmesan hatte sie noch zu Hause. Dort angekommen würde sie zuerst den Schlüssel an das Bord hängen, dann ihren Mantel ausziehen und die Lebensmittel in ihrer zwei Jahre alten Einbauküche verstauen, bevor sie die eine Stunde vollkommener Intimität genoss, die sie hatte, bis ihr Mann nach Hause kam, der sich dann hinter sie stellte, sie flüchtig (zu flüchtig für meinen Geschmack) auf den Nacken küsste und dabei genießerisch die Augen schloss, weil er den Duft des angebratenen Knoblauchs in der Pfanne so mochte. So verlief bestimmt das Leben einer Ina Barth. Ganz anders als meins. Aber so hätte ich es auch gern. Genau so! Und das hatte nichts mit romantischer Verklärung zu tun. Absolut nichts!

Ich seufzte leise (niemand hörte es; die Welt war einfach ungerecht!) und machte Musik an. Zwar fand ich nach wie vor, dass ›Mensch‹ ein großartiges Stück war, aber es gab melancholischere Texte, und nach denen war mir jetzt. Was von Van Morrison vielleicht? Oder Element of Crime? Oder Madredeus? Ich entschied mich für Grönemeyers ›Mensch‹, bis mir was Besseres einfiel.

Da klingelte das Telefon erneut. Das war nicht normal, dass an einem Samstag innerhalb von wenigen Stunden mein Telefon achtmal Laut gab! Ich nahm sofort ab, weil es mir inzwischen egal war, wer mir jetzt wieder meine Hoffnungen zerstören wollte. »Thelse Simon.« »Hi Thelse, ich bin’s.«

Es war Babette. Ihre Stimme klang tatsächlich gepresst. Siedend heiß fiel mir ein, dass ich sie längst hätte zurückrufen sollen.

»Hallo Babette. Ist irgendwas passiert? Du hörst dich so komisch an«, sagte ich aufrichtig besorgt. Dass ich das ehrlich meinte, musste sie allein daran merken, dass ich überhaupt fragte, denn nach meinem gestrigen Abend wäre es ein ungeschriebenes Gesetz gewesen, dass ich mit dem Erzählen anfing. Wir wussten ja beide, was auf dem Spiel gestanden hatte.

»Das kann man wohl so sagen …«

Ich glaubte sie weinen zu hören. Also setzte ich mich in meinen teuren Mies-van-der-Rohe-Stuhl und rechnete mit dem Schlimmsten: Ihr war gekündigt worden. Oder: Lars hatte sie betrogen. Oder: Ihre Eltern waren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen – was für Katastrophen einem eben so durch den Kopf gehen. Aber das war es alles nicht.