20. KAPITEL

Die nächsten Tage und Nächte versanken in Einheitsgrau. Blass und verheult hatte ich am Samstagnachmittag Maren getroffen, die die Geschichte nicht annähernd so verfahren fand wie ich. Sie war der Ansicht, ich solle erst einmal in aller Ruhe Urlaub machen und dann würde sich der Rest schon von selbst ergeben. In aller Ruhe: Sicher! Ich hatte gerade das Casting für die Hauptrolle der Buchladenbesitzerin Kathleen alias Meg Ryan im Remake vergeigt. Da fuhr es sich natürlich locker in aller Ruhe in Urlaub! Als sie mir dann aber behutsam beizubringen versuchte, dass Harald ihr einen Heiratsantrag gemacht hatte (was ich bei ihrem Gesundheitszustand doppelt romantisch fand), mussten wir das Lokal verlassen, weil ich mit dem Heulen gar nicht mehr aufhören konnte. Zum Abschied erzählte ich ihr dann noch schniefend von meiner Weihnachtskarte.

Babette, die ich gleich anschließend anrief, brauchte etwa eine viertel Stunde, um die Zusammenhänge von »Papa-hatte-einen-Schlaganfall-mit-Moritz-geschlafen-Meisinger-getroffen-mit-Julia-erwischt-die-nicht-Julia-ist-von-Moritz-verlassen-bin-am-Ende« zu durchschauen. Kurzerhand kam sie vorbei, um sich die Tragödie noch einmal anzuhören, während sie die zwanzig Lilien (es waren Lilien, weiße Lilien, meine absoluten Lieblingsblumen! Woher wusste er das?), die bis dahin achtlos in der Spüle gelegen hatten, auf zwei Vasen und einen Putzeimer verteilte. Dann drehte sie sich zu mir um, die ich noch immer schluchzend auf dem Beistelltischchen hockte, und meinte nur: »Ruf ihn an! Sofort! Er wartet drauf!«

Doch ich schüttelte energisch den Kopf. Da unterschätzte Babette seine Prinzipien. Hundert Pro! Nicht dass ich sie gekannt hätte, aber ich war mir sicher, dass ich im Moment absolut nichts ausrichten konnte – warum auch immer. Woraufhin Babette nur meinte: »Bei dir ist Hopfen und Malz verloren!«, seufzend in ihre Jacke schlüpfte, da sie merkte, dass ich mit meinem Liebeskummer einen romantischen Abend zu zweit geplant hatte, und mir ein in rotes Glanzpapier eingewickeltes und mit goldenen Schleifen dekoriertes weiches Paket in die Hand drückte. Siedend heiß fiel mir ein, dass ich mein Geschenk für sie völlig vergessen hatte. Dabei hätte ich ihr so gern jetzt den Babybonsai überreicht, den ich ihr hatte schenken wollen. Somit endete auch diese Begegnung in haltlosem Schluchzen und der Ankündigung meiner Weihnachtskarte.

Nicht nur Maren, auch meine beste Freundin nahm mein Problem nicht so ernst, wie mein Problem es verdient hätte, dachte ich trübselig, als ich dann endlich allein war. Draußen war es inzwischen Nacht geworden und es hatte zu schneien begonnen. Abwechselnd starrte ich auf mein Handy und dann wieder auf das Post-it mit Moritz’ Nummer. Irgendwie glaubt man irrationalerweise immer, dass der andere quasi gar nicht an einem vorbeikommt, wenn die Konturen der Außenwelt in der Dunkelheit verschwimmen. Aber Moritz schien mich prima aus seinem Gedächtnis gestrichen zu haben. Jedenfalls blieb das Telefon stumm. Und mir fiel einmal mehr auf, dass es wohl wirklich nicht das Kommunikationsmedium war, das Moritz und mich verband. Kurz überlegte ich, ob ich mir einen Heißluftballon mieten und mich damit über seinem Haus abseilen sollte, bereit, mich aus dem Korb zu stürzen, wenn er mein Werben vor seinem Fenster nicht erhören wollte. Da ich aber nicht wusste, ob er noch in Hamburg war oder schon unterwegs zu seiner Mutter, schienen mir die Investition und das Risiko zu hoch.

Am Sonntag schließlich kam ich auf die Idee, dass eigentlich ich es war, die gute Gründe hatte, um richtig, richtig wütend zu sein. Ich meine, wer hatte denn eigentlich wen ausgetrickst? Ich tat ja gerade so, als hätte ich mich danebenbenommen.

Montag früh gestand ich mir schließlich ein, dass mich diese Gedanken auch nicht weiterbrachten. Ich wollte Moritz zurückhaben und hatte keinen blassen Schimmer, wie ich das anstellen sollte.

Montagnachmittag stand ich dann heulend an eben jenem Gleis, an dem ich nur wenige Tage zuvor ein paar Minuten zu früh angekommen war. Das war’s! Die Zeit war schuld! Sie hatte sich gegen mich verschworen! Zuerst kam ich ein paar Minuten zu früh, dann zwei zu spät. Reumütig sah ich mich nach dem Junkie um, dem man neulich angeblich das Portemonnaie geklaut hatte. Gern hätte ich ihm heute einen Euro zugesteckt, entdeckte ihn jedoch nirgends. Zum letzten Mal in diesem Jahr dachte ich auch an Tim. Er hatte an diesem Tag wahrscheinlich meine Weihnachtskarte bekommen. Der endgültige Schlussstrich unter eine seit gut einem Jahr nicht mehr existierende Beziehung. Wenigstens das hatte ich hingekriegt. Irgendwann musste man hoffnungslosen Verbindungen ein Ende machen.

Hatte Moritz sich das auch gedacht, als er ging? War das zwischen uns für ihn so aussichtslos, dass er das Handtuch geworfen hatte? War ich wirklich so unnahbar, so schwer zu fassen? Ich konnte es mir nicht vorstellen, aber ich versuchte ja auch nicht, mich selbst kennenzulernen. Vielleicht sollte ich langsam mal damit anfangen.

Vielleicht auf Formentera.

Meine Furcht, ein stilles, von Krankheit überschattetes Zuhause vorzufinden, war unbegründet. Siemke war mit Giorgio und ihren beiden Töchtern, Gloria und Emma, schon angereist, und obwohl mein Vater mit seinen Enkelinnen nicht so toben konnte, wie er und sie das gern gehabt hätten, krabbelten sie ihm in seinem Sessel doch schon wieder auf dem Schoß herum. Er stotterte beim Reden noch immer ein wenig, aber wenn man nicht darauf achtete, fiel es kaum auf.

Ich glaube bis heute, dass er der Einzige war, der sofort merkte, dass etwas nicht stimmte. Er sprach mich nicht darauf an, aber für einen Vater, der genau wusste, dass seine Tochter Weinbrandpralinen nicht ausstehen konnte, war es doch ungewöhnlich, dass er mir die Packung »Asbach Uralt« bis zur Bescherung am nächsten Tag mindestens siebenmal unter die Nase hielt und mir dabei tief in die Augen sah. Doch ich brachte kein Wort heraus.

Am Montagabend saß ich lange mit meiner Schwester im Wohnzimmer und ließ mir von Rom erzählen, von ihrer Wohnung, in die sie sich ein neues Bad hatten einbauen lassen, von Emma, der Kleineren, die seit Neuestem Neurodermitis hatte, weshalb sie und Giorgio schon in Erwägung zogen, über kurz oder lang aufs Land zu ziehen.

»Und, wie geht es dir?«, fragte Siemke dann nach einer Weile.

Ich überlegte einen Moment, was ich ihr darauf antworten sollte. Wir hatten uns seit einem Jahr nicht mehr gesehen. Vor zwölf Monaten, dachte ich, hatte ich noch in Celle gewohnt, als mittelmäßige Journalistin für die ›Niedersächsische Umschau‹ gearbeitet und Tim hinterhergetrauert.

Inzwischen wohnte ich in Hamburg, schrieb für einen renommierten Verlag an einem Balearenführer, hatte Tim abgehakt, neue Freundschaften geknüpft (na ja, eine zumindest, auch wenn Maren nicht in Hamburg lebte) und ließ mir nicht mehr alles gefallen. In meinem Leben hatte sich im Grunde alles zum Positiven entwickelt. Sah man einmal von Moritz ab.

»Gut geht’s mir. Ich fahre am 28. nach Formentera.«

Der Heiligabend war, wie Heiligabende bei uns schon immer gewesen waren: hektisch und ein kleines bisschen rührselig. Die beiden Mädchen waren schon am frühen Morgen so aufgeregt, dass sie ihr Gedicht, das sie wie jedes Jahr zur Bescherung zum Besten geben sollten, schon vor dem Mittagessen lautstark aufsagten. In die Kirche wollte außer meiner Mutter und Giorgio niemand. Meine Schwester hatte ihre neuen Schuhe in Rom vergessen und kein passendes Ersatzpaar zu ihrem dunkelblauen Rock dabei. Die Gesangshefte von Tchibo lagen griffbereit neben dem guten Geschirr. Das Abendessen war zu spät fertig, aber trotzdem lecker. Mein Vater schickte die Mädels mit den gleichen Sprüchen wie letztes und vorletztes Jahr nach oben, während wir abwuschen und den Gabentisch vorbereiteten. Ich wusste wie jedes Jahr nicht, wo ich meine Geschenke hinlegen sollte. Die Kuhglocke wurde geläutet, die Kinder kamen herunter. Es wurde lange und falsch ›Kling Glöckchen klingeling‹, ›Alle Jahre wieder‹ sowie ›Stille Nacht, Heilige Nacht‹ gesungen, wobei ich wie alle Jahre wieder eine Gänsehaut bekam. Vor Grauen, versteht sich, nicht aus Ergriffenheit. Die Mädels verhaspelten sich bei ihren Gedichten. Meine Mutter war dennoch zu Tränen gerührt (»Ach, habt ihr das wieder fein gemacht!«). Man wünschte sich fröhliche Weihnachten und nun hatten alle, außer den Kindern, Tränen in den Augen. Geschenke wurden ausgepackt, »Ahhs« und »Ohhs« machten die Runde (von Babette hatte ich eine superschöne Kaschmirjacke bekommen), man bedankte sich, die Kinder wurden ins Bett geschickt, mein Vater bekam einen Jägermeister, und dann wollte meine Mutter von uns allen noch hören, was für eine tolle Familie wir doch waren. Nachdem unsere Eltern meiner Schwester und mir versichert hatten, dass sie stolz auf uns seien, gingen auch sie zu Bett. Ich saß noch eine Weile mit Siemke und Giorgio zusammen, und dann wünschten auch wir uns eine gute Nacht. The same procedure as every year. Um halb eins spielte ich ein letztes Mal mit dem Gedanken, Moritz eine SMS zu schicken. Und setzte ihn nach 450 vorangegangenen (einen pro Minute in den letzten siebeneinhalb Stunden) endlich auch in die Tat um. »Frohe Weihnachten, Thelse.«

Mit einer Antwort rechnete ich sowieso nicht.

Am ersten Feiertag ließ ich mir – ebenfalls wie jedes Jahr – die Gänsekeulen noch schmecken (ich war keine, die sich Weihnachten so richtig mästete, aber ein gutes Essen war ein gutes Essen!) und begann dann, meine Sachen zusammenzupacken. Wie immer fand meine Mutter das viel zu früh.

»Warum bleibst du nicht noch eine Nacht, Thelse? Die Familie ist so selten zusammen. Dich treibt doch nichts.«

Beides stimmte. Fast …

»Ich fliege am 28. doch nach Formentera, Mutti.«

»Ach! Machst du Urlaub? Das hast du mir noch gar nicht erzählt. Kannst du dir das denn leisten?«

»Mutti! Ich schreibe einen Frauenreiseführer über die Balearen. Ich muss dahin. Das ist eine Dienstreise.«

»Die Balearen? Ist das nicht ziemlich weit? Warum fährst du nicht lieber nach Mallorca? Drostes waren auch erst zehn Tage dort und fanden es sehr schön. Bisschen voll, aber schön. Und die zahlen dir das?«

Ich verdrehte die Augen und gab es auf. »Ja, Mutti, die zahlen mir das. Toll, oder?«

»Unsere Thelse!«, sagte meine Mutter nun ungläubig. »Hast du denn auch einen Koffer? Nicht dass du mir wieder mit Plastiktüten verreist. Papa!« Sie drehte sich zu meinem Vater um, der mal wieder in seinem Fernsehsessel eingenickt war.

»Ist schon gut«, beruhigte ich sie. »Ich habe einen Koffer.«

Unter Beschwörungs- und Abschiedsformeln: »Mutti, ich muss los, mein Zug geht gleich. Alles klar, macht’s gut. Pass auf Papa auf. Ich schreib’ euch«, bahnte ich mir den Weg nach draußen zu Siemke, die mich zum Bahnhof fuhr.

Wieder ein Interregio, sogar der gleiche. Wieder ein Gleis. Wieder kein Moritz in Hamburg. Konnte nicht alles noch einmal von vorn losgehen? Konnte ich die Zeiger der Uhr, dieser Scheißuhr, nicht einfach noch einmal fünf Minuten vor- und dann sieben Tage und eine Minute zurückdrehen?

Nein, konnte ich nicht.

Kein Junkie, keine Taube, keine zerfetzte Plastiktüte. Und kein Moritz. Ich setzte mich in die U-Bahn.

Weitere anderthalb Tage Einheitsgrau. Und am 27. lag keine Weihnachtskarte im Briefkasten. Ich hätte mir selbst eine schreiben sollen. Ich stellte meinen Laptop neben die Wohnungstür und packte dann den Koffer, zweiundzwanzig Reiseführer und die Unterhosen zuunterst. Der Rest war Luxus.