21. KAPITEL

Am Samstagmorgen saß ich dann um sechs mit verquollenen Augen auf meinem Koffer in der Schlange vor dem Abfertigungsschalter am Hamburger Flughafen und wartete darauf, dass ich an die Reihe kam. Wie schafften es andere Leute nur, um diese Uhrzeit keine geschwollenen Finger, keine kraftlos herunterhängenden Haare und kein zerknittertes Gesicht zu haben?!

Okay, er würde sich nicht melden. Nie mehr. Okay, noch vor einer Woche und einem Tag hatte ich mir den Abflug euphorischer vorgestellt. Schluss. Aus. Vorbei? Nichtsdestotrotz saß ich hier nun buchstäblich auf meinen gepackten Koffern und vor mir lagen vier Wochen Sonne und Meer. In meinem von Pinien gesäumten Luxus-Royal-Spa-Hotel würde ich die Zeit nutzen, um die endgültige Abnabelung von Tim zu feiern und mich auf künftige Begegnungen mit Z3 fahrenden (Alp-)Traumprinzen vorzubereiten. Ich würde in meinen Reiseführer einen sozialkritischen Exkurs über die durch den Tourismus bedingte temporäre Wasserknappheit einbauen, meinen morgendlichen cafe con leche genießen und die abendlichen copas de vino tinto schätzen. Ich würde drei Kilo abnehmen, weil ich mich gesund ernähren und jeden Tag joggen gehen würde, ich würde meine Höhenangst verlieren, vielleicht einen anderen Hotelgast kennenlernen – und ob ich mit ihm nun glücklich wurde oder nicht, ich wäre beschäftigt und …

»Ihr Ticket bitte!«, wurde ich von der strahlend lächelnden Hapag-Lloyd-Mitarbeiterin aufgefordert.

»Ach, bin ich schon dran? Wenn möglich, würde ich gern am Gang sitzen.«

Die Dame – Frau Gómez-Schneider, wie mich ihr Schildchen aufklärte – nickte, musste mir dann aber eine Minute später betrübt mitteilen, dass sie nur noch einen Fensterplatz für mich hatte.

Ich sah mich nach der Schlange um, die noch hinter mir stand. »Sind Sie sicher?«, hakte ich nach. »Ich habe schreckliche Flugangst, müssen Sie wissen.«

Sie lächelte milde. »Unsere Maschinen sind absolut sicher. Es kann Ihnen nichts passieren.«

»Ich HABE aber schreckliche Flugangst. Haben Sie wirklich keinen Platz am Gang mehr frei?«

»Nein, ich bedauere.« Ende der Durchsage.

Das fing ja gut an. Ich checkte also ein, ging zu einer Bar in der Nähe meines Gates und bestellte mir einen Kaffee und einen Cognac. Nun denn, dann landete ich eben schon besoffen auf Formentera. Wenn ich überhaupt ankäme.

Zu meiner Überraschung bestiegen wir das Flugzeug pünktlich, und zu meiner Freude nahmen weder die spitznasige Blondine mit dem Kosmetikköfferchen noch der arrogantalternative Kameramann neben mir Platz. Ich gurtete mich fest, legte mir ein Tuch über die Augen und versuchte mich irgendwie darauf einzustellen, was mir in den kommenden Stunden bevorstand: ein ewig langer Flug in 10.000 Meter Höhe über Land (Probleme mit dem Triebwerk zwingen zur Notlandung im nebelverhangenen Hannover, wobei die Maschine mit einem startenden Flugzeug kollidiert und in Flammen aufgeht), Gebirge (nach dem Ausfall der Steuerung zerschellt die Boeing in den Französischen Alpen; Überlebenschance gleich null) sowie dem Wasser (beim Landeanflug stürzt die Maschine etwa zweihundert Meter vor der Küste ins Mittelmeer; alle 130 Insassen kommen ums Leben).

Damit es endlich dazu käme, müsste sich die Maschine allerdings langsam mal in Bewegung setzen. Meiner inneren Uhr zufolge waren wir seit mindestens zwanzig Minuten abflugbereit. Ich nahm das Tuch von den Augen. Hatten wir es eventuell schon jetzt mit einem Triebwerksschaden zu tun? Ich sah mich nach den Stewardessen um. Ach, sieh an, Frau Gómez-Schneider war auch an Bord. Sie wirkte ganz entspannt und lief hin und her, um die Gepäckablagen zu schließen, dem kleinen Mädchen in der dritten Reihe einen Teddy zu bringen, der genervten Mutter eines quäkenden Babys ein Kissen in den Rücken zu stopfen und dergleichen mehr. Als sie zum dritten Mal an mir vorbeischwebte, bekam ich sie zu fassen.

»Entschuldigung, aber warum fliegen wir denn nicht endlich los?«

»Wir warten noch auf einen Fluggast«, bekam ich freundlich zur Antwort, bevor sie mich musterte und ein Lächeln über ihr Gesicht ging. »Na, sehen Sie, der Sitz neben Ihnen ist ja doch noch frei. Sobald wir in der Luft sind, können Sie auf den am Gang wechseln.«

Ich sah mich um. Die Maschine war fast ausgebucht, aber den einen oder anderen freien Platz gab es schon noch. Wieso sollte ich warten, bis wir in der Luft waren? Hatte Frau Gómez-Schneider denn noch nie davon gehört, dass Passagiere mit Flugangst beim Starten und Landen besonders litten?

Verstohlen blickte ich nach rechts und links, löste dann blitzschnell meinen Gurt, rutschte einen Platz weiter, tat, als sei nichts gewesen, legte mir erneut das Tuch über den Kopf und versuchte, die Wärme in der Kabine nicht mit einem sich ankündigenden Luftdruckabfall in Verbindung zu bringen.

»Entschuldigung! Entschuldigung!«

Jemand entschuldigte sich permanent. Mein Gott, wie lästig.

»Entschuldigung!«

Ich glaube, ich war ein wenig eingedöst. »Entschuldigung!«

Waren wir schon in der Luft? Ich nahm das Tuch vom Gesicht. Und schrie laut auf. In einer Entfernung, die das normale Abstandsbedürfnis zweier Menschen um mindestens zwanzig Zentimeter unterschritt, starrte ich mitten in das runde, schwabbelige Gesicht eines Mannes, der mich aus seinen wasserblauen Augen treuherzig ansah.

»Entschuldigen Sie, aber das ist mein Platz«, sagte der Mann, dessen Körperfülle die Grenze von dick zu fett eindeutig überschritt.

Mit dem Taschentuch wischte er sich über die feuchte Stirn.

Vielleicht war es nicht sonderlich nett von mir, aber mein Blick verriet eindeutig, was ich von ihm hielt. Wortlos rutschte ich wieder auf den ungeliebten Fensterplatz und presste mich eng an die Kabinenwand, weil ein derart beleibter Mensch sicher nicht bequem in die viel zu engen Sitze der Charter-Airline passte. Und siehe da: Kaum hatte er Platz genommen, quoll das Fleisch auch schon oberhalb und unterhalb der Armlehne in meine Richtung. Um mir das nicht weiter ansehen zu müssen, legte ich mir erneut das Tuch über die Augen … Doch wenn jemand glaubte, dass das Maurermeister Kuno Sonders davon abgehalten hätte, zwei Stunden und fünfzig Minuten permanent auf mich einzureden, so irrte er sich gründlich. Als ich endlich mit von seinen Donuts übersäuertem Magen an der Gepäckausgabe am Flughafen von Ibiza stand und auf meine Koffer wartete, wusste ich so ziemlich alles über ihn, seine drei Kinder, seine Frau und seine Schwiegermutter, die letztes Jahr gestorben sei und seiner Familie so viel Geld vererbt habe, dass sie sich auf Formentera ein Häuschen kaufen konnten, das er nun für ihren Ruhestand herrichtete. Der einzige Vorteil dieser denkwürdigen Reisebegleitung war, dass ich keine Gelegenheit mehr hatte, mich meiner Flugangst zu widmen.

Es dauerte ewig, bis sich das Kofferband in Bewegung setzte, und es dauerte ewig, bis endlich auch mein Koffer als einer der letzten – logisch! – angekreiselt kam. Auf dem Weg zum Ausgang schaltete ich mein Handy an, das Stunden nach einem Empfang suchte, ging durch den Zoll, nicht ohne den beiden einheimischen Beamten ein perfekt akzentuiertes »¡Bueno días!« zuzuwerfen, hörte draußen nach der Schranke das bekannte Piepsen, das mir eine SMS ankündigte, stellte meine Tasche mitten in der Ankunftshalle auf den Boden und fixierte den geschlossenen Briefumschlag.

Natürlich hatte ich längst darüber nachgedacht, ob sich Moritz nicht endlich doch dazu herablassen konnte, ein Lebenszeichen von sich zu geben. Nervös drückte ich auf den Umschlag. Mit klopfendem Herzen stand oben im Display »Moritz«. Er hatte also wirklich …!

»Willkommen auf Ibiza!«

Ich starrte auf mein Handy. Seit wann konnte das denn sprechen? Ich las: »Willkommen auf Ibiza.« Ich schüttelte das Gerät.

»Hallo Thelse.«

Und da sah ich endlich auf – und direkt in das verlegen lächelnde Gesicht des Mannes, dessen gesprenkelte grüne Augen mir von Anfang an so gut gefallen hatten. Mit einer weißen Lilie, zwei Gläsern und einer Flasche Champagner stand er vor mir.

»Moritz!! Was machst du denn hier?!« Ich war sprachlos. Ich war fassungslos, Stufe Meg Ryan. Und er grinste nur, der Hund, er grinste einfach.

»Urlaub.«

»Wie bitte?«

»Ich mache Urlaub«, sagte er genüsslich. »Ich hab’ mir sagen lassen, dass die Balearen über Silvester bei allein reisenden Frauen sehr beliebt sein sollen.«

Zum ersten Mal konnte nun auch ich etwas entspannter lächeln. »Und du bildest dir ein, mich mit der Masche endlich zu knacken?« Ich zeigte auf den Champagner und die Lilie.

Er zuckte mit den Achseln. »Ich denke schon. Schließlich habe ich Erfahrung mit Frauen, die auf jedes romantische Klischee hereinfallen.« Bevor ich noch lautstark protestieren konnte, fuhr er auch schon fort: »Ich hatte dir doch gesagt, dass ich eine Überraschung für dich habe.« Er gab mir einen Kuss auf den Mund. »Aber du wolltest mich ja nicht ausreden lassen.«

»Aber … aber …«, stammelte ich atemlos, weil Wellen eines unbeschreiblichen Glücksgefühls über mich hinwegbrandeten und sämtliche Mauern zum Einsturz brachten.

»Wie schön, dich endlich einmal sprachlos zu sehen.« Mit sanftem Druck bugsierte er mich, das Gepäck und alles, was er sonst noch so in der Hand hatte, Richtung Ausgang. »Ich schlage vor, wir fahren jetzt ganz schnell mit dem Taxi zum Fährhafen und nehmen dann gleich das nächste Tragflächenboot hinüber nach Formentera. Du hast doch ein Doppelzimmer gebucht, oder?«

Ich hatte natürlich kein Doppelzimmer gebucht, aber was machte das schon? Zärtlicher als Meg Ryan es je gekonnt hätte, schmiegte ich mich an ihn.

»Und wenn wir zurück sind, suchen wir dir eine Wohnung. Ende März ist eine gute Zeit zum Umziehen, findest du nicht?«

– ENDE –