4. KAPITEL

In den letzten zwei Wochen hatte ich mächtig was weggeschafft. Von Wladimir, meinem russischen Nachbarn, den ich für einen untergetauchten Mafioso hielt, der aber netterweise immer wieder mit kleinen Präsenten versuchte, mir seine Kultur näher zu bringen, hatte ich mir einen Gartentisch ausgeliehen, auf dem ich sorgsam alle auf dem Markt erhältlichen Reiseführer über die Balearen gestapelt hatte. Insgesamt zweiundzwanzig, da war selbst ich baff. Ich konnte nur froh sein, dass mein Etat mir einen kleinen Spielraum ließ. Es war schon ein merkwürdiges Gefühl gewesen, eine Plastiktüte mit Sonne, Strand und Sommer nach Hause zu tragen, während in der nassgrauen Innenstadt die ersten Weihnachtsbeleuchtungen über die Straße gespannt wurden und man die Auslagen der Geschäfte mit Styroporschneemännern, goldenen und roten Kugeln sowie künstlichen Tannenzweigen dekorierte.

Da ich es aus mir unerfindlichen Gründen noch nicht geschafft hatte, auch nur einen Billigflieger nach Mallorca zu buchen, blätterte ich zunächst wahllos in den Führern über die einzelnen Inseln – einen Sammelband gab es leider nicht –, bis ich die gefunden hatte, die mir am informativsten schienen, und da las ich mich dann erst mal richtig ein. Ich machte mir Stichworte und Notizen, spickte die Reiseführer mit Post-its, und nach fünf Tagen hatte ich mich entschieden: Sobald die Weihnachtsfeiertage hinter mir lagen, würde ich mich für drei Wochen nach Formentera absetzen. Die Insel, die als die blaue Perle des Mittelmeers beschrieben wurde, wirkte im Gegensatz zu den anderen noch irgendwie sympathisch und unberührt. Kein Diskorummel und Promille-Trubel, keine Schickis und Betonbettenburgen, sondern schroffe Küsten, viel Natur, das reinste Wanderparadies. Und außerdem würden dort die schönsten Strände des Mittelmeers die Küste säumen und das Wasser changiere von Türkis bis Tintenblau. Zumindest behaupteten das meine schlauen Travelguide-Autoren. Formentera war die kleinste der Inseln und als südlichste immerhin ein halbes Grad wärmer als die anderen, wenngleich ich mich temperaturtechnisch lieber auf den Kanaren eingemietet hätte. Trotzdem schien sie mir ideal, um mir endlich mal den verdienten Urlaub zu gönnen und, na gut, ein bisschen an dem Reiseführer zu arbeiten. Aber da war ich ganz optimistisch. Die Kollegen hatten wertvolle Vorarbeit geleistet. Mit Ibiza – der Insel, über die es neben Mallorca am meisten Material gab – könnte ich locker innerhalb einer Woche fertig sein. Viele der Informationen überschnitten und wiederholten sich, so dass es nicht auffallen dürfte, wenn ich die Angaben einfach leicht variiert abschreiben würde.

Damit wir uns richtig verstehen: Ich hatte nicht vor, jede Insel auf ihre frauenspezifischen Besonderheiten hin zu überprüfen. Das wäre ja ein wahnsinniger Aufwand. Anreisen musste ich sowieso schon über Ibiza, mit der Fähre, da Formentera keinen eigenen Flughafen besaß. Und dann das Ganze wieder zurück? Koffer auspacken Koffer einpacken, auf die Fähre und dann rein in den Flieger und ab nach Malle? Koffer auspacken, Koffer einpacken und auf Menorca wieder ein Apartment suchen? So ein Stress. War ich verrückt? Nö. Wozu gab’s denn all die anderen Reiseführer? Und wozu war ich ein fantasiebegabter Mensch? Wenn ich schrieb, dass die Pre-Club-Bar X auf Malle ein supergeiler Szeneladen für liebeshungrige Mitzwanzigerinnen war, und am Ende stellte sich aufgrund der Leserbriefe heraus, dass diese Bar eher nach Käthchens Tanztee anmutete, nun, dann hatte eben gerade der Besitzer gewechselt. Und überhaupt: Solche Einschätzungen waren doch ohnehin sehr subjektiv. Da würde ich auch bei ›Marco Polo‹ darauf achten müssen: Was die als »sehr elegant, aber nicht ganz billig« kategorisierten, würde bei mir garantiert »versnobt und überteuert«. Aber wenn man das erst mal wusste, war der Rest ein Kinderspiel. Außerdem würde ich mir ja eine Insel anschauen und stellvertretend für die anderen alles genau unter die Lupe nehmen. Wenn Babette sich darüber wirklich aufregte, sollte sie ein bisschen aufpassen, dass sie nicht verspießerte!

So gesehen fühlte ich mich hervorragend gerüstet, um an diesem Tag, wie mit Herrn Meisinger verabredet, zu Travel Fun zu gehen und mein Konzept abzuliefern und – dann doch – den Vertrag gleich mitzunehmen. Pfeifend hüpfte ich die Stufen hinunter in den Fahrradkeller. Pfeifend, bis ich meinen Verschlag aufschloss. »120 Euro«, murmelte ich etwa zum siebzehnten Mal mürrisch, seit ich das Rad eine Woche zuvor aus der Reparatur geholt hatte. 120 Euro, und das nur, weil ich groß war in Sachen Selbstjustiz. Verärgert dachte ich an die Z3-Flosse. Während Mister Göhrken die Lackierung für seinen Kotflügel vermutlich gedankenlos aus der Portokasse bezahlt hatte und mein Gesicht schon wieder mit dem der Kassiererin vom Aldi verwechselte, musste ich mir im Sinne meines Steuerberaters einmal mehr in den Kopf bimsen, auch noch die gerechtesten Rachepläne in Zukunft sorgfältiger zu kalkulieren, bevor ich wieder mal meine Schlüssel für etwas anderes als zum Öffnen meiner Haustür benutzen sollte. Unwillkürlich dachte ich an Tim. Wenn es ihn in meinem Leben noch geben würde, wäre ich jetzt nicht um 120 Euro ärmer. Tim hätte einen Weg gefunden, die Acht aus dem Rad zu biegen. Handwerklich war Tim total geschickt. Und trotzdem ein Intellektueller. Eine seltene Mischung, die ich sehr an ihm geliebt hatte, stellte ich zum x-ten Mal wehmütig fest. Moment mal, hatte ich gerade gesagt, geliebt hatte? Konnte es sein, dass ich doch endlich über ihn hinweg war? Memo: Baldmöglichst mal mit Babette bekakeln!

Als ich bei Travel Fun ankam, war der nächste freie Laternenpfahl natürlich gute hundert Meter vom Eingang entfernt. Brummelnd schloss ich mein Fahrrad an, holte dann tief Luft und betrat stolz das Foyer.

Nach einem kurzen Telefonat winkte mich der Pförtner durch: »Vierter Stock, links den Gang entlang, Zimmer 401.«

»Danke!«, sagte ich und beglückte ihn mit einem charmanten Lächeln, bevor ich mit dem Fahrstuhl das Atrium des geschmackvoll eingerichteten Gebäudes hinauffuhr und dort seiner Wegbeschreibung folgte. Vor der Tür blieb ich noch einmal stehen und prüfte meine Klamotten: schwarze Hose, 7/8-tel lang, pink-, flieder- und beigegemustertes Shirt des Barceloniner Stardesigners Custo, mittelhohe Stiefeletten, enger, schwarzer Wollmantel. Das Gesicht konnte ich nicht sehen, aber mit dem Rest war ich zufrieden. Ich straffte meine Schultern, räusperte mich, doch bevor ich noch anklopfen konnte, ging die Tür auch schon auf.

»Frau Simon, ich grüße Sie! Meisinger mein Name«, rief der Mann mit dem Röntgenblick erfreut, den ich mir irgendwie imposanter vorgestellt habe. Herr Meisinger war kaum größer als ich und hatte auf dem Hals eine kleine Kugel und unter dem Hals eine dicke Kugel sitzen, an die sich seine Beine wie kleine Eichenstämme anschlossen.

Er bat mich herein und trat dazu einen Schritt zur Seite, wobei er den Blick auf eine zweite Person freigab: Mein selbstbewusstes Lächeln erstarrte zur Maske, und ich wurde rot bis über beide Ohren. Puter-dunkel-rot!

»Darf ich vorstellen: Moritz Göhrken, unser Marketingleiter und stellvertretender Geschäftsführer. Ich dachte, es wäre sinnvoll, ihn bei unserer Besprechung dabeizuhaben.«

Herr Göhrken, unser Marketingleiter, ließ sich natürlich nichts anmerken. Oder er hatte mich wirklich schon mit der Aldi-Kassiererin in einen Topf geworfen.

Freundlich lächelnd kam er auf mich zu und streckte mir seine Hand entgegen.

»Es freut mich, Sie wiederzusehen!«

Scheinheiliger Werbefuzzi. Wusste ich es doch, dachte ich und stand noch immer da wie versteinert.

»Sie kennen sich?«, fragte Herr Meisinger, an seinen Spitzensportler gewandt. Und dann besorgt zu mir: »Frau Simon?«

Ich reagierte nicht.

»Frau Simon, ist Ihnen nicht gut?«

»120 Euro«, presste ich schmallippig hervor.

»Bitte?« – Herr Meisinger.

»Bitte?« – Moritz Göhrken.

»Die Reparatur hat mich 120 Euro gekostet«, wiederholte ich gedehnt.

Und dann passierte etwas, womit ich im Leben nicht gerechnet hätte und worüber ich auch noch eine Weile würde nachdenken müssen, um herauszufinden, ob es arrogant-unverschämt oder sympathisch-menschlich gemeint war: Moritz Göhrken fing unvermutet an, schallend zu lachen. Er lachte! Richtig laut. Und richtig aus seinem tiefsten Innern. Er lachte regelrecht Tränen. Das dauerte bestimmt vier, fünf Minuten, und der arme Herr Meisinger, der nichts verstand, begann schon, sich mit einem Taschentuch die Stirn abzutupfen. Mir ließ das die notwendige Atempause, meine Fassung zurückzugewinnen. Meine dunklen Augen funkelten.

»Kann ich mir denken, dass Sie das lustig finden. Wenn ich so Geld verdienen würde wie Sie schwimmen, so kaltblütig und gewissenlos, hätte ich mir auch gleich ein neues Fahrrad gekauft. Dem ist aber leider nicht so.«

Göhrken hatte sich wieder eingekriegt und versuchte nun, ein ernstes Gesicht zu machen. »Schicken Sie mir die Rechnung!«

Ich war in Gegenwart dieses Mannes zu oft sprachlos, stellte ich unzufrieden fest. »Bitte?« – Thelse Simon. »Schicken Sie mir die Rechnung.«

»Es war doch gar nicht Ihre Schuld.«

»Stimmt. Aber ich verdiene mein Geld etwas straighter als Sie schwimmen. Von daher kann ich es mir leisten.« Jetzt grinste er. Richtig breit, der Arsch.

»Danke, nicht nötig«, entgegnete ich hoheitsvoll. Schließlich hatte ich auch meinen Stolz. Und wenn ich noch so sehr in den Miesen war: Ich ließ mich doch nicht vom Besitzer eines Z3 aushalten! 120 Euro. Ich seufzte innerlich.

»Für meine Unachtsamkeit stehe ich schon selbst ein. Ich bin nicht käuflich. Herzlichen Dank.«

Ich wurde unnötig dramatisch, merkte ich, aber der Marketingleiter schien Gefallen an dem Spiel zu finden. Mehr noch: Er schien mich peinlicherweise zu durchschauen.

»Auch nicht für eine Million?« Wie er grinste, das war doch wohl die Höhe! Blöderweise zitierte er aus meinem Lieblingsfilm. Der arme Herr Meisinger: Mit Augen so groß wie Tennisbälle folgte er unserem Schlagabtausch und bekam den Mund nicht mehr zu.

»Ist das ein unmoralisches Angebot?«, entgegnete ich mit verführerischem Augenaufschlag. War ich jetzt völlig durchgeknallt? Ich liebte Demi Moore, und manchmal bildete ich mir ein, auch so auszusehen wie sie. Zumindest um die Hüften. Demi Moore hat breite Hüften. Ist das schon mal jemandem aufgefallen?

Moritz Göhrken lachte amüsiert. »Lassen wir das. Schicken Sie mir die Rechnung. Wollen wir jetzt über das Projekt reden?«, fragte er mit Blick auf seinen Chef, der nun heftig mit der runden Kugel auf seinem Hals nickte.

Natürlich. Der Rückzieher. Wie immer. Feigling. Marketing-Affe. Aber warum, verdammt, riechst du nur so sportlich, frisch und männlich? Und warum siehst du so gut aus und fährst ein so geiles Auto? Und vor allem: Warum bist du so souverän?

Wir setzten uns an den Tisch und nach zwei Stunden hatten wir eine mit meinen geheimen Plänen kompatible Marschroute festgelegt. Zum Abschied drückte ich beiden meine tolle neue Visitenkarte in die Hand, die ich mir unterwegs noch an einem dieser praktischen Automaten gezogen hatte. Die Tinte war zwar etwas verschmiert – meine Güte, ich hatte es eilig gehabt und für die Qualität waren selbst die zehn Euro noch zu viel, die ich fluchend dreimal in den Schlitz geschoben hatte, bevor das Gerät dann endlich den Schein schluckte. Aber was sollte ich tun? Ich brauchte Visitenkarten und genau die überreichte ich den beiden gelackten Geschäftsmännern mit lässiger Eleganz. Ein gewandtes Auftreten, gepaart mit einem gekonnt charmanten Lächeln: Was wollte man mehr?

Kurz darauf stand ich wieder auf der Straße, nachdem ich den Pförtner von Travel Fun noch mit einem freundlichen »Auf Wiedersehen!« bedacht hatte. Ich war verwirrt, ein bisschen durcheinander, aber im Grunde war es für mich super gelaufen. Herr Meisinger und auch der bescheuerte Moritz Göhrken hatten mein Konzept geschluckt. Überzeugend und ernsthaft, wie ich durchaus auch sein konnte, hatte ich ihnen nicht nur stichwortartig Daten und Fakten zu der wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung der Inseln vermittelt, sondern ihnen auch die frauenrelevanten Aspekte erläutert, auf die ich bei diesem Projekt besonders eingehen würde. Klug wie ich war, schmückte ich meinen Vortrag mit einem kleinen Exkurs zu den Besonderheiten der Reiseservice-Infos aus, mit denen Meisinger schon Babette hatte beeindrucken wollen, so dass der gute Mann sich so verstanden fühlte, als hätte er selbst das komplette Konzept für den Balearen-Guide ausgearbeitet. Er war eitel genug, um nicht zu merken, dass ich ihn lediglich zitierte. Nun und zum Schluss, als Sahnetupfer obendrauf, hatte ich noch ganz nebenbei ein paar Sätze zu Cabrera einfließen lassen, der völlig unbekannten, direkt vor der Südküste Mallorcas gelegenen kleinen Insel, auf der man sich tatsächlich noch so fühlen könne wie Robinson Crusoe, da man zu ihrem Besuch eine Bewilligung des Instituto National para la Conservación de la Naturaleza (an dieser Stelle konnte ich natürlich mit meinem Spanisch glänzen) benötige. Abgesehen von den Naturschönheiten wie den einsamen Stränden oder der Cava Bianca, einer Höhle, in deren Innerem es einzigartige Lichtspiegelungen gebe, sei dort auch eine Piratenfestung aus dem 14. Jahrhundert zu bestaunen, und mit etwas Glück könne Frau von der Küste aus Delfine beobachten. Es lebe das Internet, das einem solche Insider-Tipps auf den heimischen Schreibtisch lieferte! Spätestens mit dieser Information hatte ich die beiden Herren wohl restlos davon überzeugt, sich für ihr Pilotprojekt wirklich die Topjournalistin geangelt zu haben. Den Vertrag hatte ich also in der Tasche, 11.000 Euro plus Recherchespesen. Mehr wollte ich nicht. Dann würde ich die 120 Euro fürs Fahrrad eben vertelefonieren. Ich würde schon meinen Schnitt machen. Auf meine bescheidene Art und Weise war mir das noch immer gelungen.

Gut gelaunt schwang ich mich auf meinen Drahtesel und fuhr zum nächsten Reisebüro.

Gut gelaunt verließ ich es eine halbe Stunde später wieder. Hapag Lloyd, 28. Dezember, Flug nach Ibiza, die Fähre inklusive, und dann drei Wochen Formentera. Gebongt. Nach Meinung der Reiseverkehrskauffrau war die kleinere der beiden Pitiusen-Inseln – so nannte man Ibiza und Formentera wegen ihrer vielen Pinien, klärte sie mich auf; schade, dass ich das erst jetzt erfuhr – und das »Royal Paradise Spa« im Südosten der Insel mit seinem mediterranen Flair, den 340 Betten und den im Preis inbegriffenen fünf »Harmonietagen« genau das Richtige für eine Alleinreisende wie mich.

Wie sich das anhörte! Eine Alleinreisende wie mich.

Sei’s drum. Ich hatte gebucht.

Gut gelaunt betrat ich eine Bäckerei, und weil ich mich nicht entscheiden konnte, kaufte ich eine Laugenbrezel und ein Stück Kranzkuchen. Während ich dann mein Fahrrad schob, ging ich gut gelaunt mit mir zurate, ob ich zuerst in den Kranzkuchen in meiner rechten oder in die Laugenbrezel in meiner linken Hand beißen sollte, als ich plötzlich ein lautes »Stopp!« vernahm und merkte, wie sich meinem Vorderrad ein weicher Widerstand bot. Ich verdrehte die Augen. Gehörten Fahrradzusammenstöße jetzt zu meinem Standardprogramm, dachte ich noch, bevor mir der Kranzkuchen herunterfiel und ich mir instinktiv die Laugenbrezel in den Mund schob.

»Pfduuuu?«, platzte es ziemlich undeutlich aus mir heraus.

Ich nehme an, ich habe in diesem Moment ziemlich blöd ausgesehen. Vor Tim sah ich im ersten Moment irgendwie immer ziemlich blöd aus. Warum erhob sich nicht spontan eine Litfaßsäule vor mir?

»Hi, Thelse. Wie geht es dir?«

Tim! TimTimTim. Ich sondierte sein Umfeld. Er war allein. Ich nahm die Laugenbrezel aus dem Mund. »Hallo! Was machst du denn hier?«

Seitdem ich vor fünf Monaten nach Hamburg gezogen war, hatte ich von Tim nichts mehr gehört. Solange ich ihn kannte, wollte er immer raus aus Celle, aber solange ich ihn kannte, hatte er den Absprung auch nie geschafft.

Er lächelte mich an. Dieses schrecklich sympathische Augenfältchenlächeln. Ich fiel noch immer darauf herein … Fiel ich wirklich immer noch darauf herein?

»Gut siehst du aus«, sagte er und musterte mich von Kopf bis Fuß.

»Danke«, erwiderte ich und schielte nach dem Stück Kranzkuchen auf dem Boden. Ob ich es aufheben sollte? »Auf Sightseeing unterwegs?«, versuchte ich zu scherzen und gleichzeitig herauszufinden, was er denn nun hier in meinem Hamburg verloren hatte. Er wirkte müde, fand ich. Blass, überanstrengt. Er tat mir Leid, wie immer.

»Termin bei der Kulturbehörde«, sagte er knapp und selbstbewusst, als hätte die Kulturbehörde dankbar zu sein, dass er sich ihretwegen nach Hamburg bemüht hatte; als wäre nicht er derjenige, der versuchte, Gelder zu beschaffen, wie ich vermutete.

»Wegen ›Visionen‹?«, fragte ich so neutral wie möglich.

»Nicht direkt«, entgegnete er ausweichend. Er habe ein Literaturzentrum gegründet und sei dabei, es als gemeinnützigen Verein eintragen zu lassen. Er wolle versuchen, die Hamburger mit ins Boot zu holen, sie könnten so ihren Aktionsradius über die Stadtgrenzen hinaus auf Niedersachsen ausweiten. Außerdem sei man auf der konstitutiven Sitzung des Vereins auf die Idee gekommen …

Ich hörte Tim nicht mehr zu. Ich kannte die endlosen Debatten, die zu nichts führten, in- und auswendig, und irgendwie hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass sie mich nichts mehr angingen, dass ich den Elan und auch das Verständnis dafür verloren hatte. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, Tim war das, was er vielleicht schon immer gewesen war: ein selbstverliebter Provinzaktionist.

Trotzdem erlag ich einmal mehr seinem Charme. Trotzdem hörte ich nicht auf, mich irgendwie verpflichtet zu fühlen, als er mich fragte, was ich am Abend vorhabe, auch wenn ich so tat, als würde ich länger überlegen müssen. Nach einer Weile sagte ich: »Nichts Wichtiges. Wo übernachtest du?«

»Schlag was vor. Ich folge dir bis ans Ende der Welt«, sagte der alte Schmeichler. Im Bruchteil einer Sekunde merkte ich, dass Tim lediglich einen Platz zum Schlafen suchte und schlicht das Glück hatte, mich mit Kranzkuchen und Laugenbrezel auf der Straße getroffen zu haben.

Aus Neugier und, zugegeben, aus Sentimentalität hörte ich jedoch nicht auf meine warnende innere Stimme und lächelte ihn offen an. »Okay, um acht in der ›Amphore‹. Direkt gegenüber von Dock 11 von Blohm & Voss. Wirst du schon finden. Ich muss jetzt los.«

»Wunderbar! Ich freu’ mich. Und heute Abend erzählst du mir, wie es dir geht, versprochen?«

»Klar«, sagte ich viel unbefangener, als ich mich fühlte. »Ciao.«

»Bis später.«

Als ich nach Hause kam, legte ich mich erst mal aufs Sofa. Ich war fix und fertig. Schon wieder so ein Tag! Erst die Überraschung bei Travel Fun und dann auch noch Tim! Und ich mit einem Stück Laugenbrezel im Mund und einem Teilchen zu meinen Füßen. Ich wollte, dass man mich ernst nahm? Vielleicht sollte ich dann langsam anfangen zu üben.

Es war schon wieder nicht das richtige Timing für einen Anruf bei Babette, aber schließlich hatte auch sie mich vor Kurzem zu Unzeiten angerufen.

Ich drückte auf die oberste Speicherwahltaste.

»Bertram«, meldete sie sich nach dem dritten Klingeln.

»Babette, ich bin’s, Thelse. Hast du ’ne Sekunde?«

»Eigentlich nicht. Was gibt’s denn so Dringendes?«

»Weißt du, wen ich eben getroffen habe?«

»Nein.«

»Weißt du, mit wem ich heute Abend in der ›Amphore‹ verabredet bin?« »Nein.« »Tim!« »Nein!« »Doch.«

»Wie ist das denn passiert?«, fragte sie in rügendem Ton, was mir ganz und gar nicht gefiel.

Da erzählte ich ihr die ganze unglückliche Geschichte.

»Sag mal, bist du von allen guten Geistern verlassen? Hast du etwa alles schon vergessen? Die Bindehautentzündung, weil du dir die Augen monatelang mit Tausenden von Taschentüchern wund gerieben hast? Die Schuldgefühle, die dich nicht haben schlafen lassen? Seine Affären, wonach du dich jedes Mal am liebsten aus dem Fenster gestürzt hättest, weil du dir selbst die Schuld gegeben hast, dass er fremdging? All die Monate, in denen du unausstehlich warst, bis du dich endlich aufgerafft hattest, den überfälligen Schritt zu tun und nach Hamburg zu kommen? Hey, Thelse, ab und an höre ich dich hier mal wieder lachen. Ich sehe, dass du deinen ewigen Diätwahn zu den Akten gelegt hast und dir wieder ohne allzu großes schlechtes Gewissen eine Currywurst genehmigst, wenn dir danach ist. Und kaum warst du hier, hast du im Sommer etwas Farbe bekommen und deine Augenringe stechen nicht mehr ganz so dunkel hervor. Ich kriege inzwischen sogar mit, dass du dir über deine Auftragslage mehr Gedanken machst als über die Frage, ob dir jemals wieder ein Mann in die Augen schauen wird. Und das alles schmeißt du so mir nichts, dir nichts über den Haufen, bloß weil so ein Penner aus der Provinz nicht weiß, auf welches Kissen er heute Nacht sein Haupt betten soll?«

Babette hatte sich in Rage geredet. Tim war kein Penner. Babette übertrieb maßlos. War es wirklich nötig, mich an all die Verletzungen aus der Vergangenheit zu erinnern? Ich hatte schließlich genug gelitten. Der einzige Grund, weswegen ich nicht widersprach, war, dass sie recht hatte. Kleinlaut nagte ich an meiner Unterlippe. Was sollte ich denn machen?

»Was soll ich denn deiner Meinung nach machen?«

Ich hörte förmlich, wie sie wütend mit den Augen rollte.

»Thelse, du kennst die Antwort besser als ich, aber das ändert nichts. Wenn du hier was gelernt hast – und ich gebe dir den freundschaftlichen Rat: Vergiss keine Sekunde, wie selbstbewusst du in den letzten Monaten geworden bist! –, dann bringst du den Abend souverän hinter dich. Ihr quatscht ein bisschen, trinkt einen Wein zusammen und zahlt getrennt. Bitte, Thelse, versprich mir, dass ihr getrennt bezahlt! Dann bringst du ihn zur U-Bahn oder du lässt dich von ihm nach Hause begleiten und verabschiedest dich vor deiner Tür, hörst du, vor deiner Tür! Es wird dir vielleicht übermenschliche Kräfte abverlangen, aber stelle dir schon jetzt das gute Gefühl vor, das dich überkommen wird, wenn du allein deine Wohnung betrittst. Alles andere hieße Katzenjammer.« Sie machte eine Pause. »Glaub mir, du läufst einem Gespenst hinterher, Thelse. Und irgendwann ist mal Schluss.«

Es gab Situationen, da redete Babette in letzten Sätzen. Diese war so eine.

»Babette?«, murmelte ich kleinlaut.

»Hm?«

»Und wenn der Abend total schön wird?« »Die Frage stell dir mal selbst. Du musst was begreifen, nicht ich.«

Babette hat gut reden, dachte ich eine halbe Stunde später, während ich auf meinem Stuhl mit Kuhfellimitat saß und darauf wartete, dass der Nagellack auf meinen unseligen Füßen trocknete. Sie war seit Jahren glücklich verheiratet. Sie musste nie über vergeigte Affären, misslungene Trennungsgeschichten, olle Kamellen und neue Fauxpas nachdenken. Ich war es, die mit unscheinbaren 1,64 Meter Körpergröße und 59 Kilo ihr Liebesleben neu anzugehen hatte, die sich fragte, was sie eigentlich falsch machte, wenn sie auf einer Party fremde Menschen offen anlächelte und nicht gleich merkte, dass denen die Kontaktaufnahme unangenehm war, weshalb sie panisch oder unauffällig das Weite suchten. Irgendwie geriet Opfer-Thelse immer an die Falschen. Und das war ungerecht!

Das Flaggschiff der Opferfraktion war also gerade so schlechter Laune, dass es sowieso nur den falschen Griff in den Kleiderschrank tun konnte. Missmutig entschied ich mich für die seit meinem Umzug nach Hamburg in der hintersten Ecke vergammelnde Jeanslatzhose, ein weißes T-Shirt und braune Boots. Aus Trotz nietete ich mir den Hirschkopfmagneten meines Kühlschranks an den Hosenlatz, der nur mit dem Schweinchenmagneten mit Ringelsocken auf der Innenseite zu fixieren war. Ein fragiles Kunstwerk in Küchendesign machte sich missmutig auf den Weg zu einem Date, das diesen Namen noch nicht mal verdiente. Ich zog die Tür hinter mir ins Schloss und war selbst gespannt, wann, wie und mit wem ich sie wieder öffnen würde.