Lisa Kunz hatte sich ihn anders vorgestellt. Sie hatte mit einem ebenfalls schwer drogensüchtigen, ausgemergelten und verwahrlosten Mann gerechnet, der an der Seite der verschwundenen Prostituierten gelebt hatte. Oder vielleicht mit einem Zuhältertypen. Auf jeden Fall mit einer unangenehmen Erscheinung. Doch als sie das »Kino« betrat, in dem schon die schlimmsten Mörder gesessen hatten, sah sie einen nicht unsympathischen Mann in ihrem Alter am Tisch sitzen, der etwas verloren wirkte. Man sah ihm zwar an, dass er ein einfaches Leben führte, dass er wenig Geld besaß. Er trug Kleidung, die direkt aus einem weiß-roten Sack der Kleidersammlung stammen könnte: zerschlissene, aus der Form geratene Jeans, ein verblichenes T-Shirt mit einem Firmenlogo auf der Brust und abgelatschte Halbschuhe. Doch ansonsten machte er keinen ungepflegten Eindruck. Die braunen Haare hätten zwar längst wieder einmal mit einer Coiffeurschere in Berührung kommen sollen, aber sie waren gewaschen und wirkten kräftig und gesund. Unter dem Haarschopf erkannte Lisa Kunz ein offenes, wenn auch etwas bleiches, längliches Gesicht. Einzig die roten Äderchen im Weiß der Augen und das nervöse Zucken seiner Hände verrieten, dass auch er nicht nur auf Gesundheitsprodukte setzte. Lisa Kunz wusste, dass der erste Eindruck eines Menschen täuschen konnte. Trotzdem war er ihr wichtig. Sie sog das erste Bild, das sie von jemandem erhielt, in sich auf, prägte sich möglichst alles ein, das ihr dabei durch den Kopf ging. Dann setzte sie sich hin und ergriff das Wort.

»Wir haben Sie zu uns bringen lassen, weil wir Ihnen gerne

Mathias nickte wie ein braver Schulbub.

»Ich möchte, dass Sie mir erzählen, was Renate Berger in den letzten Tagen vor ihrem Verschwinden gemacht hat, wie ihr Tagesablauf ausgesehen hat, wie Ihr Verhältnis zueinander in letzter Zeit gewesen ist, ob es Streit gegeben hat. Wir müssen uns ein Bild von Renate Bergers Leben machen können. Ich werde Ihnen nun einige Fragen stellen und ich bitte Sie, mir diese so genau wie möglich zu beantworten. Ich werde Ihre Antworten mit diesem Aufnahmegerät aufzeichnen.«

Wiederum ein Nicken. Wiederum der brave Schulbub. Mathias Balmer saß da, als ob ihn die Lehrerin aufgerufen hätte, um an ihm eine Prüfung abzunehmen.

Lisa Kunz schaltete das Aufnahmegerät ein. Das Band begann zu laufen.

»Wann haben Sie Renate Berger zum letzten Mal gesehen?«, fragte sie.

»Am letzten Montagabend, so um halb sieben. Sie ist losgezogen, um anschaffen zu gehen. Danach habe ich sie nicht mehr gesehen.«

»Was haben Sie danach gemacht?«

»Wie meinen Sie das?«

»Als sie nicht nach Hause kam, was haben Sie da gemacht?«

»Zuerst habe ich gar nichts gemacht. Das heißt, natürlich habe ich mehrmals versucht, sie auf ihrem Handy zu erreichen. Sie ist aber nie rangegangen, und zurückgerufen hat sie auch nicht. Am Samstag bin ich sie dann suchen gegangen.«

Lisa Kunz notierte sich, dass Balmer ihr später seine Handynummer aufschreiben solle. Sie würden das überprüfen.

»In was für einem Zustand war Renate Berger, als Sie sie das letzte Mal gesehen haben?«

»Sie brauchte dringend einen Schuss.«

»Nein.«

»Dem Polizisten auf der Wache haben Sie aber etwas anderes erzählt«, hakte Lisa Kunz nach.

»Hin und wieder gab es Streit, ja. Aber als sie am Montag wegging, haben wir nicht gestritten.«

»Aber es gab auch in der Woche davor Streit?«

»Ja.«

Lisa Kunz ging Frage um Frage mit ihm durch. Bohrte nach, wenn er sich allzu wortkarg gab. Nach und nach erhielt sie Einblick in das Leben der Renate Berger. Je mehr er ihr erzählte, umso klarer schien ihr, dass ihr etwas zugestoßen sein musste. Auch wenn Mathias Balmer selbst es nach wie vor für möglich hielt, dass Renate ihn einfach verlassen hatte. Gleichzeitig war sich Lisa Kunz mehr und mehr sicher, dass Mathias Balmer nichts mit dem Verschwinden der Vermissten zu tun hatte. Er gab sich sichtlich Mühe, ihre Fragen ehrlich zu beantworten, und wirkte nicht wie jemand, der verheimlichen wollte, dass er seine Freundin eiskalt um die Ecke gebracht hatte. Doch zu früh wollte sich Lisa Kunz nicht festlegen.

»Herr Balmer, Sie und wir wissen ganz genau, dass Sie kein unbeschriebenes Blatt sind. Im Gegenteil: sehr beachtliches Vorstrafenregister.«

In der Tat war die Liste seiner Vergehen lang, die Schwere der Straftaten hielt sich aber in Grenzen: mehrmaliger Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz wegen Konsums und Besitzes von Cannabis, mehrfacher Diebstahl, ein Einbruch in ein Warenlager. Hinzu kamen ein paar Einträge im Betreibungsregisterauszug, weil er mehrere Rechnungen nicht bezahlt hatte. Balmer war ein eher harmloser Kleinkrimineller, der bei seinen Straftaten offenbar nie Gewalt angewandt hatte. Nicht eine einzige kleine Körperverletzung war in seinem Strafregister zu finden.

Die letzten Sätze schleuderte sie ihm entgegen, als wollte sie ihn damit an die Wand nageln.

Mathias Balmer blieb regungslos sitzen. Er hatte jetzt Tränen in den Augen, schüttelte den Kopf. Seine Stimme ließ ihn im Stich. Er schüttelte noch einmal den Kopf und sagte schließlich leise, kaum hörbar: »Nein, so ist es nicht gewesen.«

»Oder sind Sie ganz geplant vorgegangen? Haben Sie sie mitten in der Nacht oder in den frühen Morgenstunden im Schlaf überrascht und zu Tode geprügelt? Um zu verhindern, dass sie Sie verlässt? Weil Sie dachten, ohne sie nicht leben zu können, weil sie trotz allem immer noch die Stärkere war von Ihnen beiden und Sie es nicht verkraften konnten, sie zu verlieren?« Lisa Kunz hatte etwas Schärfe aus ihrer Stimme herausgenommen. Eigentlich wusste sie bereits, dass es kaum so gewesen sein konnte. Sie musste es dennoch auf diese Weise versuchen.

»Ich habe nichts mit dem Verschwinden von Renate zu tun, ich wüsste ja selber gerne, wo sie ist, ich mache mir verdammt noch mal Sorgen!«

»Herr Balmer, das wars fürs Erste. Ich bitte Sie, die Stadt nicht zu verlassen und sich zu unserer Verfügung zu halten; wir werden möglicherweise noch mehr Fragen an Sie haben. Bitte schreiben Sie dem Beamten draußen Ihre Handy- und Ihre Festnetznummer auf, inklusive der Telefongesellschaften, bei denen Sie registriert sind. Dann können Sie gehen.«

»Danke«, sagte Mathias Balmer, stand auf und schüttelte Kunz und Hugentobler die Hand.

Als er vor der Tür von einem Polizisten in Empfang genommen worden war, der ihn hinausführen würde, blickte Lisa Kunz Max Hugentobler an und fragte schmunzelnd: »Hat der jetzt tatsächlich Danke gesagt?«

Hugentobler nickte und lachte. »Ich glaube nicht, dass wir es hier mit einem Mörder zu tun haben.«

Das glaubte Lisa Kunz auch nicht. Trotzdem beauftragte sie Sandro Bandini, der die ganze Vernehmung hinter der Scheibe mitverfolgt hatte, bei der Staatsanwaltschaft die richterliche Genehmigung für eine rückwirkende Teilnehmeridentifikation der Telefonanschlüsse von Mathias Balmer zu