Petra hatte schlecht geschlafen. Sie hatte vom Strich geträumt, was ihr selten passierte. Wahrscheinlich war es ein sogenannter Verarbeitungstraum gewesen, wegen der Sache, die mit Renate passiert war – und wegen der Sache, die mit ihr selbst geschehen war, vor nun schon bald elf Jahren. Die Erinnerung daran machte ihr hin und wieder immer noch zu schaffen. Plötzlich war sie jeweils da, ganz ohne Vorwarnung, sie kam von ganz weit unten, wo Petra sie versorgt hatte, versteckt hatte, wo sie sich aber einfach nicht stillhalten wollte. Petra wusste, dass sie nach dreiundzwanzig Jahren auf dem Drogenstrich froh sein musste, dass es ihr nur einmal widerfahren war. Dass sie nur einmal vergewaltigt worden war.
Zunächst war ihr damals alles vorgekommen wie immer. Der Freier war auf der Bundesgasse vor ihr mit dem Wagen aufs Trottoir gefahren. Sie hatten sich schnell über den Preis und die Art der Dienstleistung geeinigt. Ein Blowjob, das war der Deal. Der Freier war ein eher junger, gut aussehender, gepflegter und freundlicher Mann gewesen. Er war mit ihr in den Bremgartenwald gefahren, hatte mitten auf einem abgelegenen Weg angehalten. Außer ihnen war da keiner. Kaum hatte er ihr das verlangte Geld zugesteckt, veränderte er sich. Innerhalb von Sekunden war er zu einem anderen Menschen geworden. Plötzlich hatte er Geschlechtsverkehr verlangt, obwohl das weder vereinbart noch bezahlt war. Petra hatte reklamiert, das sei nicht abgemacht, wenn er das wolle, dann koste es mehr. Doch sie hatte rasch gemerkt, dass mit ihm nicht zu diskutieren war. Dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Eiskalte Angst hatte sie gepackt. Unvermittelt hatte er ihr mit der Faust hart ins Gesicht geschlagen, sie mit der anderen Hand an den Haaren gezogen, hatte geschrien, dass sie zu tun habe, was er von ihr verlange.
»Sonst mache ich dich kaputt!« Diese Worte hallten in ihrer Erinnerung wider, als hätte sie sie erst gestern vernommen. Sie hatte keinen Moment daran gezweifelt, dass er seine Drohung wahr machen und sie töten würde. Sie hatte sich gefügt, weil sie um ihr Leben fürchtete, weil sie wusste, dass sie sonst verloren war. Während er sie brutal vergewaltigte, hatte sie versucht, sich wegzudenken, sie hatte sich vorgestellt, nicht hier und nicht jetzt in diesem Auto in diesem Körper zu sein, sondern in einer anderen, viel schöneren Welt. Sie hatte an eine Wüste gedacht, mit sanft geformten Sanddünen und sehr viel Himmel. Braune, beige, rötliche, orange Farben und ein tiefes Blau. Sie hatte sich in Gedanken dort stehen sehen, ihre nackten Füße im warmen Sand, der ihre Zehen umrieselte, hatte die Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht gespürt, den Wind in den Haaren. Doch den Schmerz, der ihr zugefügt wurde, hatte sie dennoch nicht ausblenden können. Kaum war der Mann fertig gewesen, kaum hatte er sie fertiggemacht und etwas in ihr für immer zerstört, hatte er sich wieder freundlich gegeben. Sie hatte zusammengesunken auf dem Beifahrersitz gesessen und leise geweint. Er war mit ihr zurückgefahren, hatte sich nett verabschiedet, tröstend fast. War wieder dieser andere Mensch gewesen. Sie hatte ihn danach nie wieder gesehen. Anzeige hatte sie nicht erstattet. Sie wollte damals nichts mit den Bullen zu tun haben. Heute würde sie wohl anders handeln.
In ihrem Traum war all die Gewalt wieder da gewesen, doch sie selbst war nicht sie selbst gewesen, sondern sie hatte sich in Renate verwandelt. Obwohl der Traum so schrecklich gewesen war und sie daraus erwachen wollte, hatte sie sich fast nicht aus den Fängen des schweren Schlafs befreien können. Als sie dann doch endlich aufwachte, waren ihre Augenlider so schwer und geschwollen, dass sie sie kaum öffnen konnte. Etwa eine halbe Stunde lang blieb sie halb dösend im Bett liegen, mit sich kämpfend, ob sie nun das warme Nest verlassen oder doch lieber für immer darin bleiben wollte. Doch der Drang nach Heroin war schließlich stärker. Er trieb sie unerbittlich an aufzustehen und sich wieder in ihre Welt da draußen zu begeben, die oft ebenfalls ein Albtraum war.
Es war schon Nachmittag. Übermüdet setzte sich Petra zu Hause ihren Morgenschuss. Sie war zu alt, um das auf der Straße zu tun. Sie jagte sich die notwendige Dosis ins Blut, so würde sie einigermaßen funktionieren. Danach zog sie sich an, um ins Stadtzentrum zu fahren. An der Haltestelle entnahm sie einer blauen Box eine Gratiszeitung und blätterte unmotiviert darin herum, während sie auf den 12er-Bus wartete. Was gingen sie die Nachrichten an? Es interessierte sie nicht, was in der Welt um sie herum geschah. Doch auf Seite 5, die den regionalen Nachrichten vorbehalten war, blickte ihr plötzlich Renate Berger entgegen. Sie sah auf dem Foto besser aus als in Wirklichkeit. Das Bild musste in jener Zeit aufgenommen worden sein, als sie mit dem Methadon über die Runden kam.
»Vermisstmeldung«, stand darüber geschrieben. »Vermisst wird seit dem 17. Juli die 35-jährige Renate Berger.« In der kurzen Notiz, sie war nicht einmal eine halbe Spalte hoch, hieß es, dass Renate Berger drogensüchtig war und auf dem Drogenstrich anschaffen ging. Und dass sie am Montag vor einer Woche dort das letzte Mal gesehen worden war. »Die Polizei bittet Personen, die Renate Berger kurz vor ihrem Verschwinden gesehen oder sonst mit ihr in Kontakt gestanden haben, sich auf der nächsten Polizeidienststelle zu melden.« Auch alle anderen Bürger, die etwas beobachtet hatten oder »sachdienliche Hinweise« machen konnten, sollten dies bitte mitteilen. Die Polizei schließe nicht aus, dass ein Verbrechen vorliege.
Das war alles, mehr stand da nicht. Was für ein Abgang, dachte Petra. Sie hatte Mitleid mit Renate Berger. Zum Schluss ein Bild in der Zeitung und ein kurzer Text, in dem alle Welt erfährt, dass du bloß ein Junkie und eine Hure warst. Die meisten Leute dachten wohl, dass es um so eine nicht schade sei. Petra wurde in dem Moment schmerzlich bewusst, dass es bei ihr – falls sie einem mordenden Freier zum Opfer fallen sollte – nicht anders wäre. Dass unter ihr Bild der fast identische Text gesetzt werden konnte. Und dass niemand sie vermissen würde. Dennoch würde sie auch heute Abend wieder dort stehen, auf der Bundesgasse, auf dem Strich, und sie würde jedem Freier, der neben ihr anhielt, ins Auto steigen. Im Wissen, dass einer von ihnen vielleicht der Mörder war. Dass einer von ihnen vielleicht Renate Berger auf dem Gewissen hatte – und dass er möglicherweise wieder morden würde.
Während Petra eine Seite aus der Gratiszeitung riss, den Rest davon in den Mülleimer warf und in den 12er-Bus stieg, schlüpfte Bruno Bärtschi auf dem Vorplatz seines Bauernhofes hoch oben über Heimiswil in die schweren Gummistiefel. Auf der Seite der schwarzen Stiefel prangte ein silbern reflektierendes »F«. F wie Feuerwehr. Heute Abend stand für die Freiwillige Feuerwehr von Heimiswil eine Übung an. Bruno Bärtschi hatte es, wie in allen Vereinen, in denen er Mitglied war, auch hier zu einer gewissen Position gebracht. Im Theaterverein saß er im Vorstand, im Kegelverein hatte er das Amt des Kassiers inne, in der Feuerwehr war er Mitglied der Atemschutzgruppe. Das bedeutete, er würde an vorderster Front gegen das Feuer kämpfen und sich nicht scheuen, in das im Brand stehende Gebäude einzudringen und im besten Fall sogar Leben zu retten – wenn es denn mal brennen würde. Das wäre etwas, dachte er sich nicht zum ersten Mal. Dann wäre er für immer und ewig der Held im Dorf.
Bärtschi klemmte sich den schweren Feuerwehrmantel unter den Arm, den er an diesem warmen Sommertag nicht zu früh anziehen wollte; er würde während der Übung noch genug ins Schwitzen kommen. Dann stieg er in seinen grünen Subaru und fuhr hinab ins Dorf. Es war so warm, dass die Luft über den Feldern flimmerte. Keine Wolke stand am Himmel. Der Geruch nach dürren Getreidehalmen und ausgetrockneten Miststöcken hing über Heimiswil wie eine durchsichtige Dunstglocke. Selbst die Vögel schienen bei dieser Hitze träge geworden zu sein; ihr Gezwitscher erschien Bruno Bärtschi unaufgeregter als üblich.
Zur gleichen Zeit, als sich in Heimiswil die Männer der Freiwilligen Feuerwehr in Reih und Glied vor ihrem Kommandanten aufstellten, um sich die heutige Übung erklären zu lassen, machte sich Petra in Bern für ihren Einsatz bereit. Sie hatte den kürzesten Rock angezogen, eine schwarze Lederimitation, und die halbhohen, ebenso schwarzen Lackstiefel, die sich vorne schnüren ließen. Was reinste Attrappe war, denn hinten verfügten sie über einen praktischen Reißverschluss. Dazu trug sie ein weißes Top mit tiefem Ausschnitt, das sich eng an ihren Körper schmiegte und bis knapp oberhalb des Bauchnabels reichte. Es ließ einen winzigen Streifen nackte Haut frei, zu wenig, als dass man erkennen konnte, dass diese bereits ziemlich faltig war, aber gerade genug, um einen jugendlichen Eindruck zu erwecken. Mit einem gepolsterten Push-up-BH versuchte sie, ein einigermaßen ansehnliches Dekolleté hinzukriegen.
Heute war sie etwas früher unterwegs als üblich. Sie wollte, bevor sie sich an ihrem Stammplatz aufstellte, noch kurz bei der Sozialarbeiterin Claudia Schütz im Straßenbus vorbeischauen. Das Verschwinden von Renate Berger ging ihr näher, als ihr lieb war, vielleicht würde es guttun, mit jemandem darüber zu reden.
Als sie den Bus betrat, war Claudia Schütz noch damit beschäftigt, die Vorbereitungen für die bevorstehende Nacht zu treffen. Sie legte die Flash-Boxes zurecht, füllte die Kistchen mit frischen Kondomen auf und die Körbchen auf dem Tisch mit den Backwaren, die sie zuvor bei der Bäckerei Storchen gratis abgeholt hatte.
»Guten Abend, Petra, so früh schon unterwegs?«, fragte sie, ohne eine Antwort abzuwarten. »Hast du zufällig Streichhölzer dabei?«
Claudia Schütz wollte die Duftkerzchen anzünden, doch Streichhölzer waren das Einzige, das ihr regelmäßig aus dem Bus geklaut wurde. Petra reichte ihr ein Feuerzeug. Kurz darauf verströmten die Kerzen einen sehr süßlichen, aber nicht unangenehmen Duft. Claudia Schütz war gewappnet für den Abend, was immer passieren mochte.
»Warum bist du schon da?«, hakte sie nun doch nach. Sie spürte, dass Petra etwas auf dem Herzen hatte.
»Heute war ein Foto von Renate in der Zeitung.«
Petra reichte der Sozialarbeiterin die arg zerknüllte Seite. »Weißt du, es macht mich halb wahnsinnig.« Petras Stimme klang auf einmal heiser. »Ich habe sie in ihrer letzten Nacht zweimal in einen Wagen einsteigen sehen, aber glaubst du, ich würde mich auch nur an die Farbe eines der Autos erinnern? Keine Chance, alles weg. Ein Hirn wie ein Schweizer Käse.« Petra seufzte laut.
»Mach dir deswegen keinen Kopf. Du hättest es nicht verhindern können.«
»Aber ich könnte zumindest helfen, den Kerl zu schnappen.« Petra schniefte, zog die Nase hoch. »Was, wenn er wieder zuschlägt? Weil ich nicht aufgepasst habe und man ihn meinetwegen nicht geschnappt hat?« Jetzt konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten.
Claudia Schütz legte den Arm um Petras Schulter, drückte sie an sich. Innerlich gab sie Petra recht. Aber sie wollte ihr nicht ein noch größeres schlechtes Gewissen machen, als sie sowieso schon hatte.
»Scheißjob!« Petra wischte sich die Tränen weg.
»Fürchtest du dich? Denkst du nicht, dass es langsam Zeit wäre, damit aufzuhören?«
»Für mich ist es zu spät, um aufzuhören. Was soll ich denn sonst tun? Und Angst, nein, Angst habe ich nicht, auch wenn ich schon mit einem besseren Gefühl am Straßenrand gestanden habe. Aber Angst? Nein. Entweder erwischt er mich, oder ich habe weiterhin Glück. Wenn ich Angst hätte, könnte ich mich auch nicht mehr auf einen Zebrastreifen wagen. Dort kann ich genauso gut getötet werden wie auf dem Straßenstrich.« Petra griff nach ihrer Tasche, schnappte sich eine Flash-Box und verließ den Bus, um mit ihrer Nachtarbeit zu beginnen.
»Man ist nie zu alt, um aufzuhören – und um etwas Neues anzufangen!«, rief ihr die Sozialarbeiterin nach.
Doch Petra war bereits in der eindunkelnden Nacht verschwunden.
»Ich habe ihn!«
Bärtschi schwitzte wie ein Weltmeister. Er fühlte, wie sich die Schweißtropfen sammelten, um in Rinnsalen über seinen Körper Richtung Füße zu fließen. Seine Kleider würde er auswringen können wie nasse Waschlappen.
»Ihr könnt ihn runterlassen, er ist gesichert!«, rief er Peter Messerli zu, dem Metzgermeister, der etwa zehn Meter weiter unten an der Drehleiter stand.
Bärtschi hatte den Schwerverletzten, tatsächlich vom sehr munteren Ruedi König gespielt, oben am offenen Fenster, hinter dem das imaginäre Feuer loderte, gut verschnürt an die Trage gebunden und diese mit dem Karabinerhaken gesichert, sodass man sie nun langsam an der Winde hinunterlassen konnte. Ich werde doch langsam zu alt für diesen Job, dachte Bärtschi, der nicht nur gehörig ins Schwitzen, sondern auch völlig außer Atem geraten war. Zum Glück war gleich Schluss, zum Glück gab es gleich ein kaltes Bier. Sobald der Verletzte und Gerettete unten angekommen und losgebunden war, stiefelte er wohlgemut Richtung Löwen davon. Die Feuerwehrmänner mussten sich noch etwas länger gedulden. Sie zogen die Leitern ein, rollten die Schläuche auf, räumten die Wagen ein. Danach fuhren Bärtschi und Messerli mit dem Tanklöschfahrzeug zurück zum Feuerwehrmagazin; ihr Job war es, dort die Schläuche wieder abzurollen und zum Trocknen aufzuhängen. Einige waren direkt vom Übungsplatz zum Landgasthof Löwen gefahren, die Übrigen würden später dazustoßen, um die Übung zu besprechen und ordentlich zu begießen.
»Ist ja alles flott gelaufen«, sagte Peter Messerli, während er die ausgerollten Schläuche aufhängte. »Der Kommandant kann stolz auf uns sein. Es wird Zeit, dass wir endlich mal bei einem Ernsteinsatz beweisen können, dass wir wirklich etwas taugen.«
»Kannst ja selbst mal ein Feuerchen legen.« Bärtschi hatte ein Grinsen im Gesicht. »Aber zünd bloß nicht meine Scheune an!«
»Wie käme ich dazu! Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich bin, dass du mir in deinem Schopf hin und wieder Asyl gewährst.«
Bärtschi nickte. »Gern geschehen. Wo wir schon beim Thema sind: Wie geht es deiner Frau?«
Peter Messerli seufzte theatralisch »Immer noch das alte Lied.« Er zuckte mit den Schultern.
Als die beiden mit den Schläuchen fertig waren, fuhren sie gemeinsam in Bärtschis Auto zum Löwen. Er lag nur einen Katzensprung entfernt, sie hätten gut zu Fuß gehen können. Aber Bärtschi mochte danach nicht noch einmal zurück zum Feuerwehrmagazin marschieren. Er wollte seinen Wagen direkt vor der Tür stehen haben.
In der Gaststube war es etwas kühler als draußen. Und rauchiger. Die Feuerwehrmänner hatten sich zur Feier des Tages Zigarren angezündet, die irgendjemand offeriert hatte. Die Männer hatten sich am Stammtisch niedergelassen, die Stimmung war gerade dabei, von selbstzufrieden in aufgeräumt überzugehen, bevor sie sich auf überdreht steigern würde.
Am Nachbartisch saß ein älteres Paar, das nicht aus dem Dorf stammte. Ihre Gesichtszüge, die sich einander über die Jahrzehnte angeglichen hatten, verrieten, dass sie das Verfallsdatum einer glücklichen Ehe überschritten hatten. Die Frau starrte gelangweilt Löcher in die Luft, der Mann zog an seiner Tabakpfeife und studierte die Boulevardzeitung Blitz. Er hielt das Blatt aufgeschlagen in den Händen. Als Bruno Bärtschi hinter Peter Messerli zur Tür hereintrat und zum Stammtisch hinüberging, fiel sein Blick auf die aufgeschlagene Seite: Renate Berger sah ihm direkt in die Augen.
»Ein neuer Jack the Ripper auf dem Drogenstrich?«, stand fett gedruckt über der leicht unscharfen Fotografie des mutmaßlichen Opfers. Auch Peter Messerli stach die Schlagzeile ins Auge.
»Hast du gehört, jemand hat eine Hure ermordet, oben in Bern«, kommentierte Messerli.
»Das interessiert mich nicht.« Bärtschi zuckte bloß mit den Schultern.
Sie setzten sich zu den anderen an den Stammtisch und bestellten bei Rosa zwei große Gläser Bier. Der Hurenmord war hier kein Thema, die rauchgeschwängerte Diskussion drehte sich um die Übung der Feuerwehr, die Ausrüstung, die es zu erneuern galt, und um den Geschmack der offerierten Zigarren.
Zur gleichen Zeit an einem anderen Ort war der Mord das Dauerthema; die Frauen in Claudia Schütz’ Straßenbus auf der Bundesgasse in Bern sprachen über nichts anderes. An diesem Abend herrschte Hochbetrieb in dem kleinen umgebauten Wohnmobil. So viele Gäste wie heute hatte sie schon lange nicht mehr gehabt. Alle hatten den Artikel über den Hurenmörder gelesen, mehr als eine hatte die Seite herausgerissen und mitgebracht. Zwar stand im Zeitungsbericht nicht viel mehr, als sie alle schon wussten, nämlich dass Renate Berger vermisst wurde. Aber die reißerische Schlagzeile und der Vergleich mit dem legendären Prostituiertenmörder Jack the Ripper hatten für zusätzliche Aufregung gesorgt. Zumal der Blitz-Reporter in seinem Artikel akribisch die vergangenen Fälle auflistete, in denen Serientäter gemordet hatten – und keinen Zweifel daran ließ, dass auch in diesem Fall der Täter wieder zuschlagen würde. Und zwar eher heute als morgen.
Im Moment saßen im Bus sieben Stricherinnen um den kleinen Klapptisch herum, eng beieinander, sie hatten kaum genügend Platz.
»Glaubt ihr, dass er heute da draußen ist?«, fragte eine junge Frau, der man ansah, dass sie vor noch nicht sehr langer Zeit so weit unten angekommen war.
Sie hieß Corina, war gerade mal achtzehn und hatte lange blonde Haare, die ihren Glanz noch nicht verloren hatten. Unter einer dicken Schicht Schminke und zu viel greller Farbe versteckte sich ein Kindergesicht. Eine kleine Stupsnase, blaue Augen, volle Wangen. Noch waren ihre Gesichtszüge nicht kantig und mager und eingefallen wie die vieler anderer Frauen in ihrem Geschäft. Doch die Einstichpunkte an ihren Armen verrieten, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie sich äußerlich nicht mehr von ihnen abheben würde.
»Der soll mir nur zwischen die Finger kommen, den werd ich fertigmachen«, spottete Tatjana, die wirklich ein wenig zum Fürchten aussah. Ihre Augen lagen in tiefen Höhlen, als blickten sie einem aus weiter Ferne durch ein Guckloch entgegen. Darunter zeichneten sich dunkle Schatten ab, wie aufgemalt. Tatjanas Einwurf kam in der ungewöhnlichen Frauenrunde gar nicht gut an.
»Was laberst du da? Du weißt genau, dass wir keine Chance hätten. Renate Berger war schließlich auch eine, die sich zu wehren wusste«, meldete sich eine dritte Stricherin zu Wort. Carmen war ein alter Hase, sie trieb sich seit Jahren auf dem Drogenstrich herum.
»Was würdest du denn tun, wenn du merkst, dass dein Freier der Mörder ist?«, wollte Corina wissen.
Man merkte ihr an, dass sie Angst hatte, heute Nacht dort draußen zu stehen. Sie hing noch an ihrem Leben, was in dieser Szene nicht auf alle zutraf.
»Du kannst rein gar nichts machen, dann ist es zu Ende, aus, vorbei«, antwortete Jil, die bislang geschwiegen hatte.
Carmen widersprach: »Wenn du kein gutes Gefühl hast, steig einfach nicht ein, vertrau auf deinen Instinkt.«
»Instinkt? Meiner ist mir bereits vor Jahren abhandengekommen«, sagte Tatjana, die gerade eben noch behauptet hatte, dass sie sich schon würde zu wehren wissen.
Auch die Sozialarbeiterin Claudia Schütz machte sich größte Sorgen.
»Ich sage euch, was ich seit Renates Verschwinden zu allen Frauen sage, die bei mir im Bus vorbeikommen«, wandte sie sich an die kleine Runde. »Fahrt nach Hause, beschafft euch das Geld irgendwie anders, aber geht nicht an dieser verdammt gefährlichen Straße anschaffen. Und wenn ihr es trotzdem tut, was ich befürchte, dann haltet zumindest die Augen offen und achtet aufeinander. Schaut, wer bei wem einsteigt. Und schaut so, dass die Freier merken, dass ihr wachsam seid, dass ihr sie beobachtet, dass ihr euch ihre Autonummern merkt. Passt bitte auf euch auf, auch ein bisschen mir zuliebe.«
Stille breitete sich aus im Raum und machte ihn damit noch enger. Die Frauen schwiegen betroffen. Sie tranken den Kaffee in ihren Plastikbechern aus und sprachen nicht mehr viel – vor allem nicht mehr über Renate Berger und den möglichen Mörder. Eine nach der anderen verabschiedete sich und verließ den Bus. Sie glaubten, keine andere Wahl zu haben, als sich auch in dieser Nacht den Freiern zu stellen, um an Geld für ihre Drogen zu kommen. Nur die Jüngste der sieben Frauen zögerte lange, bis sie aufstand, um auf die Straße zurückzukehren.
»Fahr nach Hause, bitte, wende dich an die Beratungsstelle, es ist noch nicht zu spät.« Claudia Schütz sprach eindringlich auf Corina ein.
»Vielleicht tue ich das sogar«, sagte sie und verschwand in der bleischweren Nacht.
Am Himmel war kein einziger Stern zu sehen, auch vom Mond fehlte jede Spur. Nach dem schönen, heißen Sommertag hatten sich schwere Wolken über die Stadt geschoben und ihr einen Deckel aufgesetzt. Sie hatten kühlen Wind gebracht. Man konnte den Regen schon riechen, der folgen würde. Petra stand an jenem Platz, an dem sie immer stand, und ihre Gedanken ließen ihr keine Ruhe. Was, wenn er heute Nacht wiederkommt? Was, wenn er bei mir anhält?, fragte sie sich immer wieder. Ein schwarzer Audi mit Berner Nummernschild fuhr das fünfte Mal an ihr vorbei. Es saßen zwei Männer darin. Jede Frau auf dem Strich erkannte auf den ersten Blick, dass es Polizisten waren, aber beruhigen konnte sie die Präsenz der Bullen nicht. Auf den Audi folgte ein silberner Peugeot 305. Auch er fuhr nicht zum ersten Mal an Petra vorbei. Heute schaute sie in jedes Auto hinein. Den Fahrer des Peugeot hatte sie nie zuvor gesehen. Als der Wagen auf ihrer Höhe abbremste, dachte sie: Bitte, fahr weiter, halte nicht bei mir. Unwillkürlich wandte sie sich ab, und der Fahrer tat ihr den Gefallen und suchte das Weite.
In der Gaststube des Löwen in Heimiswil ging es derweil heiter zu und her, hier drin war vom Wetterwechsel nichts zu spüren, von den schweren Wolken, die sich über den Hügeln des Emmentals ein Rennen lieferten, vom Unwetter, das lauernd auf seinen Auftritt wartete. Draußen begann der Donner zu grollen, die ersten Blitze züngelten an den Baumwipfeln der Wälder. Der Wind spielte sein Spiel mit den Blättern, ließ sie rauschen und im Rhythmus wiegen, verwandelte sie in ein Symphonieorchester, mal flüsternd, mal tobend. Für Bruno Bärtschi war es ein guter Abend. Seine Feuerwehrkameraden hatten ihn nach seinem Rumänien-Trip gefragt, und er hatte dick aufgetragen. Er stand zu seiner Freude wieder einmal im Mittelpunkt. Jetzt aber, wo die meisten nicht mehr nüchtern und für seinen Geschmack etwas allzu lustig waren, drängte es ihn zum Aufbruch. Er wollte endlich wieder einmal seine Lust befriedigen, es war an der Zeit, er brauchte eine Frau. Doch als er sich von seinen Kameraden verabschieden wollte, hielten sie ihn zurück.
»Du willst jetzt sicher nicht schon gehen!«, moserte Ruedi König.
Er hatte noch immer etwas Farbe im Gesicht; von seiner Kopfverletzung, die ihm eine Samariterin aufgemalt hatte, damit er den Verletzten authentisch spielen konnte. Obwohl niemand wirklich verstanden hatte, wie er bei dem imaginären Zimmerbrand, der in der Übung stattgefunden hatte, zu dieser blutigen Kopfverletzung gekommen sein mochte.
»Jetzt nimm noch einen. Rosa! Noch ein Bier für Bärtschi.«
Bruno Bärtschi saß eingeklemmt zwischen zwei Kollegen auf der Bank hinter dem Stammtisch und wusste sich nicht zu wehren. Er wollte nicht widersprechen, war nicht gerne Spielverderber.
»So, wie du mich heute heldenhaft aus diesem brennenden Haus gerettet hast – da darf ich dir doch wohl noch einen spendieren.« König lachte und hob sein Glas, als Rosa ein neues Bier für Bärtschi brachte. »Prost – auf meinen Lebensretter!«
Bärtschi prostete zurück und grinste. Obwohl Ruedi König eigentlich nur scherzte, fühlte er sich doch geschmeichelt.
Am Stammtisch lieferten sie sich mit Worten weitere Gefechte. Hier wurde Politik betrieben. Thema war die Stadtpräsidentenwahl, die unten in Burgdorf am kommenden Wochenende anstand. Erstmals hatte eine Frau reelle Chancen zu gewinnen, zur ersten Stadtpräsidentin gewählt zu werden. Aber sie sprach einen eigenartigen Dialekt; sie war keine Hiesige. Und vor allem: Sie war eine Linke. Ihr Gegenkandidat war bis vor Kurzem Mitglied der SVP gewesen, der rechtsbürgerlichen Schweizerischen Volkspartei. Er wäre damit für die Landwirte die Nummer eins gewesen. Sie wählten alle immer die SVP, klar rechts, klar konservativ, klar bäuerlich. Nur war ebenjener SVP-Kandidat aus Burgdorf kurz vor der Wahl aus seiner Partei ausgetreten, um sich der abgespaltenen Bürgerlich-Demokratischen-Partei BDP anzuschließen. Die neu gegründete Partei hatte sich nach dem Eklat bei den letzten Bundesratswahlen von der SVP abgesplittert – als die Bundesversammlung den amtierenden und höchst umstrittenen SVP-Bundesrat abgewählt und stattdessen eine Bündner SVP-Frau neu in die Landesregierung gehievt hatte, die daraufhin von der SVP kurzum – und in den Augen der meisten Heimiswiler völlig zu Recht – zusammen mit ihrer ganzen Kantonalpartei aus den eigenen Reihen verstoßen worden war. Jetzt bildete die neue Bundesrätin gemeinsam mit ihren Anhängern, die schon von jeher Mühe mit dem »rüden« Umgangston der SVP bekundeten, die neue BDP.
»Eine Wischiwaschi-Partei«, kommentierte Peter Messerli.
»Ich weiß nicht, ob ich diesem Verräter, diesem BDP-Kandidaten meine Stimme noch geben könnte. Das ist doch nicht gradlinig, so ein Aus- und Übertritt. Ein Wendehals!«
»Willst du denn so eine Linksversiffte zur Stadtpräsidentin wählen?«, konterte Bärtschi. »Das kann ja wohl nicht dein Ernst sein.«
Bärtschi erntete reihum Zustimmung. Das käme für die meisten in dieser Runde keinesfalls infrage. Nur, sie waren stimmberechtigt in Heimiswil, wo sie ihre SVP-Mitglieder auf sechs von sieben Gemeinderatssitze gehievt hatten. In Burgdorf hingegen hatten sie rein gar nichts zu melden.
Als Bärtschi sein Bier ausgetrunken hatte, erklärte er mit fester Stimme, dass er nun wirklich gehen müsse, ohne Wenn und Aber. Er sei müde, habe morgen einen anstrengenden Tag vor sich. Er legte das Geld für seine Konsumationen auf den Tisch und verabschiedete sich von der Runde. Peter Messerli stand träge auf, noch immer unwillig, Bruno Bärtschi Platz zu machen. Er hielt ihn noch kurz am Ärmel zurück.
»Bruno, ich wäre froh, wenn ich am Freitag freie Bahn hätte, ich hab da was am Laufen«, raunte er ihm zu, so leise, dass ihn die anderen nicht hörten.
Bärtschi nickte. Er würde dafür sorgen, dass sie sich nicht in die Quere kamen.
In dem Moment, als Bärtschi aus dem Löwen hinaus in die Nacht trat, erhellte ein Blitz den Himmel. Die Tannen hoben sich dunkel vom erleuchteten Himmel ab. Ein Schattenschnitt. Kurz darauf krachte ein Donner. Das Unwetter war nah. Die ersten fetten Regentropfen schmetterten auf den Boden. Es roch nach warmem Asphalt; der Geruch des Sommerregens. Bärtschi rannte über den Parkplatz und setzte sich in seinen Subaru. Gerade noch geschafft, ohne durchnässt zu werden. Er startete den Motor und schaltete die Scheibenwischer ein.
Petra fluchte. Jetzt begann es auch noch zu regnen. Bislang hatte es für sie an diesem Abend noch keine Arbeit gegeben. Sie wusste, dass das nicht so bleiben konnte. Mindestens einen Freier musste sie heute bedienen, sonst würde ihr die Kohle ausgehen. Sie hasste es, wenn sie den Turkey bekam, konnte es schon nicht ertragen, wenn sich die ersten Entzugserscheinungen bemerkbar machten. Sie fand, auch hierfür sei sie mittlerweile zu alt. Dass das Geschäft heute nicht lief, hatte mehrere Gründe. Aufgrund der Medienartikel über die verschwundene Stricherin hielten sich die Freier zurück – weil sie fürchteten, von der Polizei kontrolliert zu werden. Der zweite Grund war Petra selbst. Sie hatte sich bei zwei weiteren Fahrern, die bei ihr halten wollten, ablehnend weggedreht. Sie fürchtete sich eben doch, auch wenn sie sich das nicht eingestehen wollte. Doch das nächste Mal, nahm sie sich vor, würde sie standhaft bleiben, freundlich lächeln, vielleicht sogar winken. Möglicherweise verhielt es sich wie bei einem Sturz vom Pferd: Man musste danach gleich wieder aufsteigen, um die Angst zu überwinden.
Als Petra weiter vorne auf der Straße einen grünen Subaru in ihre Richtung fahren sah, atmete sie erleichtert auf. Ein altbekannter Wagen eines altbekannten Freiers. Besser konnte sie es heute nicht mehr treffen. Bruno war zwar nicht gerade ihr Lieblingsfreier, immer gab es Diskussionen um den Preis, und er war auch schon mal grob geworden. Doch bei Bruno wusste sie zumindest, mit wem sie es zu tun hatte und dass sie nicht bei einem unbekannten Mörder in den Wagen stieg. Petra stellte sich ganz vorne an den Gehsteig, winkte Bruno schon früh zu. Mochte er sich doch bitte, bitte heute wieder einmal für sie entscheiden.
Der Subaru bremste ab, Petra öffnete die Tür, kaum hatte der Wagen angehalten. Sie nahm sich gar nicht die Zeit, mit Bruno durchs Fenster über den Preis zu diskutieren.
»Guten Abend, Bruno, schön, dich zu sehen«, sagte sie und meinte es sogar ehrlich.
»Danke, gleichfalls«, erwiderte Bruno Bärtschi grinsend und fuhr los.