Lisa Kunz wälzte sich im Bett. Der Schlaf wollte einfach nicht kommen. Sie hörte den Regen aufs Vordach prasseln, etwas weiter weg grollte der Donner. Marc hatte ihr den Rücken zugedreht und schlief tief und fest. Sie fand das ungerecht. Schon wieder hörte sie die Glocke der Dorfkirche schlagen. Drei träge Klänge, die die Dreiviertelstunde ansagten. Wenn sie richtig gezählt hatte, musste jetzt Viertel vor drei sein. Sie lag seit über zwei Stunden wach, obwohl sie hundemüde war. Sie ärgerte sich über den Schlaf, der sich weigerte, sie aufzunehmen und ihr die nötige Ruhe zu gönnen, ärgerte sich so sehr, dass sie immer wacher wurde. Ihr Kopf war zu voll, zu viele Gedanken. Immer wieder ging ihr der Fall der vermissten Renate Berger durch den Kopf. Nicht nur sie, auch die anderen im Team waren sicher, dass sie tot sein musste. Nur: Wo war ihre Leiche? Lisa Kunz zerbrach sich den Kopf darüber, wo sie nach der Leiche suchen könnten, wen sie noch befragen mussten, wann sich endlich ein Hinweis ergeben würde. Denn bis heute, Lisa Kunz musste der Tatsache ins Gesicht sehen, bis heute hatten sie nicht die geringste Spur.
Ich muss diesen Fall aufklären, verflucht!, dachte sie. Gerade als Frau musste sie sich ganz besonders für diese wahrscheinlich tote Prostituierte einsetzen – da ein Mann in ihrer Position dies nicht mit dem gleichen Herzblut und mit der gleichen Hartnäckigkeit täte. Aber womöglich täuschte sie sich. Vielleicht war bereits beim Tötungsdelikt an der Stricherin Karin Wälti alles in Gang gesetzt worden, um den Täter zu fassen. Nur war es schlicht nicht möglich gewesen, ihn zu kriegen. So, wie es vielleicht auch in ihrem Fall niemals möglich sein würde. Lisa Kunz mochte gar nicht daran denken.
Es war nicht nur die Unerträglichkeit des Scheiterns, die ihr zu schaffen machte. Sie befürchtete, dass der Mann, der Renate Berger umgebracht hatte, auch Karin Wälti auf dem Gewissen hatte. Und dass er wieder zuschlagen würde. Fast so, wie es der Journalist des Revolverblattes Blitz geschrieben hatte. Sie hätte sich ein sachlicheres Medienecho auf das knappe Kommuniqué erwünscht, das sie gemeinsam mit einem ihrer Mediensprecher verfasst hatte. Aber vielleicht erzielte der reißerische Artikel im Blitz mehr Wirkung als eine sachliche Meldung. Vielleicht würde sich doch noch ein wichtiger Zeuge, eine wichtige Zeugin melden. Vielleicht war dadurch aber auch bloß der Täter gewarnt worden. Der wird sich wahrscheinlich in nächster Zeit nicht mehr auf dem Straßenstrich blicken lassen, dachte Lisa Kunz und wälzte sich schon wieder auf die andere Seite.
Als um halb sieben der Wecker schrillte, realisierte Lisa Kunz, dass sie irgendwann doch noch eingeschlafen sein musste. Dem Gefühl nach erst vor ungefähr zehn Minuten. Ihre Augenlider hatten sich in bleierne Deckel verwandelt, ihre Knochen schienen über Nacht spröde und brüchig geworden zu sein. Sie fühlte sich völlig zerschlagen. In der Küche hörte sie ihren Mann rumoren. Einen kurzen Moment lang hegte sie die Hoffnung, er würde ihr ein wohlduftendes Frühstück ans Bett bringen. Stattdessen steckte er bloß den Kopf durch die Schlafzimmertür.
»Du bist wach!«, stellte er munter fest.
»Richtig! Du kriegst hundert Punkte. Oder eher fünfzig; halb wach trifft es besser«, gab sie müde zurück.
»Besser als nichts!«
Marc trat ans Bett und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie vermieden es, sich früh am Morgen auf den Mund zu küssen. Sie konnten beide auf den abgestandenen Mundgeruch des anderen verzichten.
»Ich wünsche dir einen guten Tag und viel Erfolg. Schnapp den Mörder!«
Noch bevor Lisa etwas erwidern konnte, war Marc weg. Sie hörte noch, wie die Tür hinter ihm ins Schloss fiel. Also kein Frühstück am Bett.
Wie kann man so früh schon so fit sein?, fragte sich Lisa Kunz und stellte einmal mehr fest, dass sie und ihr Mann Marc unterschiedlicher nicht sein könnten. Schon seltsam, dass sie trotzdem zueinandergefunden hatten. Und vor allem, dass sie nach all den Jahren immer noch zusammen waren.
Lisa Kunz gab sich einen Ruck, warf ihr T-Shirt, in dem sie geschlafen hatte, im Badezimmer in die Ecke und stellte sich lange unter die warme Dusche. Sie drehte das Wasser kurz auf kalt, um sich dann noch einmal eine warme Phase zu gönnen. Danach schlüpfte sie in Jeans und Shirt und machte sich ihr Frühstück, Haferflocken mit Milch und ordentlich Zucker, dazu ein Glas Orangensaft.
»Auf in den Tag!«, sagte sie laut, als sie sich wenig später mit einem kurzen Kopfkraulen von ihrer Hündin verabschiedete, zum Schlüssel griff und die Wohnung verließ.
Im Büro erwarteten sie auf ihrem Schreibtisch die verschiedenen Berichte der Sonderkommission Todesstrich. Sie fand jedoch auch eine handschriftliche Notiz des Polizeikommandanten Martin Schürch mit der Aufforderung, sich bei ihm zu melden. Sofort machte sie sich Sorgen, dass er ihr Vorgehen kritisieren und ihre Leute vom Fall abziehen wollte, weil sie noch immer nichts vorweisen konnten, das darauf hindeutete, dass es hier tatsächlich um Mord ging. Getreu ihrem Motto, sofort zu erledigen, was man sofort erledigen konnte, wählte sie die interne Nummer des Kommandanten.
»Anselmo«, sagte eine Frauenstimme am anderen Ende der Leitung. Schürchs Assistentin.
»Hallo, Anita, hier Lisa Kunz, ist Martin zu sprechen?«, fragte Lisa Kunz, obwohl sie die Antwort bereits kannte. Wäre er erreichbar gewesen, wäre er selbst rangegangen.
»Er sitzt heute den ganzen Vormittag in einer Besprechung mit dem Regierungsrat«, antwortete Anita Anselmo. »Versuch es am Nachmittag noch einmal.«
Kaum hatte Lisa Kunz den Hörer aufgelegt, klingelte das Telefon. Günther Schwarz meldete sich, der Staatsanwalt. Vom Regen in die Traufe, schoss es ihr durch den Kopf, sie begrüßte ihn übertrieben freundlich.
»Ich wollte mich erkundigen, wie weit du im Vermisstenfall Renate Berger bist.«
»Ich bin mir jetzt sicher, dass es sich nicht bloß um einen Vermisstenfall handelt, sondern dass wir es mit einem Tötungsdelikt zu tun haben.« Lisa Kunz bemühte sich, zuversichtlich zu klingen. Sie wollte sich nichts von ihren eigenen Zweifeln anmerken lassen.
»Das klingt nach einer heißen Spur«, sagte Schwarz am anderen Ende der Leitung.
Wahrscheinlich hatte sie etwas zu zuversichtlich geklungen.
»Na ja, so kann man es noch nicht gerade nennen.«
»Das heißt konkret?«
»Wir haben eine Zeugin, die gesehen hat, wie Renate Berger in der Nacht ihres Verschwindens auf dem Drogenstrich in ein Auto gestiegen ist. Aber wir haben weder Marke noch Farbe noch Kennzeichen des Fahrzeugs und natürlich auch keinen Namen oder Personenbeschrieb des Fahrers. Also, eigentlich haben wir wenig bis gar nichts, nur die Gewissheit, dass da draußen irgendwo die Leiche von Renate Berger liegt.«
»Warum bist du dir da so sicher?«, hakte Staatsanwalt Schwarz nach.
»Weil ich alle anderen Möglichkeiten ausschließe«, antwortete Lisa Kunz bestimmt.
»Wie lange willst du die Sonderkommission aufrechterhalten und dermaßen viel Energie in diesen einen Fall stecken? Es gibt nicht mal eine Leiche …«
Sie hatte mit dieser Frage gerechnet. Sie musste auf Zeit spielen. »Das kann ich noch nicht abschätzen, ich muss die nächste Besprechung abwarten.«
Es war viel zu früh, um schon aufzugeben, zu früh, um den Aufwand bereits zu reduzieren.
»Wir haben noch andere Fälle, in denen viel Arbeit ansteht und die wir nicht vernachlässigen dürfen«, mahnte Schwarz. »Insbesondere der Juwelenraub macht mir Sorgen. Der Ladenbesitzer befindet sich noch immer im Spital, und die Medien machen Druck, weil wir die Täter immer noch nicht gefasst haben.«
Lisa Kunz wusste selbst, dass sie die anderen Fälle einfach links liegen gelassen hatte. Aber der Fall Berger war ihr wichtig. Falls es sich wirklich um ein Tötungsdelikt handelte, lieferten sie sich mit dem Täter ein Rennen gegen die Zeit. Dann ging es nicht nur darum, einen Fall zu lösen – sondern auch darum, weitere Tötungsdelikte zu verhindern. Sie beschloss, Günther Schwarz bis auf Weiteres zu vertrösten.
»Hör mal, Günther, heute Nachmittag haben wir eine Teambesprechung, danach kann ich dir mehr sagen. Ich halte dich auf dem Laufenden.«
Lisa Kunz hatte die Sitzung erneut auf fünfzehn Uhr angesetzt. Die fehlenden Ermittlungserfolge schlugen auf die Stimmung des gesamten Teams. Jeder schien bedrückt, sodass schon im Voraus klar schien, dass auch heute niemand mit großen Neuigkeiten aufwarten konnte. Diesmal begann Sandro Bandini mit seinem Bericht.
»Die Befragung der Eltern hat uns nicht weitergebracht«, erzählte er. »Sie haben ihre Tochter seit fast zwei Jahren nicht mehr gesehen und konnten uns überhaupt nicht sagen, wie sie lebte.«
Felix Winter hatte den Hausarzt von Renate Berger ausfindig gemacht, doch auch ihn hatte sie seit längerer Zeit nicht aufgesucht.
»Die Auswertung ihrer Bankdaten bringt uns ebenfalls nicht weiter«, erklärte Winter resigniert. »Sie hatte ein Konto bei der Kantonalbank, von dem vor vier Monaten das letzte Mal Geld abgehoben wurde. Seither ist es leer. Ihr Postkonto wurde ihr vor zwei Monaten gesperrt, weil sie es einmal zu viel mit einem zu hohen Betrag überzogen hatte.«
Lisa Kunz bedankte sich und gab das Wort weiter an Walter Steffen, der gemeinsam mit einem Kollegen die Handykontakte von Renate Berger durchgegangen war.
»Wir sind auf siebenundzwanzig Namen und Nummern gestoßen. Zwei davon waren nicht mehr gültig. Da es sich bei diesen beiden um alte Prepaid-Nummern handelte, konnten wir die Halter nicht ausfindig machen. Als die Nummern gelöst wurden, gab es noch keine Registrierungspflicht, danach sind sie wohl einfach ausgelaufen. Die anderen fünfundzwanzig Kontakte konnten wir zuordnen. Einige gehören Personen und Institutionen, die bereits von uns befragt worden sind. Die Eltern, die Drogenberatungsstelle, sogar die Nummer des Hausarztes war gespeichert.«
Unterm Strich blieben der Polizei neunzehn neue Namen von Personen, die sie zu überprüfen hatten. Dabei handelte es sich bei den meisten um frühere Freundinnen und Bekannte, die Renate Berger in den letzten vier Monaten nicht mehr kontaktiert hatte. Sie hatten mit ihr verkehrt, bevor sie wieder abgestürzt und erneut im Drogensumpf versunken war.
»Renate Berger muss vorher, als sie einzig Methadon konsumiert hat, ein weitgehend normales Leben geführt haben«, erzählte Steffen. Die Freundinnen hätten berichtet, dass sie sich öfter getroffen hatten, gemeinsam mit den Kindern. »Ihr Umfeld wusste zwar von ihrer Drogenkarriere, aber sie waren sich alle sicher, dass sie den Ausstieg für immer geschafft hatte – bis Renate vor circa vier Monaten den Kontakt mit ihnen abbrach und sie vom Gegenteil überzeugt wurden.«
Walter Steffen rapportierte weiter, dass drei der gespeicherten Nummern Freiern von Renate Berger gehörten, sozusagen Stammkunden, die sich regelmäßig von ihr bedienen ließen. Auch abseits des Drogenstrichs.
»Wir haben die drei Personen überprüft, sie sind polizeilich nicht vorbestraft, und zwei der drei verfügen für die entsprechende Montagnacht über ein Alibi. Die Alibis haben wir bereits überprüft, sie sind stichfest. Der dritte Freier lebt seit einiger Zeit in Sizilien und fällt so wohl ebenfalls außer Betracht.«
Lisa Kunz bedankte sich und blickte ein wenig ratlos in die Runde.
»Nicht viel Neues«, resümierte sie niedergeschlagen. »Liegen die Auswertungen der rückwirkenden Teilnehmeridentifikation der Mobiltelefone bereits vor?«
»Nein, ich sollte sie aber noch heute erhalten. Ich melde mich bei dir, sobald ich sie habe.« Die Antwort kam von Sandro Bandini.
»Wir haben noch immer keine Meldung über eine gefundene Frauenleiche?«
Diesmal erhielt Lisa Kunz keine Antwort, nur Kopfschütteln von ihren Teammitgliedern. Sie seufzte, laut genug, dass es die anderen hören konnten.
»Ich hab heute einen Anruf von Staatsanwalt Schwarz bekommen, der sich beklagte, dass wir die anderen hängigen Fälle vernachlässigen. Wir werden die Überwachung auf dem Drogenstrich einstellen und an die Sitte delegieren. Auch alle anderen kümmern sich ab morgen wieder um jene Fälle, an denen sie vor dem Verschwinden von Renate Berger gearbeitet haben – außer, es gibt bis heute Abend neue Erkenntnisse. Ich werde euch auf dem Laufenden halten. Bleibt bitte abrufbereit.«
Als Lisa Kunz das Gespräch mit Schwarz erwähnte, fiel ihr ein, dass sie den Polizeikommandanten anrufen musste. Sie verabschiedete sich von ihren Kollegen und zog sich in ihr Büro zurück. Lisa Kunz fühlte sich, als hätte sie gerade ein entscheidendes Match verloren. Aber mehr konnten sie im Moment nicht tun. Sie hatten keinen Anhaltspunkt, wo sie nach der Leiche der Vermissten suchen sollten. Sie konnte überall sein – und nirgends. Sie hatten noch nicht einmal einen Beweis dafür, dass Renate Berger tot war. Lisa Kunz zermarterte sich den Kopf darüber, ob sie etwas übersehen hatte, ein Detail, einen winzigen Hinweis, der sie weiterbringen könnte. Es fiel ihr einfach nichts ein. Ihr Kopf war leer. Sie fürchtete, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als darauf zu hoffen, dass sich endlich Kommissar Zufall einschaltete und ihnen weiterhalf. Zum Beispiel, indem er einen Wanderer über die Leiche stolpern ließ. Es behagte ihr gar nicht, dass sie in ihrem ersten großen Fall so kläglich zu scheitern drohte.
»Scheiße!«, sagte sie laut.
Dann griff sie zum Telefon, um Günther Schwarz und den Polizeikommandanten Schürch über den aktuellen Stand zu informieren.
Als sie die unangenehme Pflicht erledigt hatte, beschloss sie, etwas früher nach Hause zu gehen. An den letzten Tagen war sie fast gar nicht daheim gewesen. Sie wollte gerade ihre Sommerjacke überziehen, da klopfte es an die Tür.
»Herein.«
Sandro Bandini trat herein, in der Hand einen Stapel Papiere.
»Komme ich ungelegen?«, fragte er, als er sah, dass seine Chefin gerade aufbrechen wollte.
»Die Telefonliste?« Lisa Kunz hängte die Jacke wieder zurück in den Schrank.
»Genau.« Sandro Bandini breitete die Unterlagen auf dem runden Tisch aus, der mitten in ihrem großen Büro stand.
»Mathias Balmer hat uns die Wahrheit gesagt: Tatsächlich hat er nach dem Verschwinden von Renate Berger mehrmals täglich versucht, sie zu erreichen.« Sandro zeigte mit dem Finger auf die Nummer von Balmer, die mehrfach auf der Liste erschien.
Lisa Kunz war nicht überrascht. Sie hatte nicht das Gefühl gehabt, dass Balmer log.
»Renate Berger trug am Tag ihres Verschwindens ein Handy bei sich«, fuhr Bandini fort. »Bei ihrer Nummer bin ich auf eine Merkwürdigkeit gestoßen, die ich zunächst nicht verstanden habe. Ich musste mich bei der Swisscom erkundigen, was diese seltsamen Einträge zu bedeuten haben.«
Sandro Bandini zeigte auf mehrere Einträge, die mit »SMS« überschrieben waren und in regelmäßigen Abständen auf der Liste auftauchten. Es sah fast danach aus, als hätte Renate Berger in der Nacht ihres Verschwindens exakt alle sechs Minuten mit ihrem Mobiltelefon eine Kurznachricht versandt. Und zwar immer an denselben Empfänger. Doch die Nummer, an die die SMS verschickt worden waren, sah eigenartig kurz aus.
»Der Sachbearbeiter der Swisscom hat mir erklärt, dass Renate Berger höchstwahrscheinlich ein Fehler unterlaufen ist. Sie wollte zwar tatsächlich eine SMS senden, da sie aber eine ungültige Nummer eingegeben hatte, ist die SMS nicht rausgegangen. Und so probierte ihr Handy selbstständig alle sechs Minuten von Neuem, die SMS zu verschicken.«
Lisa Kunz verstand nicht, was das genau zu bedeuten hatte. Sie zog die linke Augenbraue hoch.
»Sie wird diesen Vorgang gar nicht bemerkt haben«, führte Sandro aus, »das Gerät hat die falsche Nummer immer wieder automatisch eingestellt. Was dazu führte, dass ihr Handy alle sechs Minuten ein Signal aussandte.« Sandro Bandini grinste zufrieden. »Und das bedeutet …«
»Dass wir ihrer Spur folgen können!«, beendete Lisa Kunz seinen Satz. Sie hätte am liebsten einen Freudensprung gemacht. Endlich hatten sie etwas in der Hand.
»Ganz genau, allerdings nur bis zu einem gewissen Punkt«, relativierte Sandro Bandini. »Das Signal ist circa eineinhalb Tage nach ihrem Verschwinden erloschen. Wahrscheinlich war der Akku leer.«
Sandro Bandini faltete eine Übersichtskarte der Antennenstandorte im Kanton Bern auf und legte sie auf den Tisch. Gemeinsam verglichen sie die Angaben auf dem Telefonauszug mit denjenigen auf der Karte. In der Nacht ihres Verschwindens hatte sich Renate Berger bis um 3.46 Uhr in der Stadt Bern aufgehalten. Das Handy, das ab etwa 2 Uhr früh immer wieder automatisch versuchte, die SMS zu verschicken, war abwechselnd von zwei Antennen im Zentrum der Stadt Bern erfasst worden. Das wies darauf hin, dass sich Renate Berger in einem kleinen Radius innerhalb der Stadt bewegte, wahrscheinlich in der Bundesgasse und in der näheren Umgebung, wenn sie Freier bediente. Ab 3.46 Uhr jedoch verschob sich der Standort ihres Gerätes kontinuierlich. Lisa Kunz merkte, dass auch Sandro Bandini angespannt war, als sie gemeinsam die aufgeführten Mobilfunkantennen auf der Standortkarte suchten. Um 3.52 Uhr hatte die Antenne von Schönbühl, einem Vorort von Bern, ein Signal von Renate Bergers Handy empfangen. Um 3.58 Uhr befand sie sich irgendwo im Einzugsbereich der Antenne von Lyssach. Lyssach lag ebenso wie Schönbühl an der Autobahn Richtung Zürich, eine Viertelstunde von Bern entfernt.
»Wieso fährt eine Prostituierte vom Strich aus Bümpliz mitten in der Nacht Richtung Zürich?«, fragte Lisa Kunz laut.
Sandro Bandini wies sie auf den nächsten Eintrag hin.
»Burgdorf-Ost«, sagte er, »um 4.04 Uhr.«
Falls sie auf der Autobahn Richtung Zürich gefahren war, musste sie bei Lyssach die Ausfahrt genommen haben. Denn Burgdorf lag, quasi als Tor zum Emmental, etwas abseits von der Autobahn A1, der Hauptverbindung zwischen Zürich und Bern. Um 4.10 Uhr dann wiederum eine Änderung: Um diese Zeit hatte die Antenne, die auf der Lueg stand, ein Signal aufgezeichnet. Die Lueg war ein höherer Hügel im Emmental, fast schon ein kleiner Berg, der sich zwischen Wynigen, Affoltern, Burgdorf und Heimiswil erhob. Die Antenne auf der Anhöhe hatte einen großen Einzugsbereich. Danach erschien auf der Liste noch einmal die Burgdorfer Antenne, um 4.22 Uhr wieder jene von der Lueg. Dann bewegte sich das Handy nicht mehr. In regelmäßigen Abständen hatte das Gerät von Renate Berger weiterhin versucht, eine SMS zu verschicken. Doch der Standort veränderte sich nicht mehr, es war jedes Mal die Mobilfunkantenne auf der Lueg, die das Signal empfing. Bis es nach eineinhalb Tagen ausblieb. Danach herrschte Funkstille.
»Was bedeutet das?« Lisa Kunz fragte mehr sich selbst als ihren Kollegen.
»Das bedeutet, dass Renate Berger in der Tatnacht von Bern wahrscheinlich über die Autobahn bis nach Burgdorf gefahren ist oder gefahren wurde. Die Antenne auf der Lueg versorgt die Gemeinden Wynigen, Affoltern, Heimiswil und Busswil. Da das Signal ganz zum Schluss zwischen der Antenne in Burgdorf-Ost und jener auf der Lueg hin- und hersprang, nehme ich an, dass sich Renate Berger oder zumindest ihr Handy im Grenzbereich dieser beiden Antennen befand. Oder befindet.«
»Was wiederum bedeutet, dass Renate Berger wohl kaum mehr am Leben ist«, ergänzte Lisa Kunz.
Es war ihre erste heiße Spur. Ihre einzige.
»Wir müssen die Gegend absuchen«, sagte sie zu Sandro Bandini.
Am liebsten hätte sie alles in Bewegung gesetzt, um sofort eine große Suchaktion zu lancieren. Doch es war schon spät, sie musste sich bis morgen früh gedulden. Sie bedankte sich bei Sandro Bandini und wies ihn an, am nächsten Tag die schweren Einsatzstiefel anzuziehen. Als er ihr Büro verlassen hatte, rief Lisa Kunz zunächst Günther Schwarz an, der ihr, wie erwartet, aufgrund der neusten Erkenntnisse grünes Licht für die geplante Aktion gab. Auch den Kommandanten rief sie erneut an; sie brauchte Verstärkung. Martin Schürch nahm den Anruf persönlich entgegen.
»Wir haben eine Spur«, teilte ihm Lisa Kunz mit.
Am liebsten hätte sie die Worte freudig in den Hörer gebrüllt. Stattdessen fasste sie für Martin Schürch kurz und sachlich zusammen, was die Auswertung der rückführenden Teilnehmeridentifikation des Mobiltelefons der Vermissten ergeben hatte und zu welchem Schluss sie gekommen waren.
»Irgendwo in diesem Grenzgebiet der beiden Mobilfunkantennen muss die Leiche von Renate Berger zu finden sein«, schloss sie ihre Ausführungen. »Darum möchte ich morgen das Gebiet systematisch absuchen. Was bedeutet, dass ich Personal brauche.«
»In Ordnung«, sagte Martin Schürch. »Du erhältst dreißig Leute aus unserem Korps, ich werde das noch heute Abend organisieren, sie werden dir ab morgen früh um acht zur Verfügung stehen. Auch unsere beiden Leichenspürhunde gebe ich dir mit. Zudem rufe ich gleich noch die Polizeischule in Hitzkirch an, damit sie uns zwei oder drei Ausbildungsklassen zur Verstärkung schicken. Dann wirst du morgen mit etwa hundert Leuten das Gebiet absuchen können.«
Lisa Kunz bedankte sich bei Martin Schürch und traf die nötigen Vorkehrungen, damit am nächsten Morgen auch das richtige Material bereitstehen würde. Zuletzt schickte sie ihrem eigenen Team eine Mitteilung, in der sie die große Suchaktion ankündigte.
»Morgen werden wir deine Leiche finden, Renate«, sagte sie laut.
Lisa Kunz wollte selbst daran glauben.