Liechti. Ausgerechnet Liechti musste die Vermisste heißen. Jeder fünfte Berner schien diesen Nachnamen zu tragen. Sandro Bandini raufte sich die Haare. Wenn er im elektronischen Telefonbuch den Namen Liechti eingab, erschienen allein im Kanton Bern fast über tausend Einträge. Und da die gesuchte Frau erst achtzehn bis zwanzig Jahre jung war, war die Chance groß, dass sie noch unter dem Namen ihrer Eltern eingetragen war – zumal es eine Corina Liechti im Telefonbuch explizit nicht gab. Bandini nahm sich vor, sich zunächst auf die Liechtis in der Stadt Bern zu konzentrieren. Nach zwei Stunden hatte er fünfunddreißig Personen erreichen können. Doch keine kannte eine Corina Liechti oder erinnerte sich daran, jemanden mit diesem Namen in der näheren oder entfernteren Verwandtschaft zu haben. Bei vielen Anschlüssen war niemand an den Apparat gegangen, bei den meisten konnte Sandro Bandini jedoch eine Nachricht hinterlassen. Wenn ich mit all diesen Nummern durch bin, werde ich noch monatelang Rückrufe von irgendwelchen Liechtis erhalten, dachte Bandini, während er die nächste Nummer wählte.
»Liechti.«
»Guten Tag, Herr Liechti, hier spricht Bandini von der Kantonspolizei Bern. Ich rufe Sie an, weil ich auf der Suche nach einer gewissen Corina Liechti bin. Kennen Sie eine junge Frau mit diesem Namen?«
»Was hat sie angestellt?«, dröhnte es barsch durch die Leitung.
Treffer!, dachte Bandini. »Sie hat gar nichts angestellt.« Er versuchte, einen beruhigenden Ton anzuschlagen. »Wohnt sie bei Ihnen, kann ich sie sprechen?«
Sandro Bandini hoffte, dass der Mann am anderen Ende der Leitung gleich laut nach seiner Tochter rufen und dieser dann den Hörer in die Hand drücken würde. Und dass er, Bandini, mit einer quicklebendigen Corina Liechti sprechen konnte und sich die ganze Angelegenheit als Fehlalarm herausstellen würde.
»Sie ist vor fast einem Jahr ausgezogen. Ich habe sie seither nicht mehr gesehen«, sagte Herr Liechti stattdessen. Der Zorn in seiner Stimme war einer Resignation gewichen.
»Wissen Sie, wo sie sich aufhält?«
»Warum wollen Sie das wissen, wenn sie nichts angestellt hat?«
»Weil wir uns Sorgen um sie machen.«
»Ha!« Da war er wieder, der Klang in der Stimme, in dem sich gleichzeitig tiefe Verletztheit und Frustration spiegelten. Der Tonfall eines Vaters, der enttäuscht war – von seiner Tochter, aber auch von sich selbst, weil er es nicht geschafft hatte, seinen Nachwuchs zu dem zu erziehen, was er sich eigentlich vorgestellt hatte. »Sorgen müssen Sie sich nicht machen!« Der Mann lachte bitter. »Sich Sorgen zu machen, das zahlt sich nicht aus bei Corina. Da werden Sie auf der Verliererseite stehen. Mit dem Mir-Sorgen-Machen habe ich schon längst aufgehört.«
Spätestens jetzt war Sandro Bandini sicher, an die richtige Adresse geraten zu sein: Am anderen Ende der Leitung sprach der Vater jener Corina Liechti, die im Drogenmilieu abgestürzt und seit einigen Monaten auf dem Straßenstrich anschaffen ging.
»Hören Sie.« Bandini bemühte sich noch immer um einen ruhigen Ton. »Wir haben Grund zur Annahme, dass Ihrer Tochter etwas zugestoßen sein könnte, darum müssen wir wissen, wo sie zuletzt gewohnt hat. Können Sie uns bitte ihre Adresse geben oder möglicherweise die Adresse einer Freundin, mit der sie in Kontakt stand?«
Einen Moment lang war es still in der Leitung. So still, dass Bandini meilenweit entfernt Fetzen eines anderen Gesprächs zu hören glaubte. Es war nur eine Andeutung von Stimmen, keine verständlichen Worte.
»Nein, eine Adresse kann ich Ihnen nicht angeben.« Liechtis Stimme klang zu laut. »Ich weiß nur, dass sie einige Wochen im Schlupfloch wohnte. Kennen Sie das?«
Ja, Sandro Bandini kannte das »Schlupfloch«, es war ein Ort, in dem Jugendliche vorübergehend ein Obdach fanden, wenn sie es zu Hause nicht mehr aushielten – oder wenn es die Eltern nicht länger mit ihnen aushielten. Oft waren Drogen der Grund für die innerfamiliären Auseinandersetzungen.
»Aber sie ist nicht mehr dort. Der Leiter des Schlupflochs hat mir mitgeteilt, sie sei abgehauen, weil sie sich nicht an die Hausregeln habe halten wollen«, erzählte Liechti.
Sie hatte weiterhin Drogen genommen, obwohl sie im Schlupfloch tabu sind. Sandro Bandini sprach seinen Gedanken nicht laut aus. Stattdessen fragte er Herrn Liechti, ob seine Tochter harte Drogen konsumiert habe.
»Ich weiß nicht, was sie alles geschluckt hat. Angefangen hat es mit kleinen, bunten Pillen, Aufputschmittel hatte sie sie genannt. Ganz harmlos seien die, hatte sie mir erklärt. Bald jedoch stieg sie um auf Kokain. Gut möglich, dass sie ihr Repertoire noch erweitert hat.« Liechti seufzte laut.
»Bitte, Herr Liechti, überlegen Sie, ob Sie sich an die Namen von Freunden erinnern können, die vielleicht noch immer mit ihr in Kontakt stehen.«
Erneut dauerte es ziemlich lange, bis Liechti zu einer Antwort ansetzte.
»Es gab da ein Mädchen. Sie hat Corina, kurz bevor sie uns endgültig verließ, an einem Freitagabend abgeholt. Sie stellte sich sehr freundlich vor, legte beste Manieren an den Tag. Aber sie war mir von Anfang an suspekt. Ihr eingefallenes Gesicht. Dunkle Ringe unter den Augen, die sie mit dunkler Schminke zusätzlich betonte. Ihre Haut weiß wie Porzellan. Trotz ihrer pechschwarzen Haare.«
»Wie hieß das Mädchen, Herr Liechti?«
»Xenia Mahari. So hieß sie. Den Namen kann man nicht vergessen.«
Und Mahari würde leichter zu finden sein als Liechti, dachte Sandro Bandini. Er erklärte Corinas Vater, dass er sich wieder mit ihm in Verbindung setzen würde, wenn er etwas über seine Tochter in Erfahrung gebracht habe – und bat ihn darum, sich bei der Polizei zu melden, sollte ihm seinerseits etwas zu Ohren kommen. Noch während sie sich verabschiedeten, tippte Sandro Bandini den Namen Mahari, Xenia in die Fragemaske des Internettelefonbuches ein, es gab nur einen einzigen Eintrag. Eine Adresse im Breitenrainquartier in der Stadt Bern. Und eine Handynummer.
Das regelmäßige Summen an seinem Ohr ließ ihn wissen, dass es am anderen Ende der Leitung klingelte. Lange klingelte. Sandro Bandini schaute noch einmal auf das Display seines Handys, prüfte, ob er die richtige Nummer eingestellt hatte. Als er das Gerät wieder an sein Ohr hielt, klickte es. Nach einem Rascheln meldete sich eine verschlafene Frauenstimme.
»Ja.«
»Guten Tag, spreche ich mit Xenia Mahari?«, fragte Sandro Bandini.
»Ja.«
»Ich bin auf der Suche nach Corina Liechti. Ihr Vater hat mir gesagt, dass Sie mit ihr befreundet sind.«
Sandro Bandini gab sich nicht als Polizist zu erkennen. Noch nicht. Er fürchtete, dass sie sonst sofort aufhängen würde.
»Was wollen Sie von ihr?«
»Ich möchte mit ihr sprechen, ist sie bei Ihnen?«
»Um was geht es?«
»Es ist, ähm, sozusagen eine private Angelegenheit.«
»Sind Sie ein Bulle?«
Sandro Bandini gab sich geschlagen. Er fragte sich, warum man ihm seinen Beruf nicht nur stets anzusehen schien, sondern offenbar sogar anhören konnte.
»Hören Sie, Frau Mahari. Ich will nichts von Ihrer Freundin, aber eine Bekannte hat sie bei uns als vermisst gemeldet. Ich möchte nur sicherstellen, dass es Corina Liechti gut geht.« Und dass sie nicht irgendwo tot im Wald verscharrt ist, fügte er in Gedanken hinzu.
Am anderen Ende der Leitung blieb es ein paar Sekunden lang still. Als Xenia Mahari wieder zu sprechen begann, hatte sich ihre Stimme verändert.
»Ich mache mir ehrlich gesagt auch Sorgen«, sagte sie.
»Corina hat in den letzten vier Monaten bei mir gewohnt. Vor einer Woche ist sie nach der Arbeit nicht mehr nach Hause gekommen.«
»Sie meinen vom Strich?«
»Genau, sie ging anschaffen, auf dem Strich. Eines Morgens kam sie nicht mehr zurück.«
»Scheiße«, entfuhr es Sandro Bandini. »Warum haben Sie das nicht der Polizei gemeldet?«
Xenia Mahari schluckte hörbar. »Ich wollte keinen Ärger mit den Bullen. Dachte, sie würde sicher bald wieder auf der Matte stehen.«
Jetzt war es Sandro Bandini, der erst einmal tief durchatmen musste. Das durfte nicht wahr sein.
»Frau Mahari, wir befürchten, dass Ihrer Freundin etwas zugestoßen sein könnte. Wir werden heute noch bei Ihnen vorbeikommen, weil wir uns Corina Liechtis Zimmer ansehen müssen. Wir bräuchten auch Haare von ihr und andere persönliche Gegenstände, Kalender, Bankkarten, Handynummer et cetera. Sind Sie heute Nachmittag zu Hause?«
»Ich bin da«, antwortete Xenia Mahari kaum hörbar.
»Bis später.«
Sandro Bandini beendete das Gespräch. Es war ein Déjà- vu: Alles schon mal da gewesen, alles fing wieder von vorne an. Er war wütend und fühlte sich ohnmächtig zugleich.
»Günther, wir haben den Antrag vor mehr als zwei Wochen eingereicht!« Lisa Kunz schlug für einmal einen ganz und gar unfreundlichen Ton an. »Und wir warten immer noch auf den Bescheid!«
Lisa Kunz war direkt ins Büro von Staatsanwalt Schwarz spaziert, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. Günther Schwarz war sich zwar bewusst, dass es einige seiner Mitarbeiter bei der Arbeit nicht allzu eilig hatten, aber er hätte dies gegenüber jemandem aus einer anderen Abteilung niemals zugegeben. Also versuchte er, Lisa Kunz zu besänftigen und von der Schlamperei seiner Mitarbeiter abzulenken.
»Lisa, ich bin mir sicher, dass ihr uns einen korrekten Antrag gestellt habt und meine Leute ihn eingehend geprüft haben – aber du weißt selbst, dass es ein Grenzfall ist. Wir haben so gut wie nichts gegen diesen Mann in der Hand, auf jeden Fall kaum genug, das einen derartigen Eingriff in seine Privatsphäre rechtfertigen würde. Es sind zuerst rechtliche Abklärungen und Abwägungen notwendig, sonst kommen wir in Teufels Küche.«
»Während ihr euch monatelang für rechtliche Abwägungen Zeit nehmt, bringt unser Täter fröhlich weitere Frauen um.« Lisa Kunz lachte bitter im Wissen, dass es unangebracht war. Aber sie konnte nicht anders. Der Frust und ihre Wut waren zu groß.
»Wie meinst du das?«
»Wir haben wieder eine Vermisste.«
»Eine vom Straßenstrich?«
Lisa Kunz nickte und erkannte in seinem Gesicht, dass die Neuigkeit Günther Schwarz’ Haltung veränderte. Sein Blick verfinsterte sich. Er begann in seinen Unterlagen zu blättern, um herauszufinden, wer der zuständige Mitarbeiter war, der den Durchsuchungsbefehl bearbeitete.
»In Ordnung, Lisa. Stell dein Team zusammen. Bis heute Abend haben wir alle notwendigen Papiere beschafft. Morgen kann der Zugriff erfolgen.«
»Danke.«
Mehr sagte sie nicht. Sie verkniff sich den Kommentar, dass es auf einmal doch schnell gehen konnte. Lisa Kunz verließ Schwarz’ Büro und den Gebäudetrakt der Staatsanwaltschaft. Sie hatte einiges vorzubereiten. Plötzlich genoss der Vermisstenfall Renate Berger wieder höchste Priorität.