Renate Berger stand noch immer dort, wo sie sich vor eineinhalb Stunden hingestellt hatte. Der dunkelblaue Mercedes mit dem Zürcher Nummernschild fuhr zum zweiten Mal an ihr vorbei. Etwas weiter vorne bremste er ab, hielt an. Die Fensterscheibe fuhr hinunter. Eine Frau in kurzem Lackrock und hohen schwarzen Stiefeln beugte sich hinab, ihre Brüste drohten aus ihrem Lederbustier zu purzeln. Nach wenigen Sekunden stand der Deal, ein kurzer Wortwechsel nur, dann stieg sie ein, und der Wagen fuhr rasch davon. Sie würde bald zurück sein. Durchschnittlich acht Minuten dauerte der Sex mit einem Freier. Acht Minuten, die unterschiedlich lang sein konnten.
Vor Renate Berger hatte bislang nicht ein einziger Wagen angehalten. Sie verfluchte sich dafür, dass sie nicht aufreizendere Kleidung trug. Selbst mit ihren schwarz glänzenden Leggins und dem knappen Oberteil konnte sie heute nicht mithalten. Oder ob man mir schon von Weitem ansieht, dass ich aus der Übung bin?, fragte sie sich unsicher. Morgen würde sie sich andere Klamotten besorgen. Allein der Gedanke schnürte ihr den Hals zu: Es war ihr schon jetzt zuwider, zurück in die leere Wohnung zu gehen, wo die Kinder so sehr fehlten.
Sie wartete noch einige Autos ab, die gemächlich an ihr vorbeituckerten. Die Freier verhielten sich wie Neugierige in Kauflaune in schaufensterreichen Ladenpassagen. Erst passierte sie ein Fiat Punto, dann ein rassiger Chevrolet, der dritte Wagen war ein schwarzer Peugeot. Eine Frau starrte neugierig heraus. Gafferin, dachte Renate verärgert. Als sie nicht einmal das Interesse geschweige denn die Lust des Fahrers eines klapprigen roten Opel Corsas weckte, beschloss sie, eine Pause einzulegen. Sie ging die Bundesgasse hinab Richtung Dreifaltigkeitskirche, wo der Straßenbus stand. Renate Berger wollte nachsehen, ob sie noch jemanden kannte, und hören, was sich so tat an der Front. Auch fand sie, dass sie einen Kaffee vertragen konnte.
Der Straßenbus war ein etwa fünf Meter langer beigebrauner Mercedes, ein Campingwagen älteren Baujahres. Als solcher wurde er aber schon lange nicht mehr benutzt: Statt auf Campingplätzen stand er nun jeweils montag-, mittwoch-, freitag- und samstagnachts in Bern bei der Dreifaltigkeitskirche, wenige Hundert Meter neben dem Bundeshaus. Die beiden Sozialarbeiterinnen, die den Bus mit Spenden und Geldern der Stadt Bern betrieben, hatten ihn bewusst hier abgestellt; in unmittelbarer Nähe des Drogenstrichs und nicht bei den anderen professionellen Sexarbeiterinnen, die sich ein paar Dutzend Meter weiter weg an den Straßenrand stellten. Denn den Stricherinnen, die an der Nadel hingen, drohten die größten Gefahren. Gerade die drogenabhängigen Sexarbeiterinnen wurden von vielen Freiern als Freiwild betrachtet, die meinten, bei ihnen könnten sie sich alles erlauben. Der Drogenstrich war die unterste Stufe. Bei den Sozialarbeiterinnen im Bus konnten sich die Stricherinnen zumindest mit Kondomen und sauberen Spritzen eindecken oder auch einfach bloß mal eine warme Tasse Kaffee trinken, um sich aufzuwärmen. Um zu reden.
Renate Berger schob den schweren Vorhang zur Seite, der in der Eingangstür hing, und freute sich, dahinter Claudia Schütz zu sehen. Die Sozialarbeiterin mit dem kurzen, hennagefärbten Haar und der beruhigend tiefen Stimme war also immer noch da, auch nach über vier Jahren noch. Claudia Schütz war geschätzte fünfzig und lange genug im Job, um schon alles gesehen zu haben. Was sie dazu bewegte, diese Aufgabe wahrzunehmen, sich für die Stricherinnen einzusetzen und ihnen irgendwie doch nie richtig helfen zu können, das blieb ihr Geheimnis. Die hochgewachsene Frau mit dem freundlichen Gesicht, dem gleichwohl anzusehen war, dass sie schon vieles erlebt haben musste, hatte für alle ein offenes Ohr und war eine gute und geduldige Zuhörerin. Über sich selbst erzählte sie jedoch nie etwas. Hier zog sie eine Grenze, die sie niemals überschritt.
»Was machst du denn hier, um diese Zeit, solltest du nicht zu Hause bei deinen Kindern sein?«, fragte Claudia Schütz, die Renate Berger sofort wiedererkannte.
Sie ließ sich nicht anmerken, wie enttäuscht sie war, die alte Bekannte wieder hier anzutreffen. Es versetzte ihr jedes Mal einen Stich ins Herz, wenn eine Frau in ihrem Bus auftauchte, von der sie geglaubt und gehofft hatte, sie nie mehr wiederzusehen.
»Sie haben sie mir weggenommen.« Renate spürte, wie ihr Tränen in die Augen schossen.
»Ach.« Mehr konnte Claudia Schütz nicht sagen, kein Wort war groß genug, um Trost zu spenden. Zu gut wusste sie, was dies bedeutete. Stattdessen legte sie Renate den Arm um die Schultern, drückte sie kurz an sich und bot ihr eine Tasse Kaffee an.
Im Bus herrschte noch immer das eigenwillige und alles andere als passende Großmutterambiente, das die Sozialarbeiterinnen bewusst pflegten. In einem Korb auf dem aufklappbaren Tischchen lag Gebäck von der Bäckerei Storchen, unverkaufte Ware, die die Busfrauen jeweils kurz vor Ladenschluss abholen konnten und die immer dankbare Abnehmerinnen fand. Die Vorhänge vor den kleinen Fenstern mit den abgerundeten Ecken waren zugezogen, neben den Aschenbechern standen Teelichter, die einen süßlichen Duft verströmten. Es sollte nicht nach Sex riechen hier drinnen im Bus. Es war zwar eng, sehr eng, aber fast schon gemütlich, sofern dies die Umstände überhaupt zuließen. Neben Renate Berger waren noch zwei andere Frauen da, die sie nicht kannte und die ziemlich fertig aussahen. Sie verpflegten sich mit den mittlerweile trockenen Gipfeli und tunkten diese in ihre Kaffeebecher. Eine der Frauen hatte eine Zahnlücke; rechts der Mitte in der oberen Reihe klaffte ein schwarzes Loch. An ihren Wangen erkannte Renate rote Striemen. Sie hatte sich wohl nach dem letzten Kokainknall das Gesicht aufgekratzt. Die Schminke vermochte die Wunden nicht ganz abzudecken. Beide Frauen saßen nur da, schwiegen sich an. Keine mochte reden. Jede war in ihrer eigenen Welt. Weit weg.
Da zog jemand den Vorhang auf.
»Céline, hallo, wie geht’s dir?« Claudia Schütz kannte alle Frauen mit Namen.
»Wie immer«, sagte die junge Frau apathisch und fragte nach einer Flashbox – einer kleinen Schachtel, die eine frische Spritze, Ascorbinsäure, Alkoholtupfer, steriles Wasser, Taschentücher, Erfrischungstücher, Gleitmittel und Kondome enthielt. Das Arbeitsset für eine Frau auf dem Strich. Für jede Sexarbeiterin gab es eine Flashbox gratis. Kondome hingegen konnten à discrétion bezogen werden. In einem Schrank hinten im Bus hing zudem alte Kleidung, warme Pullover, Jeans, Jacken. Für den Notfall. Die Klamotten, die sich Renate Berger zurzeit wünschte, waren leider nicht im Angebot.
Sie hielt sich an ihrem Kaffeebecher fest. Wärmte sich die Hände. Schlürfte das starke Gebräu. Jeder Frau hier sah man aus einer Distanz von einem Kilometer an, dass sie für Stoff anschaffen ging, dachte sie und fragte sich, ob sie selbst auch schon wieder dieses Bild abgab. Im Gegensatz zu uns Stricherinnen sehen die Freier aus wie jedermann, dachte Renate bitter. Aber schließlich waren sie das auch; jedermann ging auf den Strich: der Dorflehrer und der Bankmanager, der Bäcker, der Nachbar, der Versicherungsvertreter. Sogar einen Pfarrer hatte Renate in ihrer unrühmlichen Stricherinnenkarriere schon bedient. Renate erinnerte sich an einen Zeitungsartikel, den sie mal gelesen hatte: In der Schweiz bezahlte jeder siebte Mann regelmäßig für Sex. Sie ließen sich also der Reihe nach abzählen: eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs – und der siebte war ein Kunde.
Renate Berger leerte ihren Becher, bedankte sich bei Claudia Schütz und hielt einen Moment vor der Pinnwand mit den Freierwarnungen inne. Auch hier die alte Leier: »Fiat Punto, junger Mann, zuerst freundlich. Hat mir mit Faust ins Gesicht geschlagen«, war auf einen der angepinnten Zettel gekritzelt. Die Stricherinnen meldeten auf diese Weise hier im Bus ihre Erfahrungen mit gewalttätigen und unliebsamen Freiern. »Fordert mehr, als abgemacht ist, aber zum selben Preis«, stand auf einem weiteren Zettel. Und: »Schwarzer Audi, Solothurner Nummer: Achtung, extrem gewalttätig«. Ein anderer Freier hatte sich offenbar als Polizist ausgegeben und danach auf die Bezahlung verzichtet.
Ungefähr zwanzig Warnzettel hingen an der Pinnwand. Renate Berger wandte sich ab, sie mochte sie gar nicht alle lesen, wollte sich nicht damit auseinandersetzen, in welche Welt sie zurückgekehrt war. Das Einzige, was sie jetzt brauchte, war Geld. Also einen Freier.
Sie verabschiedete sich von den anderen Frauen, verließ den sicheren Bus und trat hinaus in die Frühlingsnacht. Über ihr stand stolz das Sternbild des Orions. Doch die Lichter der Stadt ließen die Sterne blass und unwichtig erscheinen. Die klare Nacht brachte die Kälte. Renate Berger fröstelte. Sie ging die Straße hoch, bog rechts ab, zurück in die Bundesgasse, suchte sich einen Platz nicht zu nah bei den anderen Frauen. Es war noch nicht ganz Ende des Monats, der Zahltag stand noch aus. Darum waren die Freier heute rar. Renate Berger hoffte, dass sich das wieder änderte, sobald die Typen den Lohn in der Tasche hatten, hoffte, dass sie hier auf dem Strich nicht plötzlich von der angeblich weltweiten Finanzkrise betroffen sein würden. Doch das glaubte sie kaum. Wenn es um Sex ging, mochten die Männer erst recht nicht sparen, Krise hin oder her. Im Gegenteil: Wenn es im Job mies lief, suchten nicht wenige bei einer Hure Trost. Und Selbstbestätigung. Renate Berger arbeitete in einer krisensicheren Branche.
Sie fuhr sich durch die Haare, nestelte an ihrem Top herum, damit wenigstens der Ansatz ihrer kleinen Brüste zu sehen war. Ein grüner Subaru Kombi schlich an ihr vorbei, sie bückte sich, lächelte und winkte, blickte kurz in ein zu eng beieinanderstehendes Augenpaar. Das rundliche Gesicht mit der großen Nase unter festgeklebten schwarzen Haaren wandte sich ab. Der Subaru fuhr weiter.