Feenzauber und Bardengabe
TINA ALBA
Der dritte Tag, seit ich diese Harfe besitze. Die dritte Nacht, in der ich schweißgebadet aufwache. Wieder fällt mein Blick sofort auf die Harfe. Ich habe sie auf den Stuhl neben meinem knarrenden Gasthausbett mit dem muffig-feuchten Strohsack und den fadenscheinigen Decken gestellt, bevor ich zu Bett gegangen bin. Hundemüde und, wie ich mich verschämt erinnere, nicht mehr ganz nüchtern – die Gruppe adeliger Reisender, die sich am frühen Abend in der Schankstube ausgebreitet hat, war freigiebig mit Wünschen nach Gesang und Tanzliedern, ebenso wie mit Wein.
So, wie sich mein Schädel anfühlt, habe ich nicht nur einen Krug des staubtrockenen Roten geleert.
Um den fein gearbeiteten Holzrahmen meiner Harfe mit den Schnitzereien von Efeublättern scheint ein geisterhaftes Leuchten zu liegen. Die Saiten vibrieren, als seien sie eben erst angeschlagen worden, und in meinem Zimmer schwebt ein Echo zarter Harfenklänge, eine Ahnung mehr, als dass ich sie wirklich hören kann.
Ich zittere, kalter Schweiß rinnt mir Rücken und Brust hinab, die Leinenhose klebt mir feucht an den Beinen. Ich richte mich auf, kauere mich auf die Bettkante und vergrabe das Gesicht in den Händen, fahre mir mit bebenden Fingern durch die Haare. Sobald ich den Kopf wieder hebe, sehe ich erneut das seltsame Glühen auf dem Holz, grünlich wie ein Nordlicht. Es wirkt kalt. Es macht mir Angst.
Genau wie die Träume, die mich heimsuchen, seit ich das erste Mal diese Saiten berührt, dieses Holz in den Händen gehalten habe.
Ich starre das Instrument an, möchte es am liebsten packen und aus dem Fenster schleudern. Ich will hören, wie das Holz zerbricht und die Saiten zerreißen, weiß, dass es sich anhören wird wie ein Schrei.
»Nein.« Ich balle die Hände zu Fäusten, grabe die Fingernägel so fest in meine Handflächen, dass es schmerzt. Ein Windhauch bauscht die Vorhänge vor dem Fenster, fährt in meine Dachkammer hinein, fängt sich in Harfensaiten.
Wieder dieser schwebende Klang, wie ein Schluchzen jetzt. Noch immer liegt der grünliche Schimmer auf dem Holz, lässt die Schnitzereien greifbar hervortreten.
Bitte. Hilf mir. Ich weiß, dass du mich hören kannst. Ich weiß, dass du mich gesehen hast.
Schaudernd zwinge ich mich dazu, die Harfe anzusehen. Wie ein Lebensretter ist sie mir vorgekommen, als ich sie in der hintersten Ecke dieses Marktstandes voller Tand gesehen habe, einen Tag nachdem mich mein Pferd wegen eines aufflatternden Birkhuhns mitten im Wald abgeworfen hat. Inzwischen stand das furchtlose Ross im Stall und schämte sich hoffentlich wenigstens ein bisschen dafür, dass es mich so unglücklich abgesetzt hatte, dass ich auf meinem Rucksack gelandet war. In dem sich meine treue Wanderharfe befunden hatte, die danach nur noch als Sammlung von Ersatzsaiten und Feuerholz taugte.
Mein Lebensretter macht mir Angst.
Ich strecke die Hand nach der Harfe aus, Silbersang , so hatte die verschleierte Frau auf dem Markt ihren Namen genannt. Silbersang, und für eine Handvoll Silber soll er dir gehören, Barde mit der Gabe.
Die Handvoll Silber hat sie bekommen, für ein Instrument, das in meinen Augen deutlich mehr wert zu sein scheint. Ich prüfte, spielte, verliebte mich und kaufte.
In der ersten Nacht tue ich die Träume als Hirngespinst ab, genau wie das geisterhafte Licht. Nach der zweiten beginne ich mich zu wundern, halte das Licht für den Widerschein einer Straßenlaterne, deren fleckige Scheiben den Schimmer der Ölfunzel in ihrem Inneren in das tote Glühen leuchtender Pilze verwandeln.
In dieser Nacht will mein Herz nicht mehr aufhören zu rasen. Ich schaffe es nicht, den Blick von Silbersang zu lösen, und weiß nicht, was ich tun soll. Habe ich mir die Worte nur eingebildet, die der zarte Harfenklang, aus Wind geboren, in meinen Kopf gezaubert hat? Inzwischen erkenne ich, dass das Leuchten über dem Holz wie ein Herzschlag pulsiert. Ich verfluche den Tag, an dem ich im Naran-Tempel den Herrn der Klänge darum anflehte, mein mir so öde vorkommendes Wanderbardenleben doch bitte ein wenig spannender zu gestalten.
Androu .
Ich zucke zusammen, als ich meinen Namen höre, so deutlich, als würde ich einem anderen Menschen gegenübersitzen. Das Zittern wird stärker, meine Hand, schon auf halbem Weg zu meinem Wassersack, hält inne.
Androu. Bitte. Hab keine Angst.
Ich muss lachen. Hab keine Angst , das ist genauso dämlich wie: Denk jetzt nicht an den Kerl, von dem du diese Nacht schon das dritte Mal geträumt hast .
Ich schließe die Augen und presse die Hände an die Schläfen. Das ist nicht wirklich. Vielleicht träume ich noch, bin nur im Traum erwacht und schlafe in Wahrheit noch. Ja, das muss es sein, nur darum kann ich seine Stimme hören. Aber warum kann ich ihn dann nicht sehen? Ich habe ihn gesehen. Jede Nacht, seit Silbersang mein Eigen ist. Und bei Narans verstimmter Flöte, ich habe ihn gesehen und kann nicht mehr aufhören, an ihn zu denken. Mir wird heiß, wenn ich mir sein Gesicht vorstelle, dieses schöne, schmale Gesicht mit der sonnengebräunten Haut, dem hinreißenden Lächeln. Die Augen, blaugrün wie das Meer, funkelnd und voller Leben. Das lange Haar, schimmernd wie Kupfer, feine Zöpfe sind hineingeflochten, die dafür sorgen, dass ich die spitzen Ohren gar nicht übersehen kann. Hände, schmal und feingliedrig, die eine Harfe halten und die Saiten zupfen. In mir der Wunsch, die Harfe zu sein, von seinen Händen berührt zu werden, damit sie das Lied meines Herzens zum Klingen bringen.
Ich schnappe nach Luft, schüttele den Kopf, aber die Bilder bleiben. Einen Moment lang ist er so wunderschön und lebendig, und dann sehe ich ihn am Boden liegen, die Augen aufgerissen, der Blick gesprungen wie mattes Glas, und überall Blut. In seinem Haar, auf seinen Lippen, an seiner Kehle. Seine Hand umklammert noch immer die Harfe, die in kühlem grünlichen Licht glüht, für einen Moment hell erstrahlt – und dann ist das Leuchten fort, aufgesogen von dem hellen Holz. Ich sehe Hände, die etwas von seinem Handgelenk reißen. Licht fällt in den halbdunklen Raum, in dem er am Boden liegt, blutüberströmt, leblos. Höre ich den Schrei oder ahne ich ihn nur? Ich erkenne eine weitere Hand, die die Harfe packt, wieder brüllt jemand. Ich verstehe die Worte nicht. Schatten huschen durch das Zimmer, ich höre polternde Schritte, fühle mich einen Moment lang wie durchgeschüttelt. Mein Blickfeld verengt sich, alles wird schwarz. Und still.
Ich ertappe mich dabei, dass ich auf der Bettkante vor- und zurückwippe wie ein Wahnsinniger, die Fäuste an den Schläfen, im Mund den Geschmack von Blut. Ich habe mir auf die Zunge gebissen. Das metallische Aroma bereitet mir Übelkeit.
Androu .
Nein, ich will nicht aufblicken. Hebe dennoch den Kopf, und da steht sie, schimmernd in ihrem Gewand aus grünem Licht. Die Harfe, Silbersang , und ich erinnere mich, dass die Verschleierte an ihrem Stand er gesagt hat, als sie mir die Harfe überreichte. Er . Nicht sie .
Ich löse mich aus meiner Starre, strecke eine Hand aus und berühre das Holz, streiche über die Verzierungen und umschließe den Harfenrahmen dann fest mit den Fingern. Das Holz fühlt sich warm an, ich glaube, unter meiner Haut ein Pulsieren zu spüren, gleichmäßig wie ein Herzschlag. Um die Hand nicht wegzuziehen, umklammere ich meine Harfe noch fester. Hebe sie hoch, hole sie auf meinen Schoß. Streiche über die Saiten, wieder schwebt Silber durch den Raum und wispert meinen Namen: Androu .
Ich schlucke, meine Kehle fühlt sich an, als würde ich versuchen, einen Stein hinunterzuwürgen. Wie von selbst finden meine Finger die Saiten. Ich spiele ein Lied, das ich nicht kenne, und weiß nicht, ob ich es mir in diesem Moment ausdenke oder ob der Besitzer der Stimme in meinem Kopf es in meine Gedanken pflanzt.
»Wer bist du?« Was ich eigentlich sagen will: Bist du wirklich? Oder bilde ich mir dich nur ein?
Silbersang , klingt es in meinen Gedanken. Ich bin der, den du im Traum gesehen hast. Sileas in meiner Sprache. Bitte, Androu, du musst mir helfen! Ich brauche dich. Bitte spiel weiter. Vielleicht kann ich dann mehr tun, als dir meine Worte in die Gedanken senden. Spiel. Gib mir Kraft. Bitte glaube daran, dass ich wirklich da bin. Denn dann kann ich auch wirklich da sein.
Meine Finger stolpern auf den Saiten, ich versuche, mich zu fangen. An ihn glauben? Glauben, dass er wirklich ist? Ich hole die Bilder aus meinem Traum zurück. Die schönen, die ihn lebendig zeigen, in all seiner feenhaften Schönheit. Feen, Elfen, ich weiß, dass es sie gibt, aber noch nie habe ich einen von ihnen gesehen. Ich schließe die Augen, male sein Bild in meine Gedanken. Hochgewachsen und schlank, alles an ihm ist schmal und elegant. Wie er dasitzt, die Harfe auf dem Schoß, wie er den Kopf neigt, während er spielt und sich selbst zu lauschen scheint. Das Leuchten in seinen ozeanblauen Augen. Der Goldschimmer seiner Haut, das kupferne Flammen seiner Haare. Ich sehe ihn so deutlich vor mir, dass ich glaube, ihn berühren zu können. Er ist so schön, dass sein Anblick Sehnsucht in mir weckt.
Mehr , wispert seine Stimme in meinem Kopf. Samten. Dunkel. Noch immer spiele ich dieses fremde Lied, das wie aus dem Nichts in meine Finger zu fließen scheint. Perlende Tonfolgen, kraftvolle Akkorde. Ich will es festhalten, aber es schwebt davon. Ich spiele und verliere alles Gefühl für Zeit.
»Danke. Ich danke dir, Androu.«
Ich zucke zusammen, reiße die Augen auf, meine Finger erstarren. Die Klänge zerfasern wie Nebel im Wind. Was bleibt, ist das Echo in meiner Seele, Herzfasern, die nachschwingen.
Ich sehe ihn. Er steht am Fenster, lässig an den Sims gelehnt, den ich durch seine Gestalt hindurchschimmern sehen kann, ebenso wie den offenstehenden Fensterflügel und das Nachtlicht draußen vor dem Haus. Ich weiß, dass er es ist. Sein Haar schimmert kupfern, er trägt dieselben aufwändig bestickten Gewänder wie in meinem Traum, dieselben Zöpfe im Haar. Nur seine Augen sind anders. Ozeanblau sind sie, ja, aber nicht wie das Meer bei strahlendem Sonnenschein. In diesen Augen tobt ein Sturm, während im Hintergrund leise der Donner grollt. Ich sehe Schmerz darin, und Todesangst. Ich finde keine Worte.
Er sieht mich an. Über sein Gesicht huscht der Hauch eines Lächelns. »Danke, Androu.«
»Sileas?« Meine Zunge stolpert über den fremden Namen.
Er nickt.
»Wie?« Ich sehe ihn an und lege all meine Fragen in dieses eine Wort.
»Du hast mich im Traum gesehen«, sagt er.
Ich liebe seine Stimme. »Ich habe dich spielen sehen. Auf dieser Harfe. Dich sterben sehen. Im Tod hast du sie festgehalten. Jemand kam und riss sie aus deiner Hand.« Ich erkenne, dass meine linke Hand genau die Stelle des Harfenrahmens festhält, an die Sileas sich in seinem Todeskampf festgeklammert hat. Ich spüre einen Schauer meinen Rücken hinabrieseln, aber ich nehme die Hand nicht fort. Wieder glaube ich, einen Herzschlag im Holz zu spüren.
»Ich wollte dich nicht erschrecken«, sagt er sanft, »es tut mir leid. Es war der einzige Weg, mich dir zu zeigen. Ich schickte dir die Träume. Ich wollte, dass du mich hörst. Mich erkennst. Mir hilfst.«
Ich starre ihn an. Helfen? »Wie?«, frage ich erneut und fühle mich wie in einem Traum gefangen. Rede ich mit einem Geist? »Was bist du?«
»Ich bin, was von Sileas übriggeblieben ist. Als mein Körper starb, verband ich meine Seele mit dieser Harfe. Um auf den passenden Augenblick zu warten.«
Ich hebe eine Braue.
»Meinen Mörder zu überführen.«
Meine Gedanken rasen.
Sein Blick trifft meine Seele. Schmerzt beinahe. Ich will ihm helfen. Ich will alles tun, nur um den Sturm aus seinen Augen zu vertreiben. Was macht er mit mir? »Hast du mich verzaubert?« Ich stoße die Worte hervor, plötzlich kann ich nicht mehr atmen.
»Nein. Ich bitte dich nur um etwas, Androu. Du hast die Harfe gespielt und meine Seele berührt, du hast eine besondere Gabe. Du hast mir geholfen, mich dir zeigen zu können. Aber bitte glaube mir, ich kann dich zu nichts zwingen. Wenn du mir nicht helfen kannst oder willst, dann werde ich dich nur noch um eines bitten: die Harfe weiterzugeben.«
»Nein!« Ich schreie beinahe.
Sileas zuckt leicht zusammen, seine Augen weiten sich. »Nein?«, wiederholt er. Das zittrige Lächeln ist wieder da.
Ich nickte, schüttele den Kopf, weiß nicht mehr, was richtig ist. Ich möchte seine Hand in meine nehmen und weiß, dass ich es nicht kann. »Was ist geschehen in der Nacht deines Todes?« Es fällt mir schwer, zu fragen. Wie schmerzhaft ist die Erinnerung?
Ein Schatten fällt über sein Gesicht. »Du hast es im Traum gesehen.«
Ich nicke. »Aber nicht alles verstanden. Der, der dir das angetan hat, hat dir etwas weggenommen. Es von deinem Handgelenk gerissen. Aber er war es nicht, der deine Harfe … dich mitnahm.«
Sileas schüttelt den Kopf. Sein Blick wird hart. »Das war Anvier. Er wollte mich beschützen. Verhindern, dass mein Mörder mich gänzlich auslöscht, oder schlimmer noch, für immer in diesem Holz gefangen hält.« Er scheint zu seufzen, erwidert meinen Blick, lächelt schief. »Verzeih mir. Ich muss weiter ausholen, damit du alles verstehst.«
Ich nicke verwirrt.
Sileas’ schimmernde Gestalt löst sich vom Fenster, kommt lautlos auf mich zu. Ein kühler Hauch streift mich. Ich erkenne den sanften grünen Schimmer, der seine Erscheinung einhüllt wie eine seltsame Aura.
»Liebe«, sagt er leise. »All das geschah nicht aus Liebe. Aber ihretwegen.«
Ich halte den Atem an. Ich denke an Eifersucht. Die uralte Geschichte. Ich schweige, warte darauf, dass er weiterspricht.
»Zwei Brüder. Beide verliebten sich in mich. Beide begannen, mich zu umwerben. Mit Worten und Taten der eine, mit kostbaren Gaben der andere. Ich war so dumm, die Gaben anzunehmen und dennoch dem anderen mein Herz zu öffnen. Ich fürchtete mich. Wollte keinen der beiden enttäuschen. Hätte mir sogar vorstellen können, mein Leben mit beiden zu teilen. Anvier und Talun.« Wieder scheint Sileas zu seufzen.
»Talun?«, entfährt es mir. »Talun von Hirschfelsen?« Der Mann mit der offenen Börse, der Mann mit den Wünschen nach Tanz- und Trinkliedern, ich habe sein Wappen auf den Röcken seiner Begleiter erkannt. Mir wird schlecht. Sileas’ Mörder ist …
Sileas nickt. »Ich starb durch Taluns Hand, und was er von meinem Arm riss, war ein Schmuck, den er mir schenkte, als er um mich warb. Geflochten aus dem blauen Gras der südlichen Ebenen und verziert mit schwarzen Perlen der Icca-Muschel.«
Mir schwirrt der Kopf. Kaum ein Schmuckmacher traut sich an das blaue Gras heran, die Pflanze gilt als verdammt giftig, aber richtig bearbeitet sind ihre Fasern schön wie Silber und Perlmutt. Und Icca-Perlen? Ebenfalls selten und kostbar. »Und wer … wer hat die Harfe genommen?«
»Anvier war sein jüngerer Bruder. Er floh mit meiner Harfe, und als er erkannte, dass Talun ihn verfolgte, versteckte er sie bei einer fahrenden Händlerin. Er wollte wiederkommen. Mich holen. Einen Weg finden, mich zu befreien. Er kam nicht. Ich befürchte, dass er tot ist.«
»Sileas … wie lange ist das her?« Ich versuche, all das zu verstehen, was er mir gesagt hat, und zu begreifen, dass sein Mörder im selben Gasthaus wie ich sitzt und vielleicht gerade Pläne schmiedet, die Harfe mit Sileas Seele wieder in seinen Besitz zu bringen.
»Drei Jahre.«
Drei Jahre, in denen die Harfe bei der Händlerin gewesen ist. Die Sileas in Holz und Saiten gefangen war. Drei Jahre, in denen Talun nach der Harfe gesucht hat? Ich schaudere. Ist es Zufall, dass der Hirschfelser hier ist, ausgerechnet jetzt? »Ich soll dir also helfen, Talun zu überführen«, murmele ich.
Sileas beugt sich leicht vor. »Er hat mein Armband. Er besitzt selbst ein ähnliches. Die Perlen an beiden Armbändern formen ein Herz, wenn beide Träger ihre Arme nebeneinanderhalten. Talun wollte mich für sich allein. Er duldete keinen Nebenbuhler, gerade seinen jüngeren Bruder nicht. Er hätte niemals geteilt. Aber ich wollte Talun nicht. Nicht sein Erbe oder seine Stellung, sein Geld, nicht die teuren Geschenke. Anvier war anders. Er hörte mir zu. Er schenkte mir sein Ohr, seine Hände, sein Herz. Ich habe ihn gewollt, den Zweitgeborenen, den Träumer. Wir wollten gemeinsam verschwinden, in der Nacht, in der es geschah. Die letzten Worte, die ich aus Taluns Mund vernahm, bevor da nur noch Schmerz war, waren: Wenn ich dich nicht haben kann, dann soll dich niemand haben . Also musste ich sterben. Du musst mein Armband finden, Androu. Er hat es. Ich bin mir sicher.« Sileas sieht mich an, Schmerz im Blick, Hoffnung.
Ich starre auf meine Hände, auf die Harfe. »Du weißt nicht, wo es ist. Ob er es wirklich mit sich führt.« Ich blicke zur Tür, rechne damit, dass sie aufschwingt und Talun von Hirschfelsen hereinkommt, ein Messer in der Hand, um mir genauso wie Sileas einst die Kehle durchzuschneiden und die Harfe an sich zu bringen. Sileas an sich zu bringen. Wenn ich dich nicht haben kann, dann soll dich niemand haben . In meinem Magen wuchern Eiskristalle. »Er hat dich gesehen«, sage ich leise. »Er hat die Harfe in meinen Händen gesehen. Darum hat er mir Weinkrug um Weinkrug aufgenötigt. Wahrscheinlich denkt er, dass ich meinen Rausch ausschlafe. Und wenn er mich schlafend wähnt, wird er kommen, um dich zu holen.« Ich lache zittrig. »Wir brauchen dein Armband überhaupt nicht. Wenn er tatsächlich herkommt, um die Harfe zu holen und mir das Licht auszublasen, dann haben wir den Beweis, dass er es war, der dich getötet hat.«
»Du glaubst mir.« Sileas sieht mich an. Täusche ich mich, oder wirkt seine Gestalt einen Hauch weniger durchscheinend? Ich spüre die Kälte nicht mehr. Das grünliche Glühen ist verschwunden. Er sieht beinahe lebendig aus. In seinen Augen leuchtet ein Hoffnungsschimmer.
Ich nicke. »Ich glaube dir. Und ich will dir helfen. Dich erlösen.« Ich möchte mir auf den Mund schlagen wegen der letzten Worte. Ihn zu erlösen, was würde das bedeuten? Sileas ist tot. Ich würde ihn verlieren. Der Gedanke erschreckt mich. Warum denke ich an Verlust, und warum erfüllt der Gedanke mich mit plötzlicher Traurigkeit? Ich sehe ihn an, seine immer noch einen Hauch durchscheinende Gestalt, und ich sehne mich danach, ihn zu berühren. Er sieht mich an und in meinem Magen flattern aufgeregte Schmetterlinge. Mein Blick fällt auf seinen sinnlichen Mund und ich frage mich, wie es sein mag, ihn zu küssen. Ich möchte sein Haar berühren, die Konturen seiner Ohren nachzeichnen, meine Hände an sein Gesicht legen. Zugleich schelte ich mich einen Narren. Was denke ich da?
»Erlösen.« Sileas lächelt. »Du meinst befreien.« Er legt den Kopf schief, mustert mich. Langsam streckt er eine Hand aus, scheint die Harfe in meinen Händen zu berühren, dann spüre ich einen kühlen Hauch, als würde Wind mich streicheln, als seine geisterhaften Finger meine Haut streifen.
Ich starre ihn an. Die Berührung ist wirklich. Ich fühle den zarten Druck von Fingerkuppen auf meiner Hand. Legenden über Geister berichten, ein Geist könne einen Menschen nicht anfassen, ebenso wenig wie ein Mensch einen Geist berühren kann, aber da sitze ich, neben dieser wunderbaren Erscheinung, und ich spüre seine Berührung. Kühl – und doch so wirklich.
Sileas lächelt wieder. »Ich weiß auch nicht, warum ich dich anfassen kann, aber sie nicht.«
Ich sehe, was er meint, als seine Finger vergeblich versuchen, den Rahmen der Harfe zu greifen. Ein Schauer rinnt über meinen Rücken. »Sileas …«
»Androu.« Er sieht mich an. Sein Gesicht ist auf einmal ganz nah. Ich erkenne mein Spiegelbild in seinen Augen. Dann fühle ich seine kühle Hand an meiner Wange.
Ich bebe. Was tut er mit mir? Was geschieht mit mir? »Verzauberst du mich?« Meine Stimme ist nichts als atemloses Keuchen.
Er schüttelt den Kopf.
Es geht so schnell, dass ich erst verstehe, dass er mich küsst, als seine Lippen die meinen schon wieder losgelassen haben. Doch der Kuss hat sein Echo auf meinem Mund hinterlassen, füllt meine Nase mit dem zarten Aroma von Lavendel.
Sileas sieht mich an, seine Augen funkeln. »Gib mir mein Leben zurück, Androu. Du kannst das! Ich weiß nicht warum, aber ich weiß, dass du es bist und kein anderer, der mich ins Leben zurückführen kann.«
»Wie?« Er ist tot. Seine Seele hat seinen Körper verlassen, vor drei verdammten Jahren schon. Ich möchte nicht wissen, wie dieser Körper aussieht, den der Hirschfelser vermutlich irgendwo verscharrt hat, um die Spuren seiner Tat zu verwischen.
»Feenzauber«, haucht Sileas mir ins Ohr. »Androu, wir müssen Talun zuvorkommen. Wir müssen ihn überrumpeln, bevor er versucht, dasselbe mit dir zu tun und die Harfe zu stehlen. Das darf nicht geschehen. Sollte er sie in die Hände bekommen und zerstören, bin ich verloren. Wenn er sie behält, werde ich auf ewig an dieses Holz gebunden sein. Mit dem Armband werden wir ihn überführen. Aber du hast recht damit, dass wir es vielleicht gar nicht brauchen. Du gibst mir Kraft, zu sein, Androu. Er wird vor Grauen vergehen, wenn er mich sieht.« Sileas’ Lächeln schwindet. »Zumindest hoffe ich das. Also – wir müssen ihn finden, bevor er dich findet. Was meinst du, wo wird er übernachten?«
Ich atme tief durch und versuche, meine Gedanken zu ordnen. Ich soll in das Zimmer des Hirschfelsers einbrechen und in seinen Sachen nach diesem Armband suchen, während er höchstwahrscheinlich wach ist und auf den passenden Zeitpunkt wartet, bei mir einzubrechen? Ich fluche stumm.
»Wo übernachtet er?«
Sileas’ Stimme holt mich zurück in die Wirklichkeit. »Ich kann mir hier nur einen Ort vorstellen, an dem ein Adeliger die Nacht verbringen würde. Es gibt eine Zimmerflucht, die seinen Ansprüchen genügen sollte. Seine Leute hat er sicherlich in den Stall geschickt, aber er selbst hat sich ganz sicher in der Königskammer eingemietet.« Königskammer , ein großes Wort für die drei kleine Räume umfassende Zimmerflucht, die der Wirt nur gut zahlenden Gästen mit klingenden Namen öffnete. Wie dem Hirschfelser. Ich wechsele einen Blick mit Sileas, dann greife ich nach meinem Hemd und ziehe es an, streife auch die Tunika über und wünschte, sie wäre aus Leder und nicht aus fadenscheiniger Wolle. Ich blicke auf meine Füße und verwerfe den Gedanken an Schuhe. Viel zu laut. Wollsocken müssen reichen. Ich greife nach meinem Gürtel und schlinge ihn mir um die Taille, nachdem ich bis auf die Messerscheide alles an ihm Hängende entfernt habe. Der Dolchknauf besteht aus massivem Messing, ein Schlag auf den Kopf damit, und Talun von Hirschfelsen schläft bis zum kommenden Mittag. Ich habe noch nie jemanden niedergeschlagen und verspüre auch kein Bedürfnis danach, aber bei Talun eine Ausnahme zu machen, erfüllt mich mit rachedurstiger Freude.
»Bereit?« Sileas blickt mich an. Ozeanblaue Augen, die auf den Grund meiner Seele blicken.
»Nein.« Ich grinse und lege eine Hand auf den Türknauf.
»Du musst sie mitnehmen, wenn ich mitkommen soll.« Sileas deutet auf Silbersang .
Bewaffnet mit einer Harfe, auf zu einem Überfall. Ich beiße mir auf die Zunge und greife nach dem Instrument. Statt Talun mit einem Schlag auf den Schädel in Tiefschlaf zu versetzen, könnte ich ihm auch ein Schlummerliedchen singen. Die ganze Situation ist so absurd, dass ich fast lachen möchte, aber Sileas’ ernster Blick lässt das Schaumweingeblubber in meiner Kehle erstarren.
»Du kannst das. Ihm seine Untaten nachweisen und mich befreien. Ich bin bei dir, Androu. Du bist nicht allein.«
Er ist dicht hinter mir, ich spüre die Kälte, die von seinem Körper ausgeht. Ich spüre ihn, höre seine Stimme, aber sonst vernehme ich nichts. Keine Schritte auf dem Dielenboden, kein Atemhauch, nichts. Ich öffne die Kammertür und spähe die schmale Treppe hinunter, die in den Korridor zu den anderen Gästezimmern führt. Unten in der Gaststube ist es still. Das ganze Haus schläft, nur ich tappe auf Socken die knarrende Treppe hinunter, in der Hand eine Harfe, hinter mir der seltsam körperliche Geist eines Feenbarden. Ich fühle mich wie die Hauptfigur in einer vollkommen verdrehten Komödie. Nur, dass das hier alles andere als witzig ist.
Ich warte am Fuß der Treppe, dass meine Augen sich ein wenig mehr an die Dunkelheit gewöhnen, dann atme ich tief ein, halte die Luft an und schleiche langsam weiter. Zucke zusammen, wann immer eine der verdammten Dielen unter meinen Füßen knarrt. Ich weiß, dass der Flur am Ende eine Biegung macht und in einen weiteren kurzen Gang mündet, mit nur einer einzigen weiteren Tür, deren Blatt eine Krone ziert. Die Königskammern .
Aus einem der Gästezimmer dringt so lautes Schnarchen, dass ich mich frage, ob der Kerl, der da sägt, nicht das ganze Haus wachhält. Im gleichen Moment vernehme ich aus einem anderen Zimmer dumpfes Klopfen. »Säg verdammt noch mal leiser!«, mault eine müde Stimme. Der Schnarcher grunzt und verstummt, dafür erklingen aus dem Zimmer gegenüber eindeutige Geräusche einer heftigen Liebesnacht. Ich rolle die Augen, schleiche weiter die Wand entlang, um die Ecke, und verharre vor der Tür zur Königskammer . Auf der Schwelle stehen ein Paar blankgewienerte Stiefel, daneben ein zugeklappter Korb, der vermutlich Wäsche enthält, die die Wirtsleute waschen sollen. Unter dem Türblatt schimmert mattes Licht hindurch. Ich erkenne, dass von innen der Riegel vorgelegt ist. Die Tür schließt ebenso schlecht wie alle anderen im Haus. Sollte der Riegel ebenso einfach gebaut sein wie der meiner Dachkammer, kann ich ihn mit meinem Messer einfach hochschieben – ich weiß, dass die schmale Klinge zwischen Türblatt und Wand passt. Behutsam ziehe ich die Waffe und lausche.
Im Lichtschein bewegen sich Schatten. Ich höre Schritte. Jemand wandert im Zimmer herum. Eine Männerstimme murmelt vor sich hin, zu leise, als dass ich etwas verstehen könnte. »Scheiße«, wispere ich, »er ist wach.« So viel zu einem einfachen Überfall, bei dem ich mich nur an sein Bett zu schleichen und ihm den Dolchknauf über den Schädel zu ziehen brauche.
Sileas lächelt. »Das macht nichts.« Seine Stimme klingt wie Seide, die jemand in seinen Händen hält, um einen anderen damit zu erwürgen. »Ich brauche einen Helfer, der mir die Tür öffnet.« Er tritt näher, lautlos, Kühle streift mich, als er seine Hand auf meine legt. »Das Einzige, was ich berühren kann, bist du.« Sein Blick senkt sich in meinen. »Sobald er mich sieht, mich erkennt, wird er nicht mehr in der Lage sein, dir etwas anzutun. Er wird nicht einmal mehr einen seiner Schergen rufen können.« Sileas nickt mir zu. »Lass uns ihm einen Besuch abstatten.«
Ich schlucke, unterdrücke ein Beben und fasse das Heft des Dolchs fester. Behutsam schiebe ich die Klinge zwischen Türblatt und Wand und hebe den schlichten Riegel an. Leises Knirschen lässt mich innehalten.
Sileas legt eine Hand auf meine Schulter. Kühle fließt unter meine Haut, in meine Adern. Ich sollte Angst haben. Aber ich fühle nur, wie diese Kühle meine Furcht vertreibt. Ich hebe den Riegel weiter an, spüre, dass ich den Punkt erreiche, an dem ich den kleinen Metallarm nicht mehr mit meiner Klinge führen kann. Der Riegel kippt auf die andere Seite, ein metallisches Klirren dringt an meine Ohren.
Das Gebrabbel hinter der Tür verstummt, die Schritte halten inne. Ich ahne, dass Talun von Hirschfelsen in seiner Kammer steht und die Tür anstarrt. Den Riegel, der sich soeben wie von Geisterhand bewegt hat. Nur, dass es nicht die Hand des Geistes war – sondern meine. Ich lege eine Hand auf den Türgriff und bewege ihn ganz langsam. Merke, dass ich dabei grinse, dass es mir Spaß macht, den Mörder meines Feenbarden zu erschrecken.
Halt. Mein Feenbarde? Seit wann das? Mein Herz schlägt hart gegen meine Rippen. Ich umklammere die Harfe, in der anderen halte ich noch immer das Messer.
Sileas blickt mir über die Schulter. Kühler Hauch streift meine Wange, als er leise lacht. »Du böser Mensch«, raunt er in mein Ohr.
»Wer … ist da?«, klingt es zittrig von drinnen. »Ombar, bist du das? Leehan? Marren?« Wieder Schritte, das Spiel des Lichtscheins unter der Tür sagt mir, dass sie sich entfernen. Wieder klirrt etwas, diesmal als zerspringe ein irdenes Gefäß am Boden, begleitet von einem leisen Platschen.
Sileas verengt die Augen. »Mach auf«, zischt er.
Langsam ziehe ich die Tür zu mir heran.
»Wer ist da?«
Ich höre, dass Talun hektisch nach etwas greift, wieder poltert etwas zu Boden. Langsam öffne ich die Tür weiter.
Sileas schiebt sich an mir vorbei und betritt lautlos das Zimmer. Ich folge ihm und ziehe hinter mir die Tür wieder zu.
Fast muss ich lachen. Vor uns steht der freigiebige Adelige aus der Gaststube, gekleidet in ein wallendes Nachtgewand, das ihn wie ein Gespenst aussehen lässt. Dass er einen blankgezogenen Säbel in der Hand hält, mildert den lächerlichen Anblick in keiner Weise.
»Sei gegrüßt, Talun.« Sileas’ Samtstimme verbirgt eine Klinge.
Talun zittert wie ein Festtagspudding. »Nein«, stößt er hervor, »nein … nein, das kann nicht sein! Du bist nicht da!« Er schreit fast. »Du kannst nicht hier sein! Du bist tot! Ich habe dich sterben sehen! Du bist tot, tot!« Er fuchtelt mit dem Säbel, weicht zurück, stößt an sein Bett. Verliert das Gleichgewicht und setzt sich. »Du bist tot, Sileas«, haucht er. Der Säbel entgleitet seinen wohl plötzlich kraftlosen Händen, poltert zu Boden.
Mein Blick fällt auf das Blaugrasband an seinem Arm, wandert weiter zu der offenen Schatulle auf dem Tischchen, von dem er einen Weinbecher gestoßen hat. Ein Zwilling des Schmucks liegt darin, weniger abgetragen, Blaugras und Perlen. Ich hebe es mit der Dolchspitze hoch und trete an Sileas’ Seite. »Und du bist dir sicher, Hirschfelser, weil du ihn getötet und ihm diesen Schmuck vom Arm gerissen hast«, verkünde ich. »Willst du uns vielleicht auch berichten, was mit deinem Bruder geschehen ist, der noch versucht hat, die Harfe in Sicherheit zu bringen? Die Harfe, von der du wusstest, dass der Mann, den du zu lieben vorgabst, sie im Moment seines Todes als Gefäß seiner Seele erwählt hat?« Ich weiß nicht, woher die Worte so rasch kommen, und woher ich den Mut nehme, so zu ihm zu sprechen. Vielleicht liegt es daran, dass Sileas mich immer noch berührt, vielleicht daran, dass ich die Harfe festhalte. Ich atme keuchend. Wut steigt in mir auf. Ich möchte diesen Mann mit eigenen Händen erwürgen für das, was er getan hat. »Mörder«, zische ich.
Sileas sieht mich an, lächelt sanft, legt eine Hand auf meinen Arm. Sobald er den Blick auf Talun richtet, werden seine Augen kalt. »Möchtest du nicht antworten? Muss ich erst näherkommen und dich … überzeugen?«
Talun erbleicht. »Wer sagt mir, dass ich das alles nicht träume? Du!« Er zeigt auf mich. »Du bist hier eingedrungen mit einem Messer in der Hand. Um mich auszurauben! Wem werden die Wachen glauben, wenn ich …«
Sileas lacht und der Laut jagt mir einen Schauer über den Rücken. »Wachen? Deine Männer schlafen. Einer sägt im Traum ganze Wälder ab, einer scheint sich mit einer der Schankmägde zu vergnügen, und der dritte …« Sileas hebt die Schultern. »Wer weiß, wie tief der schläft.« Er berührt meine Hand, dann streckt er die andere aus und legt einen Finger an Taluns Stirn.
Talun reißt die Augen auf. Er keucht. »Kein Trugbild … was für ein Zauber …?«
»Feenzauber«, raunt Sileas, »und ein Verbündeter mit wahrer Bardengabe.«
Bardengabe? Meint er mich?
»Spiel«, raunt mein Barde mir zu. »Spiel.«
Spielen, jetzt? Ich nehme die Harfe in beide Hände. Spiele.
Sileas lässt Talun wieder los, tritt neben mich, seine Hände vollführen eine komplizierte Geste. Grünliches Licht tropft von den Harfensaiten, vom Holz, sammelt sich auf dem Boden zu einem See aus Licht, aus dem nebelhafte Gestalten aufsteigen. »Bardengabe und Feenzauber«, raunt er in mein Ohr, »zeigen die Wahrheit.«
Meine Finger stolpern beinahe auf den Saiten, als ich sehe, was geschieht. Die nebelhaften Figuren beginnen ein unheimliches Schauspiel vor unseren Augen. Ich erkenne Sileas und Talun, werde Zeuge, wie Talun Sileas in eine einsame Waldhütte lockt und ihn dort ermordet. Ich erkenne eine dritte Gestalt, die Anvier sein muss. Wie er die Harfe an sich nimmt, in den Wald flieht, hakenschlagend vor seinem Bruder flüchtet und schließlich bei Fahrenden Schutz findet. Eine verschleierte Händlerin nimmt ihm die Harfe ab, und er verlässt sie wieder. Läuft seinem Bruder in die Arme. Stirbt. Silbern schillert das Blut, das den grünlichen Nebelgestalten entströmt, während ich wie unter einem Bann spiele und nicht weiß, was ich spiele, während sich Sileas’ Stimme mit den Harfenklängen mischt. Er singt. Seine Stimme formt die Bilder. Ich kann nur spielen, spielen, zusehen, fühle mich wie gebannt und weiß doch, dass alles, was ich tue, richtig ist. Sileas und ich weben diesen Bann gemeinsam, als hätten wir nie etwas anderes getan. Er hat in mir geweckt, was schon immer in mir geschlafen hat. Ich erkenne, dass wir nicht nur das Nebelschattenspiel erschaffen. Mit jedem Ton, den ich spiele, mit jedem Vers, den er singt, gewinnt sein geisterhafter Körper mehr an Kraft. Schon seit einer Weile kann ich die Wand hinter ihm nicht mehr durch seine Gestalt schimmern sehen.
Doch wer an Substanz zu verlieren scheint, ist Talun. Keuchend starrt Sileas’ Mörder auf die Szene aus Licht und Schatten. Furchen graben sich in sein Gesicht, sein Haar ergraut und wird schütter. Ich sehe die Haut an seinen Händen alt und brüchig werden, die Fingerknochen hervortreten. In morbider Faszination sehe ich Harfe spielend dabei zu, wie Talun vor meinen Augen verfällt. Ich weiß nicht, was mich mehr erschreckt – das grauenhafte Bild des innerhalb weniger Augenblicke alternden und sterbenden Mannes, oder die Tatsache, dass ich nichts dabei empfinde als Abscheu. Kein Mitleid. Keine Gnade.
Sileas’ Lied verstummt, als Taluns lebloser Körper mit einem seltsam trockenen Laut zu Boden stürzt. Der Nebel verblasst. Was bleibt, sind Spuren von Silber auf den Bodendielen, als hätte dort jemand Farbe verschüttet.
Ich halte eine Harfe in den Händen aus sanft karamellfarben schimmerndem Holz und bespannt mit Saiten wie aus Gold. Da ist nichts mehr bleich und silbern an diesem Instrument – ebenso wenig wie an Sileas noch etwas bleich und geisterhaft ist.
»Der Bann ist gebrochen.« Sileas wispert die Worte nah an meinem Ohr.
Sein Atem streift meine Haut. Warm. Die Kälte ist fort. Fast meine ich seinen Herzschlag zu hören. Er sieht mich an, in seinen Augen funkelt das Leben. Ozeanblau mit einem Hauch von Grün darin, und goldene Sprenkel. Spitz zulaufende Ohren, die aus seinem kupferfarbenen Haar ragen. Seine Schönheit nimmt mir den Atem. Ich möchte ihn berühren und das Leben spüren, das aus ihm zu strahlen scheint. »Sileas«, wispere ich. »Wie … wie kann das sein? Du bist gestorben!«
»Feenzauber und Bardengabe.« Er sieht mich an, sanft nimmt er die Harfe aus meinen Händen. Seine Finger berühren meine, Funken knistern. »Wir haben ihn umgebracht«, stoße ich hervor.
Sileas legt die Harfe auf das Tischchen und nimmt meine Hände. »Sieh mich an, Androu.«
Ich erwidere seinen Blick und ertrinke in seinen Augen. Ich möchte ihm alles glauben, was er mir sagen will. Alles.
»Wir haben den Bann gebrochen und ihn seiner gerechten Strafe zugeführt. Er ist ein Mörder, Androu. Wäre er aufgeflogen, wäre er enthauptet worden. Jetzt ist er aufgeflogen. Er hat gestanden. Und Gerechtigkeit erfahren. Alles wird gut.«
Ich grabe die Zähne in die Unterlippe. Plötzlich ist mir wieder kalt. Ich schlinge die Arme um meinen Oberkörper.
Sileas sieht mich an. Dann umarmt er mich. »Danke, Androu. Ich habe drei lange Jahre auf jemanden wie dich gewartet. Auf einen Barden mit der wahren Gabe. Einen, dessen Spiel Tote erwecken und Schatten zum Leben bringen kann. Einen, der bereit ist, an das Unwahrscheinliche zu glauben. Einen, dessen Stimme Flüche brechen kann.«
Er zieht mich an sich. Ich spüre seine Wärme, die Kraft seiner Arme, die ich in seiner schmalen Gestalt nicht erwartet hätte. Sileas drückt mich an sich, dann löst er sich ein wenig und nimmt mein Gesicht in beide Hände. »Darf ich dich küssen?«
Ich schließe die Augen und nicke stumm, erwidere den Kuss. Spüre angesichts des Todes das Leben in einer Weise, wie ich es noch nie zuvor gespürt habe. Fühle mich, als sei ein Feuer in mir entzündet worden, das mich in heller Lohe einhüllt. Ich schnappe nach Luft, als Sileas mich wieder freigibt. Schwer atmend sehe ich ihn an. »Was … wird jetzt geschehen? Ist das … ein Ende?«
Sileas lächelt und zieht mich erneut an sich. »Nein«, raunt er mir zu, sein Atem streift meine Wange und wieder rieselt ein warmer Schauer durch meinen Körper. »Das ist erst der Anfang.«