Weil du mein Lied bist
JONA DREYER
Blaine versuchte, sich auf seine Atmung zu konzentrieren. Seinen Herzschlag zu beruhigen, das Zittern seiner Hände, denn er würde sie gleich brauchen. Sie durften ihn nicht im Stich lassen.
»Noch dreißig Sekunden«, verkündete der Bühnenmitarbeiter.
Blaine hörte bereits die Anmoderation und warf einen Blick zu Colin, der inzwischen leichenblass geworden war und den Eindruck machte, als würde er jeden Moment umkippen. Blaine hatte Lampenfieber, aber gegen Colins Aufregung vor jedem Auftritt war das ein schlechter Witz. Einmal war er sogar in Tränen ausgebrochen und Blaine hatte ihn trösten müssen. Aber jetzt mussten sie sich zusammenreißen, denn das hier war ihre große Chance. Diese eine, große Chance, die sie nie wieder bekommen würden.
»Wir schaffen das.« Er nahm kurz Colins Hand und drückte sie; sie war feucht und eiskalt. »Ich glaube an dich.«
»An uns
«, korrigierte Colin mit einem zittrigen Lächeln. »Glaub lieber an uns
.« Er wirkte verloren in seinen immer etwas zu großen Sachen, mit seiner immer etwas wirren Frisur. Die Leute würden gleich ihre große Überraschung erleben, wenn sie ihn sahen – und dann hörten.
»Auf geht’s!«, rief der Mitarbeiter. »Und viel Glück!«
Blaine und Colin nickten sich zu, gaben sich einen Ruck und betraten die Bühne. Applaus von neugierigen Zuschauern ertönte und die Scheinwerfer waren so grell und heiß, dass Blaine das Gefühl hatte, bei lebendigem Leibe gegrillt zu werden. Es dauerte einen Moment, ehe sich seine Augen an das
Licht gewöhnten und die Reihen der Zuschauer sowie die Jury erkannten, die an einem langen Pult vor der Bühne saß.
»Guten Abend. Und wer seid ihr?«
Silas Codwell. Der gefürchtetste Juror von ›We’ve Got Talent‹.
»Wir ...« Blaine räusperte sich. »Mein Name ist Blaine, ich bin zweiunddreißig Jahre alt und komme aus Norwich. Und das hier ist mein bester Freund Colin.«
»Und ihr macht zusammen Musik?«
»Ja. Colin singt, ich spiele Gitarre.«
»Und was macht ihr beruflich sonst?«
Colin lachte nervös. »Ich bin Maler und Lackierer und Blaine ist Angestellter bei einer Versicherungsgesellschaft.« Seine Stimme klang heiser. Hoffentlich würde sich das beim Singen legen.
»Okay.« Codwell wirkte nicht gerade überzeugt. »Na dann, legt los.«
Die Scheinwerfer wurden gedimmt und im Saal wurde es gespenstisch still.
Na los, du schaffst das. Verspiel dich nicht. Wir kriegen das hin. Es wird gut. Wir sind gut.
Blaines Finger glitten über die Saiten, zupften die ersten Töne. Und dann geschah die Magie, die er immer dann verspürte, wenn sie musizierten: Er verlor sich vollkommen in dem Lied. Sperrte die Welt aus, lebte nur noch für die Melodie und das raue Gefühl der Saiten an seinen Fingern.
Als schließlich Colins Gesang einsetzte, wurde es vollkommen. Ein Raunen ging durch das Publikum und entlockte Blaine ein Lächeln. Der Moment der Überraschung
. Er hatte ihn selbst erlebt, damals, als er seinen besten Freund das erste Mal hatte singen hören. Es war in einer Karaokebar gewesen, sie beide angetrunken, und plötzlich hatte sich der schüchterne Colin an das Mikrofon getraut und diese unglaublich gefühlvolle, raue
Stimme präsentiert, die ihn zum Star des Abends gemacht hatte. Hoffentlich auch zum Star dieses
Abends!
Seit über zwei Jahren musizierten sie gemeinsam; Blaine spielte schon seit seiner Kindheit Gitarre, aber singen konnte er nicht. Colins Stimme hauchte den Songs, die Blaine schrieb, Leben ein. Bildete den perfekten Kontrast zum Klang der Saiten. Und nun hatten sie nach etlichen Überzeugungsversuchen ihrer Freunde und Bekannten endlich den Mut gefunden, sich bei ›We’ve Got Talent‹
zu bewerben und aufzutreten. Heute spielten sie allerdings ein bekanntes Lied, keinen ihrer eigenen Songs. Nur zur Sicherheit. Sie hatten sich für Shallow
entschieden, das ursprünglich von Lady Gaga und Bradley Cooper für den Film A Star is Born
interpretiert worden war.
Blaine ließ sich von der Magie tragen und die Angst, sich zu verspielen, schwand. Wie von selbst fanden seine Finger die Saiten, den richtigen Druck, es war wie Atmen. Der Song steigerte sich, wurde kraftvoll. Das Publikum war hingerissen. Die Leute hatten sich aus ihren Sitzen erhoben, klatschten und johlten immer dann, wenn Colin besonders ergreifend sang, wenn sich die herrliche Rauheit seiner Stimme offenbarte.
Sie mögen uns. Sie lieben uns!
Blaine fühlte sich wie in einem Rausch, das Gitarrenspiel war wie eine einzige Liebkosung und immer wieder glitt sein Blick zu Colin, der sein Lampenfieber offenbar überwunden hatte und mit geschlossenen Augen und leidenschaftlichen Gesten sang. Selbst Silas Codwell schien der Auftritt zu gefallen, denn er lächelte und tippte mit den Fingern im Rhythmus des Liedes auf das Pult.
Die letzten Töne verklangen. Standing Ovations. Der Saal tobte und es war mehr, als sie sich je erträumt hatten. Sie sahen sich an und lächelten und das Funkeln in Colins Augen ließ Blaines Knie noch weicher werden, als die Aufregung wegen des Auftritts. Colin war in jeder erdenklichen Hinsicht
seine Lichtgestalt. Das, was ihn morgens aufstehen und abends glücklich einschlafen ließ, wenn er daran dachte. Nur, dass sein bester Freund nichts davon ahnte. Blaine hatte sich auf die Bühne von ›We’ve Got Talent‹
getraut, aber nach wie vor nicht, Colin seine Gefühle zu gestehen. Die Angst, ihre Freundschaft und ihre musikalische Zusammenarbeit damit zu zerstören, war einfach zu groß.
»Wow!«, begann Amelia Golden, eine der Juroren. »Wow! Also, ich muss zugeben: Erst war ich ein bisschen skeptisch, als ihr auf die Bühne gekommen seid. Eigentlich ist der Song ja auch ein Duett, aber Colin hat ihn wirklich grandios allein gesungen! Und Blaine, wirklich toll an der Gitarre dazu. Ich bin total geflasht.«
»Danke«, sagte Blaine und auch Colin stimmte ihm zu: »Vielen, vielen Dank.«
»Blaine, du warst gut an der Gitarre«, erklärte Silas Codwell. »Wirklich gut. Aber Colin ...« Er machte eine bedeutungsschwangere Pause. Der ganze Saal schien angespannt die Luft anzuhalten. »Du warst extraordinär. Wirklich, so eine Stimme, so ein Talent, das ist rar.« Das Publikum jubelte und applaudierte, freute sich mit ihnen über das Lob. »Allerdings«, fuhr Codwell fort und hob gebieterisch eine Hand, »allerdings frage ich mich an dieser Stelle, ob ihr auf Dauer wirklich als Duo funktioniert.« Protestierende Pfiffe ertönten und Blaines Herz sank. »Ihr klangt gut zusammen, klar, aber ich bin halt nicht sicher, ob du, Blaine, Colin nicht auf Dauer zurückhalten würdest. Dass er als Teil eines Duos nicht sein komplettes Potenzial entfalten könnte. Ich kann mir seine Stimme auch sehr gut zu beispielsweise Klavierbegleitung vorstellen und da wärst du als Gitarrist dann irgendwie überflüssig.«
Es kamen noch ein paar entgeisterte Pfiffe, aber ansonsten herrschte eine seltsame Stille im Saal, als schwebten Codwells Worte wie ein Fallbeil über ihnen allen.
»Ich sehe das ähnlich«, schloss sich Piers Logan, einer der anderen Juroren, an. »Für mich ist es ganz klar ein Ja, aber eigentlich ein Ja für Colin allein.«
Codwell nickte. »Für mich auch. Ein Ja unter der Bedingung, dass Colin allein auftritt.«
»Ich ...« Colin räusperte sich und klammerte sich am Mikrofonständer fest. »Ich hab Blaine so viel zu verdanken. Ich kann mir nicht vorstellen, ohne ihn aufzutreten, und es wäre nicht fair.«
»Ich verstehe deinen Punkt«, gab Codwell zurück, »aber du stehst dir damit selbst im Weg. Wenn Blaine ein guter Freund ist, lässt er dich ziehen.«
Alle Blicke richteten sich auf Blaine. Sein Mund fühlte sich an wie eine Wüste und seine Lippen klebten zusammen. Es tat regelrecht weh, sie zu öffnen, so weh, wie ihm gerade auch sein Herz tat. Das hier hatte ihr gemeinsamer Erfolg sein sollen und nun musste er erfahren, dass er Colin im Weg stand. Ausgerechnet er, der genau das Gegenteil hatte tun wollen. Aber er durfte seinem Freund diese Chance nicht verwehren. Nicht seinen Erfolg verhindern, denn er verdiente ihn. Die Welt
verdiente Colins Stimme und der, dass die Welt ihm zuhörte. Deshalb musste sich Blaine entscheiden. Es war schwer und leicht zugleich. Es war ein Opfer, es tat weh. Aber er brachte es für etwas Gutes.
»Wenn es Colin hilft, dann trete ich selbstverständlich zurück«, erklärte er.
»Nein!«, rief Colin entsetzt.
»Doch. Schau mal, die Leute lieben deine Stimme. Du musst singen, sie wollen dich hören. Einen Gitarristen bekommt man immer wieder, aber eine Stimme wie deine nicht. Verbau dir
die Chance nicht. Ich bin dir nicht böse, keine Angst. Ich gehe freiwillig.«
Erneut ging ein Raunen durch das Publikum, aufgeregtes Gemurmel, vereinzelter Applaus. Blaine wandte sich ab. Er hatte sein Opfer gebracht, aber er wollte es nicht noch ewig auf der Bühne aussitzen. Vor allem aber wollte er nicht, dass die Kameras filmten, wie er weinte.
Er spürte Colins verunsicherten Blick in seinem Rücken, als er ging. Und dann hörte er den tosenden Applaus, als sein Freund viermal ein Ja bekam.
~*~*~*~
Das blubbernde Geräusch der Kaffeemaschine war auf eine Art beruhigend und der Duft, der durch die Wohnung zog, sobald das heiße Wasser das Kaffeepulver berührte, half Blaine beim Runterkommen. Andere tranken Kaffee am Morgen, um in die Gänge zu kommen, er zum Feierabend. An Schlaf war sowieso nicht zu denken. Seit Tagen nicht.
Er schaltete den Fernseher an, auch wenn er das Programm nicht beachtete. Das Geräusch der Stimmen im Hintergrund war beruhigend, fast schon heimelig, als wären da Menschen in seiner Wohnung, die sich miteinander unterhielten, während er das Abendessen zubereitete. Oder besser gesagt, aufwärmte.
Doch dann störte ein Türklingeln seine abendliche Scheinidylle. Blaine erstarrte, gleichzeitig beschleunigte sich sein Herzschlag. Es gab nicht viele Möglichkeiten, wer um diese Zeit vor seiner Tür stehen konnte. Die Paketdienste waren längst durch, zu essen hatte er nichts bestellt. Es könnte seine Nachbarin sein, die sich manchmal etwas auslieh oder etwas Geliehenes zurückbrachte. Oder ... Colin.
Soll ich aufmachen? Oder soll ich einfach so tun, als hätte ich nichts gehört? Als wäre ich nicht zu Hause?
Es klingelte noch einmal, eigentlich zweimal kurz hintereinander. Energisch. Blaine seufzte und öffnete die Tür. Und wie vermutet, wie befürchtet
, war es Colin.
»Wir müssen reden.« Er drängte sich an ihm vorbei in die Wohnung. »Jetzt. Sofort. Und du wirst mich nicht wegschicken.«
»Werd ich nicht.« Blaine ließ die Schultern hängen. »Aber an meiner Meinung hat sich nichts geändert. Es ist deine große Chance und du musst sie wahrnehmen. Und wenn das nur ohne mich geht, dann ist das eben so.«
»Wieso bist du einfach gegangen? Hast mich allein gelassen?« Colin wirkte wütend und gekränkt. Zurecht. Blaine fühlte sich elend.
»Ich fand, dass ich auf der Bühne nichts mehr zu suchen hatte, nachdem entschieden wurde, dass man nur dich will. Es war dein
Moment, nicht meiner.«
»Es war unser
Moment«, beharrte Colin. »Ohne dich hätte ich nicht so singen können. Niemals.«
»Doch, hättest du. Und wirst du. Denk an all die großen Bühnen, auf denen du vielleicht auftreten wirst. Ich könnte mir nie verzeihen, wenn du dir diese Chance aus falscher Rücksichtnahme auf mich entgehen lässt.«
Colin schüttelte den Kopf. »Ich meine ja nicht nur, dass du von der Bühne verschwunden bist. Ich bin ins Hotelzimmer zurückgekommen und du warst weg. Weißt du, wie ich mich gefühlt habe? Du bist nicht ans Telefon gegangen, hast mich weggedrückt, tagelang!«
»Es tut mir leid«, flüsterte Blaine und ließ resigniert die Schultern hängen. »Das war falsch. Ich habe einen Moment für mich gebraucht. Aber ich hätte es dir sagen müssen, ich weiß.«
Colin ließ ebenfalls die Arme baumeln und den Kopf hängen. »Es ist nicht fair. Ich habe alles dir zu verdanken. Du warst es, der damals in der Karaokebar zu mir gesagt hat: Hey, lass
uns doch zusammen Musik machen. Ohne dich würde ich heute noch ausschließlich unter der Dusche singen.«
»Und wenn schon.« Blaine gab Colin mit einer Geste zu verstehen, ihm ins Wohnzimmer zu folgen und sich zu setzen. Gemeinsam ließen sie sich auf der Couch nieder. »Vielleicht war genau das meine Aufgabe und die ist hiermit erfüllt.«
Erneut schüttelte Colin den Kopf und stierte auf die Couchtischplatte. »Ich will diesen Weg nicht allein gehen. Unsere Freundschaft ist mir wichtiger als jede Bühne der Welt.«
»Du musst diesen Weg doch nicht allein gehen. Ich bin immer noch da, nur eben ab jetzt im Hintergrund.«
»In den letzten Tagen warst du das nicht.«
»Nein«, gab er zu, »aber ich gelobe Besserung. Und vielleicht darf ich ja bei irgendeinem deiner Auftritte mal in der Begleitband spielen.«
»Ich werde darauf bestehen.« Colin vergrub das Gesicht in den Händen. »Ich bin so überfordert. Der Gedanke, allein und ohne dich auf die Bühne zu gehen, macht mir Albträume. Du warst immer die Rampensau von uns beiden. Der, der das Scheinwerferlicht gesucht hat. Nicht ich.«
»Aber du bist der mit dem größeren Talent.« Blaine lächelte. »Das Scheinwerferlicht fällt auf den Richtigen. Und wenn du auftrittst, werd ich ein bisschen mit dir auf der Bühne sein.«
»Ich werd’s wahrscheinlich sowieso verkacken. Wirst du mitkommen und im Publikum sitzen?«
»Wenn ich freibekomme, auf jeden Fall.«
»Codwell ist ein Arsch.« Colin schluckte. »Wenn er nichts gesagt hätte, dann wären wir sicher auch als Duo weitergekommen.«
»Aber vielleicht nicht so weit, wie du allein kommen kannst. Möchtest du einen Kaffee? Er ist gerade fertig.«
»Gern. Und vielleicht kannst du mir ja nachher etwas auf der Gitarre vorspielen.«
~*~*~*~
Blaine hatte nicht freibekommen. Und er fühlte sich wie der schlechteste Freund der Welt, weil er Colin nicht zu seinem großen Auftritt in der zweiten Runde begleiten konnte. Aber sein Chef hatte kein Erbarmen gehabt. Mehrere Mitarbeiter waren krank und wenn auch er noch ausfiel, war die Arbeit kaum zu schaffen.
Er hatte Colin fast täglich aufs Neue überreden müssen, weiterhin bei ›We’ve Got Talent‹
teilzunehmen. Das letzte Mal heute Morgen bei einem Telefonat vor der Arbeit; Colin hatte bereits im Zug zum Drehort gesessen und mit dem Gedanken gespielt, wieder auszusteigen.
»Ich will dich heute singen hören«, hatte Blaine gedrängt. »Wehe, ich schalte den Fernseher ein und sehe dich dort nicht.«
Inzwischen kam er besser damit zurecht, aufs Abstellgleis gestellt worden zu sein. Es war ja nicht Colins Entscheidung gewesen, sondern die der Jury und am Ende seine eigene. Wenn Colin einen Plattenvertrag bekam, vielleicht sogar die Sendung gewann, würde es Blaine unsagbar glücklich machen. Sein bester Freund war der wichtigste Mensch in seinem Leben. Der, für den er alles aufgeben würde.
Nach einem langen Arbeitstag kam er gerade rechtzeitig nach Hause, um noch etwas Fingerfood in den Ofen zu schieben und eine Cola einzugießen. Mit Essen, Getränk und seinem Hund Bacon machte er es sich auf der Couch gemütlich. Die Sendung begann und plötzlich war Blaine so aufgeregt, als müsste er nachher selbst auf der Bühne stehen. Zuerst trat eine Poledancerin auf, danach ein Hundeakrobat, gefolgt von einer Breakdance-Gruppe. Aber dann war endlich Colin an der Reihe. Blaine hielt den Atem an, als Colin die Bühne betrat. Er wirkte angespannt, lächelte nervös. Schwitzte im Scheinwerferlicht.
Hab keine Angst. Du schaffst das. Ich glaub an dich. Für mich hast du die schönste Stimme, die je existiert hat.
Die ersten Töne des Liedes erklangen. Keine echte Gitarre, nur Playback. Colin begann zu singen. Blaines Herz krampfte sich zusammen und er konnte nicht anders, als seine Gitarre, die neben der Couch stand, in die Hand zu nehmen und den Gesang damit zu begleiten. So wie früher. So, als absolvierten sie auch diesen Auftritt gemeinsam, und auf eine Art taten sie dass, auch wenn sie sich dabei an unterschiedlichen Orten befanden. Vielleicht würde es ihnen irgendwann wieder vergönnt sein, wieder zusammen zu musizieren. So wie in den letzten beiden Wochen zwischen den Auftritten. Es hatte sich fast schon wieder normal, fast schon wieder alltäglich angefühlt, aber das Fallbeil, das die Jury über sie gehängt hatte, war immer gegenwärtig.
Das Publikum zeigte sich wieder äußerst begeistert, raunte und applaudierte, wenn Colin besonders emotional sang. Auch die Jury schien sich in ihrer Entscheidung bestätigt zu sehen, auf Silas Codwells Gesicht zeigte sich jedenfalls ein zufriedenes Lächeln. Und Colin sah so schön aus. Man hatte sein Haar elegant mit Gel nach hinten frisiert, was seine feinen und doch maskulinen Züge betonte.
Blaine strich noch einmal über die Saiten und legte die Gitarre beiseite. Er wollte hören, welches Urteil die Jury über Colins Auftritt fällte, aber stattdessen war es Colin, der zu sprechen begann. Heiser. Zittrig.
Ich würde dir gerade so gern die Hand halten.
»Ich möchte unbedingt etwas sagen.« Er räusperte sich, klammerte sich wieder am Mikrofonständer fest. »Das ... das wird mein letzter Auftritt hier sein.«
»Was?
«, rief Blaine und ruckte hoch. Ein Raunen ging durch das Publikum.
»Nichts ... nichts hat sich je so falsch angefühlt, wie dieser Auftritt heute«, fuhr Colin fort. »Eine Hälfte hat gefehlt. Meine
bessere Hälfte. Blaine. Der beste Freund, den ich je hatte. Er will mir nicht im Weg stehen, aber ich will keinen Weg ohne ihn gehen. In keiner Beziehung. Ohne ihn fühlt es sich einfach nicht richtig an. Nicht echt. Blaine, wenn du mich gerade siehst, sei mir nicht böse. Du stehst mir nicht im Weg. Ohne dich ist es einfach keiner. Weil du
mein Lied bist. Danke ...« Er wandte sich ab und ging. Verließ die Bühne, einfach so, ohne abzuwarten, was die Jury antwortete.
Das Publikum johlte, raunte, applaudierte, pfiff. Alle im Saal schienen überfordert. Und Blaine konnte es ihnen nachfühlen, denn er saß wie erstarrt auf seiner Couch. Sein Herz pochte laut und schmerzhaft. C-O-L-I-N.
»Was tust du?«, krächzte er. »Was tust du da?«
Bacon stand auf und stupste ihn besorgt an. Geistesabwesend hob Blaine eine Hand und kraulte ihn hinter dem Ohr.
»Der Kerl ist verrückt. Er wirft einfach alles hin, weil ... weil ich ihm fehle. Weil er ohne mich nicht will. Und wenn ich ehrlich sein soll, dann will ich auch nicht ohne ihn. Was machen wir denn jetzt?«
~*~*~*~
Die folgenden Stunden vergingen wie in Trance. Die Sendung lief weiter, ohne dass Blaine sie beachtete, danach kam eine andere und noch eine.
Er war immer noch wach und ihm war schlecht vor Aufregung. Er hatte Colin eine Nachricht geschrieben und versucht, ihn anzurufen, aber nichts erreicht. Inzwischen war es drei Uhr morgens.
Ich will keinen Weg ohne ihn gehen. In keiner Beziehung.
Alles in seinem Kopf spielte verrückt, wenn er diese Aussage durchdachte. Was sie alles bedeuten könnte. Steigerte er sich da in etwas hinein oder war es möglich, dass auch Colin mehr als
Freundschaft in ihrer Beziehung sah, dass er sich mehr als nur gemeinsames Abhängen und Musizieren wünschte?
Blaine wäre bereit. So bereit wie für nichts anderes im Leben. Und doch war da die Tatsache, dass Colin seinetwegen die Chance auf eine Karriere als Sänger aufgegeben hatte. Für ihn und seine Gitarre. Würde es zwischen ihnen stehen? Ihm irgendwann zum Vorwurf gemacht werden?
Es waren so viele Dinge, die Blaine seit der Ausstrahlung der Sendung beschäftigten, dass ihm der Kopf schmerzte. Er sehnte sich nach Schlaf. Aber er hatte Angst, dass er dann einen Anruf von Colin verpassen könnte.
Und dann klingelte es plötzlich an seiner Tür. Mitten in der Nacht. Aufgeregt stürzte er zum Wohnungseingang, stolperte beinahe über seine eigenen Füße. Er riss die Tür auf und ehe Colin überhaupt irgendetwas sagen konnte, zog Blaine ihn in seine Arme und drückte ihn fest an sich.
»Du Spinner!«, rief er. »Du verrückter Spinner! Was tust du?«
»Das Richtige«, raunte Colin in sein Ohr. »Einfach das Richtige. Ich will nur deine Lieder singen, Blaine. Und wenn ich das nicht darf, dann bleib ich lieber stumm.«
Blaine heulte auf, zog Colin in die Wohnung hinein und schloss die Tür. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Wirklich nicht. Meine Gefühle spielen seit heute Abend verrückt. Ich will dich rütteln und anschreien, aber gleichzeitig ...« Er brach ab und schüttelte den Kopf.
»Gleichzeitig was?«, hakte Colin nach.
»Dich ... küssen«, flüsterte Blaine und senkte den Blick. Jetzt war es raus. Jetzt konnte er es nicht mehr zurücknehmen.
»Dann tu es doch. Ich warte schon ewig darauf.«
»Wirklich?« Blaine sah auf.
»Ja doch!«
Einen Augenblick standen sie da und starrten sich an, unsicher, obwohl sie beide wirklich das Gleiche wollten. Schließlich war es Blaine, der den ersten Schritt machte. Der Colin wieder in seine Arme zog, seinen ganzen Mut zusammennahm und ihn küsste.
Endlich spürte er diese weichen Lippen, die sonst Worte mit der wundervollen Stimme formten. War ihm so nah, wie er es sich schon lange Zeit gewünscht hatte. Die große Bühne verkam zu einer unwichtigen Nichtigkeit, denn das hier war es, was das Leben schön machte: Jemandem wichtiger sein als alles andere. Sich für das Wir
entscheiden.
Es blieb nicht beim Küssen. Und Blaine musste feststellen, dass auch hier ihr Zusammenspiel das war, was er als perfekt
betrachtete. Sie harmonierten miteinander, ergänzten sich und Blaine berührte Colins Körper noch hingebungsvoller als die Saiten seiner Gitarre, wenn sie zusammen musizierten. Bis zum Hörepunkt.
»Fühl mal.« Colin ergriff Blaines Hand und legte sie auf seinen Brustkorb, dort, wo das Herz schlug. »Ich bin gerade aufgeregter als vor jedem Bühnenauftritt. Und glücklicher als nach jedem Applaus.«
»Und ich erst.« Blaine streichelte Colins Brust. »Ich fühle mich auf einmal wie ein Gewinner. Aber was tun wir jetzt?«
»Na, wieder gemeinsam Musik machen, wie bisher. Nur eben als Paar und nicht nur als beste Freunde ... wenn du willst.«
»Natürlich will ich. Gott, ich will nichts mehr als das. Aber wirst du es wirklich nicht bereuen?«
»Niemals«, sagte Colin fest und sah ihm in die Augen. »Bereut hätte ich nur, wenn sich wegen ›We’ve Got Talent‹
unsere Wege getrennt hätten. Ich liebe dich, Blaine.«
»Und ich dich, Colin. Darum hätte ich alles für dich aufgegeben. Jederzeit.«
Sie lagen noch bis zum Morgengrauen beieinander, genossen die Zweisamkeit und die Entscheidung, die sie füreinander getroffen hatten. Irgendwann wollte jedoch Bacon seine morgendliche Gassirunde gehen und sie standen auf.
»Ich hüpf inzwischen mal unter die Dusche«, verkündete Colin, doch in diesem Augenblick klingelte sein Handy.
»Wer ist das denn um die Zeit?«, fragte Blaine und hob eine Braue.
»Ich weiß nicht. Eine fremde Nummer. Ich geh mal ran. Hallo?«
Blaine konnte nicht verstehen, was die Stimme am anderen Ende sagte, aber Colins Miene wirkte erst angespannt, dann baff erstaunt.
»Im Ernst jetzt? Das wäre ja fantastisch. Also ... ich muss mit ihm darüber reden, ja. Kann ich mich bei Ihnen melden? Okay. Vielen Dank.« Er legte auf, wirkte in seinen Grundfesten erschüttert. »Du wirst nicht glauben, wer das war.«
»Wer denn?«
»Ein Mitarbeiter von ›We’ve Got Talent‹
. Silas Codwell hat ihn persönlich beauftragt, mich anzurufen.« Er schluckte hart und seine Miene wurde feierlich. »Die wollen, dass wir zurückkommen.«
»Wir?
«, fragte Blaine aufgeregt.
»Ja. Wir.« Colin lächelte und ergriff Blaines zitternde Hände. »Wir beide. Als Duo. Denn wir gehören einfach zusammen.«