Der blaue Raum
ALICE CAMDEN
Chad seufzte leise, nahm die Schultern zurück. Unaufhörlich strömten die Eindrücke des Renaissance-Marktes auf ihn ein, doch sie prallten an ihm ab, erreichten ihn nicht. Wenige Schritte von ihm entfernt stand ein Zirkuswagen, der zu einem mobilen Café umgebaut worden war. Und darin befand sich seine letzte Chance.
Beiläufig schob er den Ärmel seines Shirts nach oben, strich mit der Fingerkuppe über die verkrusteten Kratzspuren auf seinem Unterarm. Wie sollte er einem Arzt diese Wunden erklären, ohne in eine psychiatrische Klinik eingeliefert zu werden?
Der harte Klang der Metalband dröhnte von der Hauptbühne herüber. Darunter mischten sich unzählige Melodien, die von den kleineren Bühnen schallten. Ein Teppich aus Klangfarben lag über dem Markt, überboten nur von den verschiedenen Düften. Wohlriechende Seifen wurden neben gebrannten Mandeln und Zuckerwatte angeboten. Ein Meer von Menschen strömte durch die Gassen des Marktes, niemand schien ihn zu bemerken.
Links und rechts säumten unzählige Stände die Wege und am Ende einer dieser Verkaufsstraßen befand sich ein Flecken Gras. Darauf thronte das rollende Café. Rote Farbe herrschte vor, wurde hier und da von gelben Ornamenten abgelöst. Getränke wurden sowohl im Wagen als auch durch ein Fenster verkauft.
Chad sog die duftschwere Luft in seine Lungen, atmete langsam wieder aus. Prüfend las er die Preistafel.
Kaffee $2
Kaffee Latte $3,50
Cappuccino $4
Zitronenkuchen aus eigener Herstellung $3/Stück
Geburtshoroskope $40
Handauflegen bei Migräne oder Übelkeit $20
Geisteraustreibung $25/Stunde & Geist
Unruhig bewegte er die Finger, ging in Gedanken die Telefonnummern der Ärzte durch, die er in den letzten Wochen hatte anrufen wollen. Gewählt hatte er keine der Nummern.
Chad schluckte trocken, doch der Kloß voller Bedenken in seiner Kehle wollte sich nicht lösen. Beklemmung ließ seine Brust eng werden. Die fröhlichen Besucher des Marktes in ihrer bunten Kleidung liefen an ihm vorbei, als würden sie zu einer anderen Welt gehören.
Zu einer Welt, in der niemand in der Nacht von Klopfen und Rufen geweckt wurde, obwohl er allein in einem Haus lebte. Eine Welt, in der er jeden Abend am Fenster stehen konnte, seine Gitarre umgehängt und einfach seinen Lieblingssong spielte. Nothing else matters. In dieser anderen Welt gab es keine scharfen Fingernägel, die ihn plötzlich blutig kratzten. Ihn verletzten: am Arm, an der Schulter, am Rücken. Und all das, während sich niemand außer ihm im gesamten Haus befand.
Vor zwei Tagen hatte der Flyer des Cafés in seinem Briefkasten gelegen.
Geisteraustreibungen. Was für ein Humbug. Das Wort kroch an seiner Wirbelsäule nach oben, bis hinein in sein Hirn und trat als eisiger Schauder wieder hervor.
Und doch war es einen Versuch wert. Bevor er die Nummer eines Arztes wählte, konnte er einem Scharlatan eine Chance geben. Zumindest würde der ihn nicht für verrückt erklären.
Entschlossen trat Chad einen Schritt vor, dann noch einen und noch einen. Ein Weinen riss ihn aus seinen Gedanken. Verwundert sah er sich um, das Geräusch kam von unten. Er senkte den Blick und blinzelte überrascht.
Auf der untersten Treppe des Wagens saß ein kleines Mädchen von vielleicht sechs Jahren. Sie trug ein blaues Kleid und ihr dunkler Pferdeschwanz war mit einer Schleife gebunden. Eine ihrer Wangen war geschwollen, glühte in dunklem Rot.
Chad griff in seine Hosentasche, streckte die Finger aus, und beförderte ein Honigbonbon hervor. Verwundert betrachtete er es für einen Moment, hielt es dann dem Mädchen hin.
Es war eines dieser altmodischen Bonbons, hergestellt nach einem Familienrezept. Die Manufaktur samt Laden lag in der Innenstadt von Greenhill. Wann hatte er sie besucht? Es wollte ihm nicht einfallen. Bienen in unterschiedlicher Ausführung zierten das Wachspapier. Mit dem Daumen strich Chad über ein dickes Exemplar, das lächelte. Eine Erinnerung blitzte in seinem Kopf auf, wollte sich mit einem Gefühl verbinden. Im nächsten Augenblick verblasste sie. Die Bonbons aus diesem Laden wurden von Hand hergestellt und kosteten entsprechend viel. Er musste den kleinen Schatz schon lange in der Hosentasche herum tragen.
Vorsichtig nahm das Mädchen das Honigbonbon von seiner Hand, betrachtete die Verpackung mit großen Augen und vergaß darüber offensichtlich das Weinen.
»Hast du dich mit jemandem gestritten?«, fragte Chad und zeigte auf ihre Wange.
»Mein Vater. Er streitet sich meistens mit meiner Mutter. Aber sie war nicht da.« Sie drehte das Bonbon zu allen Seiten, lächelte zaghaft.
»Wo ist deine Mutter jetzt?« Chad sah über seine Schulter, die Andeutungen des Mädchens schlossen sich als Bedenken um seinen Magen und drückten fest zu.
»Ach, sie ist fort«, antwortete sie und öffnete das Papier, schob sich das Bonbon in den Mund.
Chad streckte die Hand aus. »Dann bringe ich dich zur Polizei. Sie finden deine Mama sicher.«
Die Tür des Caféwagens öffnete sich schwungvoll und heraus trat ein großer Mann. Sein blondes Haar hing ihm lang in den Rücken, dunkle Perlen fassten hier und da Zöpfe zusammen. Er trug eine schwarze Bondagehose, Arbeitsstiefel und ein enges schwarzes Hemd. Unzählige Ringe zierten seine Finger, Armreifen seine Handgelenke. Feingliedrig und schön wie ein Elfenprinz war er.
»Ah, Rosie, da bist du ja. Komm, ich bringe dich nach Hause.«
»Sind Sie der Vater?«, fragte Chad und der Kampfgeist des Quarterbacks, der er einst gewesen war, brandete in ihm auf. Das Kind würde auf keinen Fall mit diesem Kerl gehen.
»Natürlich nicht«, gab der Mann mit dem auffällig schönen Gesicht zurück. »Ich bin Jules Hel und dies ist mein Café. Junger Mann, machen Sie sich keine Sorgen. Das Kind ist bei mir in den besten Händen.«
»Onkel Jules ist immer lieb zu mir. Jetzt ist alles gut«, bestätigte das Mädchen erfreut, stand auf und schob seine Hand in die des großen Mannes.
»Was ist mit deinem Vater?«, fragte Chad skeptisch. Es tat gut, sich um einen anderen Menschen zu sorgen. Die letzten Monate waren verdammt einsam gewesen.
»Onkel Jules ist doch viel stärker als er. Wenn er bei mir ist, bin ich sicher.«
»Jules Hel?«, murmelte Chad mehr zu sich selbst. »Der Schamane mit dem rollenden Café?«
»Café Crystal Ball, so ist es. Aber Schamane?« Der schöne Kerl in der seltsamen Kleidung rümpfte die Nase.
»So stand es im Flyer.« Chad zuckte mit den Schultern.
»Ich sollte mein Marketing selbst übernehmen«, überlegte Jules laut und winkte ab. »Zu viel Arbeit.« Er zeigte ein schmales Grinsen. »Ich sehe, du wolltest zu mir?«
Chad nickte nur, drängte die aufkommende Abwehr zur Seite. Eine Chance kann ich ihm geben.
»Ah. Wie du siehst, bin ich eine Weile beschäftigt. Geh einfach rein. Mein Assistent kann dir sicher weiterhelfen. Byebye.« Mit diesen Worten verließ er die unterste Treppenstufe. Das kleine Mädchen an der Hand verschwand er bald in der Menschenmenge.
Chad starrte ihm mit offenem Mund hinterher. Zwei Tage und Nächte hatte er gebraucht, um sich zu diesem Gang zu überwinden. Und der verdammte Schamane rauschte einfach ab und ließ ihn mit dem Assistenten allein?
Wie wurde man überhaupt zu einem Schamanen-Assistenten? Musste man sich dafür bewerben, eine Ausbildung in Scharlatanerie durchlaufen? Esoterik hatte ihn noch nie interessiert. Ja verflucht, was tat er eigentlich hier?
Fragen schwirrten in Chads Kopf umher, da juckte eine der Wunden am Unterarm so sehr, dass er darauf drücken musste. Nachts kratzte er sie unwillkürlich auf, aber tagsüber vermied er es, um die Narbenbildung zu verhindern.
Jede verdammte Nacht wachte er mit juckenden Wunden und schweißgebadet auf. Seine Arme blutig, eine fremde Stimme dröhnte in seinem Kopf. Und jedes Mal stand er auf, öffnete das Fenster einen Spaltbreit und begann, Gitarre zu spielen.
Nothing else matters. Die Akkorde flossen aus seinen Fingern, die einfache Melodie spülte bald die Panik fort. Und irgendwann wurde es still in seinem Kopf. Verdammt! Er brauchte Hilfe. Eine Chance. Eine einzige.
Mit langsamen Schritten stieg er die Stufen hinauf, umschloss die Messingklinke mit den Fingern, spürte für einen Moment das kühle Metall. Dann öffnete er und trat ein.
Er schloss die Augen kurz, schnaufte leise. Kaum einen Schritt von ihm entfernt saß ein junger Mann auf einem Stuhl, die Füße auf der Theke und spielte an seinem Handy. Er war ebenso blond wie der Schamane, doch dort endeten die Gemeinsamkeiten.
Denn Jules Hel wirkte wie ein Mensch, dem andere Ungeheuerlichkeiten erzählen konnten, ohne dass er mit der Wimper zuckte. Der Kerl hinter der Theke starrte Chad aus großen blauen Augen an. Er trug ein rotes T-Shirt, Jeans und gleichfarbige Sneaker. Nichts an ihm sagte: Ich bin der Assistent eines Schamanen und Merkwürdigkeiten sind mein Geschäft. Schlimmer noch: Mit seinen geschwungenen Lippen, der geraden Nase und den Grübchen war er nicht nur hübsch, sondern genau Chads Typ. Für den verstrubbelten Look hatte er sicher Stunden investiert. Sie mussten sogar im gleichen Alter sein. Der junge Mann wirkte kaum älter als zwanzig. In einer Kleinstadt wie Greenhill, tief im ländlichen Connecticut, hätte ihm dieser Kerl doch auffallen müssen. Wahrscheinlich reiste der mit dem Schamanen umher, blieb nie lange an einem Ort. Chad überlegte, suchte nach etwas Bekanntem im Gesicht seines Gegenübers, fand nichts.
»Hallo«, sagte der jetzt, legte das Handy auf die Theke und stand auf. »Ich bin Jesse. Kann ich etwas für dich tun?«
Instinktiv straffte Chad den Oberkörper. Er war doch einmal ein gutaussehender Kerl gewesen, oder? Vor den Augenringen, der ungesunden Hautfarbe und den Narben. Seit er unter diesem ständigen Schlafmangel litt, lief die Zeit ineinander, vieles ergab keinen Sinn mehr. Dauernebel waberte um sein Hirn.
»Chad«, erwiderte er mit trockenem Mund. »Ich wollte eigentlich mit Jules Hel sprechen. Dem Schamanen.«
Jesse nickte. »Du musst ihn noch gesehen haben. Er wird eine Weile unterwegs sein.« Jesse schenkte ihm einen langen Augenaufschlag, sah ihn für die wichtigen Sekunden zu lange an. Die Sekunden, die Interesse bedeuten konnten.
Chads Gesichtsmuskeln zuckten unruhig. In den letzten Monaten hatte er nicht einmal mehr einen Gedanken an einen Mann festhalten können. Immer wenn er diese alte Sehnsucht in sich spürte, löste sie sich kurz darauf auf, verband sich mit seinem Hirnnebel.
Chad sah zur Seite. »Nur der Schamane kann mir helfen.«
»Das kommt auf einen Versuch an, oder?« Jesse grinste schief und hob eine Schulter.
Der Satz hallte in Chads Kopf, wurde zu einem Schlüssel und wollte eine Truhe öffnen, die verschlossen blieb. Er trat unruhig auf der Stelle, das Holz knarrte unter seinen Bewegungen. Noch konnte er gehen oder vor der Tür auf Jules Hel warten, den Geisterbeschwörer, der aus einem Fantasyfilm zu stammen schien. Wenn er sich diesem Jesse offenbarte, würde der über ihn lachen? Oder am Ende die Polizei rufen? Nun, er arbeitete in einem rollenden Café für einen sonderbaren Kerl. Ein Versuch!
»Ich glaube ... also ich ...« Chad stammelte die Worte, räusperte sich. »Ich bin besessen.«
Er hob den Blick, sah Jesse in die Augen. Dessen Gesicht blieb ernst. Jesse atmete hörbar aus, schluckte und nickte schließlich. »Ich verstehe«, sagte er leise. »Und wie lange schon?«
Chad zog die Augenbrauen zusammen, legte die Stirn in Falten. Mit dieser Frage hatte er nicht gerechnet. Angestrengt suchte er seinen Kopf nach der Antwort ab. Viel zu lange , wollte er sagen. Aber der Schlafentzug, die ständige Angst im Nacken, all das weichte sein Hirn langsam auf.
»Ich weiß es nicht genau«, gab er zu. »Ein paar Monate auf jeden Fall.«
Jesse klappte eine hölzerne Abtrennung nach oben, kam zu Chad in den vorderen Bereich des Wagens. Chad wich zurück.
»Wie äußert sich die Besessenheit denn?«, fragte Jesse und lehnte sich gegen die Theke, deutete auf einen kleinen Tisch in der Ecke, an dem zwei Stühle standen.
Chad nahm Platz, spürte die harte Lehne wie ein Schutzschild in seinem Rücken. Jesse sah ihn aufmerksam an.
Chad hob eine Hand. »Ich würde jeden für verrückt erklären, der mir so einen Unsinn erzählt. Aber jetzt bin ich hier.«
»Du hast meinen Chef gesehen?«, fragte Jesse, ohne den Blickkontakt zu brechen. »Jeder, der behauptet, es gäbe keine Geister, wird von ihm für verrückt erklärt. Hier bist du sicher.«
Ja, hier bin ich sicher. Chad atmete erleichtert aus. Schließlich schob er die Ärmel seines Langarm-Shirts nach oben. Verkrustete Striemen wurden sichtbar. Nicht wie von einer Katze, mehr wie von menschlichen Fingernägeln, die sich fest in sein Fleisch gebohrt hatten. Sie überzogen beide Unterarme.
»Es gibt auch welche auf einer Schulter und auf meinem Rücken«, erklärte er.
Längst hatte Jesse den Mund zu einer Grimasse verzogen. Sein Gesichtsausdruck zeigte Mitgefühl und Bedauern zur gleichen Zeit.
»Das tut mir so leid«, flüsterte er, rührte sich nicht vom Fleck. Nervös strich er mit zwei Fingern über seine Lippen. »Schrecklich.«
»Es passiert meistens nachts. Aber manchmal auch am Abend, wenn ich Gitarre spiele. Ich sehe nichts, höre keine Geräusche. Mir wird auch nicht kalt, oder etwas, was man aus Horrorfilmen kennt. Die Ungewissheit macht mich ganz verrückt. Ich ahne nie, wann es passiert. Finger schließen sich plötzlich um mein Handgelenk, zerren an mir. Dann höre ich ihn rufen.«
»Ihn?« Jesse hob das Kinn ein Stück.
»Ja. Es ist eine männliche Stimme.«
»Jemand, den du kennst?«
»Vielleicht. Sicher bin ich nicht. Die Stimme ist gedämpft, so als würde jemand durch dicke Wände rufen.«
»Was ruft er denn?«
»Meinen Namen.« Chad sprach schnell, um nicht von der eigenen Panik eingeholt zu werden. Es tat so gut, endlich einem anderen Menschen davon zu erzählen und gleichzeitig tobte ein Sturm in seinem Magen.
»Ziemlich durchgedreht, was?«, sagte er geschlagen, wollte aufstehen. »Ein Arzt kann mir sicher helfen.«
Mit zwei Schritten erreichte Jesse ihn, stützte sich mit einer Hand auf dem Tisch ab und sah ihm in die Augen. »Chad, gib mir eine Chance. Ich will dir helfen«, sagte er so überzeugt, dass die Worte wärmend in Chad flossen.
»Okay. Da ist noch mehr«, gestand er. »Seit ein paar Wochen ruft er nicht nur meinen Namen. Er will, dass ich etwas suche. Ich verstehe nicht, was.« Er hob beide Schultern, ließ sie langsam sinken. »Völlig verrückt, was?«
»Kennst du ihn ?« Jesse blinzelte, brachte sein Gesicht näher an Chads.
Er roch so gut, nach einer Kräuterseife, die sicher von seinem Boss stammte und nach ein wenig Schweiß, nach Mann. Für einen wundervollen Augenblick hüllte sie eine bunte Blase ein. Es gab keine Ängste und keine Bedenken mehr.
»Vielleicht«, murmelte Chad beschämt. Wie viel konnte er noch erzählen? Wenn selbst in seinem Kopf nichts davon Sinn ergab, wie sollte es ein anderer Mensch verstehen? »Ein Bekannter von mir ist vor einem Jahr gestorben. Er wurde ermordet. Im Blue Room , dem alten Motel am Highway. Es liegt nur eine Meile von hier entfernt.«
Für eine Weile sah Jesse ihn an, schien etwas zu suchen, das hinter Chads Augen lag. »Ein Bekannter?«, fragte er schließlich leise.
Chad nickte. »Ich bin mit ihm zur Schule gegangen. Wir waren beide in einer Begabtenklasse für Musik.«
»Wart ihr eng befreundet?«
»Wir ...« Chad stöhnte leise, Nebel verhüllte seine Gedanken. Er hob die Schultern, schüttelte den Kopf. »Hast du nichts davon gehört?«, fragte er schließlich. »Der Drei-Jahres-Mörder-Fall?« Jesse lehnte sich gegen die Wand, blieb ruhig und hörte weiter zu. »Der erste Mord liegt zehn Jahre zurück. Man hat einen siebzehnjährigen Jungen am Highway gefunden. Drei Jahre später einen achtzehnjährigen, nur fünf Meilen vom ersten Fundort entfernt. Alle im Umkreis von zehn Meilen von Greenhill.«
»Und dein Bekannter? Hat man ihn auch gefunden?«
»Nein. Er blieb verschwunden. Aber jemand hatte etwas beobachtet. Und die Besitzerin des Motels hat ausgesagt, dass er dort war. Zusammen mit einem Mann, der ungefähr zwanzig Jahre älter als er gewesen ist. Es gab ...« Ein lautes Dröhnen erschütterte Chads Kopf, erschwerte das Denken. »Blut. Glaube, ich. Es gab Blut im Flur des Motels. Die Polizei sucht immer noch nach der Leiche.« Chad blickte über den schäbigen Holztisch ins Leere.
»Warst du schon einmal in diesem Motel?« Jesse sah ihn fragend an.
Sofort schüttelte Chad den Kopf. »Nein«, sagte er und wusste nicht, woher das Wort stammte. Er konnte sich tatsächlich nicht erinnern. Aber er wusste ohnehin meist nicht mehr, was er am vorherigen Tag getan hatte.
»Das könnte eine Spur sein«, sagte Jesse milde. »Der Geist eines Verstorbenen ist oft an einen wichtigen Ort gebunden. Und nicht selten ist es der, an dem der Mensch gestorben ist.«
»Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es der Junge ist. Ich sehe ihn nie, höre nur eine gedämpfte Stimme«, brummte Chad abwehrend. Hohe Mauern voller Dornen schienen das Blue Room Motel zu umgeben. Und er besaß kein Schwert, um die Dornen zu durchschneiden, keine Leiter, um über die Mauer zu gelangen. »Wenn er dort gestorben ist, würde er sich mir dann zeigen?«, fragte er unsicher.
Jesse nickte langsam. »Gut möglich.«
Nothing else matters. »Mögen sie Musik? Die Geister, meine ich?«, fragte Chad und lachte über sich. Was für eine alberne Frage. Jesse strahlte so viel Wärme und Verständnis aus. In seiner Gegenwart wurden die sonderbarsten Dinge zur Normalität.
»Geister sind die zurückgebliebene Essenz eines Verstorbenen. Aus einem bestimmten Grund sind sie an diese Welt gebunden. Ja, sie bevorzugen oft das, was sie im Leben auch mochten.« Jesses dunkle Stimme klang selbst wie Musik, ließ Chad lächeln.
»Er hat mir zugehört, wenn ich Gitarre gespielt habe. Und manchmal mitgespielt. Er war wirklich gut.« Ein leiser Ton klang in seinem Kopf an, dann noch einer und viele folgten, ergaben eine Melodie. Nothing else matters. »Melodischer Hardrock mit einer Geige.« Die Worte strömten aus einem düsteren Ort in seinem Hirn in seinen Mund. »Er hat Geige gespielt und ich Gitarre. Vielleicht ...« Er sah auf, suchte Jesses Blick ab. Aber keine Skepsis lag darin, keine Abwertung. »Ob er antwortet, wenn ich spiele? Wenn ich nur mit ihm reden könnte. Dann könnte ich ihm erklären, dass er mich nicht mehr kratzen soll.«
»Eine Geisteraustreibung hat das Ziel, dem Geist den Weg ins Licht zu zeigen«, erklärte Jesse und schluckte hart. »Wenn er es ist, der dich quält, dann kann ich ihn hoffentlich nicht nur von dir, sondern von den Fesseln befreien, die ihn an die Erde binden.«
Chad verengte die Augen zu Schlitzen. Gab es nicht Gerüchte im Ort? Nur wo hatte er die gehört? Man wollte ihn für tot erklären, den Jungen mit der Geige.
»Ich ...«, murmelte Chad selbstvergessen. »Vielleicht will er mir sagen, wo seine Leiche ist?« Hilfesuchend sah er Jesse an. »Ist ein Besuch in einem verlassenen Motel im $25 Stundenlohn inbegriffen?«
»Das Aufsuchen von verlassenen Orten steht ganz oben auf der Liste«, versicherte Jesse ihm und lächelte hinreißend.
Der Gedanke an diesen Ausflug ließ Übelkeit aus Chads Magen aufsteigen und lastete tonnenschwer auf seiner Brust. Und doch musste er unwillkürlich lächeln.
»Ich wohne gleich hier«, erklärte er. »Nur eine Querstraße vom Park entfernt. Lass mich nur meine Gitarre holen.«
»Ich fahre dich. Ist auch im Preis enthalten«, erwiderte Jesse, zog einen Autoschlüssel aus der Hosentasche und zeigte zur Tür. »Nach dir.«
~*~*~*~
Die Sommersonne tauchte die Felder und Wiesen am Highway in helles Licht. Chad betrachtete Jesse aus den Augenwinkeln, seine Gitarre lag auf dem Rücksitz des 78’er Oldsmobiles. Dabei hätte zu Jesse ein moderner Sportwagen gepasst, vielleicht ein Pick-up.
»Warum ist das Motel eigentlich verlassen?«, fragte Jesse interessiert.
Chad musste nachdenken, die Räder in seinem Kopf bewegten sich langsam und schwerfällig. Schon setzte Jesse den Blinker, fuhr an dem Motelschild ab und ein Stück hinein in den Wald. Sie hielten auf dem einsamen Parkplatz an.
»Wegen des Mordes«, erzählte Chad und betrachtete das Motel. Die blaue Farbe strahlte immer noch, die Fenster wirkten frisch geputzt. Das Gebäude wartete nur auf neue Gäste, die nie kommen würden. »Da war Blut im Flur«, murmelte Chad und beinahe konnte er die Blutspur sehen, sogar riechen. »Die Polizei hat die Gäste und die Besitzerin verhört. Aber der Mörder und sein Opfer blieben verschwunden. Niemand wollte mehr hier übernachten.«
»Verständlich. Sie hatten wohl Angst, dass wieder ein Mord passiert.«
»Angst, ja.« Chad drehte den Kopf und blinzelte.
Jesse hatte die Beifahrertür geöffnet und er hatte es nicht einmal bemerkt. »Wollen wir?«, fragte Jesse geduldig. Über seiner Schulter trug er einen großen Rucksack.
»Sind da deine Geisterjäger-Waffen drin?«, fragte Chad, unfähig seine Beine zu bewegen.
»Und das Blitzdings.« Jesse lächelte schmal, lehnte sich mit einem Arm an das Autodach und etwas weiter in den Wagen. »Chad. Vertrau mir. Es kann dir nichts geschehen.«
»Was, wenn dir etwas geschieht? Ich bin kein Geisterjäger, wie soll ich dir helfen?« Chad schnaufte, schüttelte den Kopf. Die Worte waren einfach über seine Lippen gekommen. Mit Jesse zu flirten, fiel ihm so leicht. Erstaunlich.
»Keine Sorge, ich bin bewaffnet.« Jesse zeigte mit dem Kinn auf seinen Rucksack, schob eine Hand unter Chads Oberarm.
Chad betrachtete die langen Finger, ein Gefühl von Nähe, das er so lange vermisst hatte. Jesse zog ihn sanft zu sich.
Chad nickte, die Beklemmung krampfte seine Lunge zusammen, erschwerte jeden Atemzug. Zögerlich stieg er aus dem Wagen, öffnete die hintere Tür und schulterte sein Gitarren-Case. Nothing else matters.
Langsam trottete er hinter Jesse zum Gebäude, betrat die Lobby. Sie wirkte so, als wäre sie gerade erst von den letzten Gästen verlassen worden. Auf den Möbeln lag nicht einmal Staub. Alles war in unterschiedlichen Blautönen gehalten. Ein Gefühl, ebenso grauenvoll wie vertraut, kroch über Chads Rückgrat. Er sollte nicht hier sein! Hier lauerte nur der Tod auf ihn.
Wie ein Wesen mit langen Gliedern und Krallen kroch die Panik über den hölzernen Fußboden. Sie erreichte Chad, kratzte an seinen Jeans, grinste ihn mit ihrem stinkenden Maul an. Die hellblauen Wände der Lobby schienen plötzlich näher zu kommen. Möbel drehten sich, Fratzen starrten ihn aus den Sesseln an. Die Luft verwandelte sich, wurde dickflüssig, erreichte seine Lungen nicht mehr. Wesen mit verdrehten Körpern, ohne Augen und mit langen Klauen krochen aus dem Teppich und den Wänden und kamen immer näher.
»Wir müssen hier raus!«, rief er atemlos und es kam nur als krächzendes Geräusch aus seiner Kehle. »Sofort!«
Jesses Finger umschlossen seine Hand, warm und sicher. »Was siehst du?«, flüsterte er.
»Monster. Hier sind überall Monster. Sie sind ...« Chad schluckte, sah das schrecklichste Wesen von allen. Ein großer Mann, hager und mit Glatze wankte auf ihn zu, eines seiner Augen fehlte, Blut rann über seinen Kopf. »Der Tod. Es ist der Tod.« Chad zitterte am ganzen Körper. »Wir sind nicht sicher.«
»Doch!«, sagte Jesse mit fester Stimme. Mit einem Mal stand er vor Chad, musste den Kopf ein wenig in den Nacken legen, um ihn anzusehen. Er legte beide Hände an Chads Wangen. »Du bist bei mir sicher. Wir gehen jetzt hinauf und du wirst spielen. So wie wir es besprochen haben.«
Chad schüttelte den Kopf. »Wir werden hier sterben. So wie er. Ich kann das nicht.« Er stotterte die Worte, in einem chaotischen Strudel schwirrten seine Gedanken umher. Die Angst hatte ihn übernommen, lenkte ihn.
»Ist es einen Versuch wert?«, fragte Jesse so eindringlich, dass die Monster für einen Augenblick schwiegen.
»Immer«, antwortete Chad und wusste nicht warum. Die Wesen hielten inne, der hagere Mann grinste ihn hämisch an, kam aber nicht näher. »Es ist immer einen Versuch wert«, wiederholte er mit festerer Stimme.
»Dann komm.«
Ihre Finger verschränkt, zog Jesse ihn weiter, die Treppe hinauf in den ersten Stock. Der Mann folgte ihnen in geringem Abstand. Sein fauliger Atem strömte in Chads Nase, ließ ihn würgen.
»Er ist es nicht«, murmelte Chad verwirrt. »Der Kerl hinter uns. Er ist es nicht, der mich ruft. Aber er will wissen, wo der Junge mit der Geige ist.«
Wortlos zog Jesse ihn weiter. Und dann standen sie auf einem blauen Teppich in einem typischen Motelflur. Wenige Sonnenstrahlen fielen durch das kleine Fenster am Ende des Flurs. Ein vertrauter Duft stieg in Chads Nase. Der metallische Geruch von Blut.
Zuerst sah er die Spritzer an der Wand, dann die handtellergroßen Flecken auf dem Teppich. Mit jedem Augenblick vergrößerten sie sich, wurden bald zu Pfützen. Er musste sich den Arm vor die Nase halten. Das Geräusch von Schritten hinter ihnen wandelte sich in ein Schmatzen, das die Schuhe auf dem durchtränkten Teppich verursachten.
Chad umfasste Jesses Hand fester. »Er ist direkt hinter uns.«
»Wenn wir zusammenbleiben, kann er uns nichts tun«, erklärte Jesse überzeugt.
»Deine Waffe«, raunte Chad ihm zu. »Du musst ihn töten.«
Jesse bliebt stehen, sah ihn an. »Erinnere dich, Chad. Der Junge mit der Geige – du wolltest mit ihm reden.«
»Er ist tot. Und das sind wir auch bald, wenn wir nicht hier raus kommen.« Chad packte Jesse an den Schultern. »Verstehst du nicht? Sieh doch!« Er zeigte über seine Schulter. Er konnte die Nähe des hageren Mannes in seinem Rücken spüren.
»Vergiss ihn und spiel für den Jungen.«
»Aber er ist doch tot.« Chad flüsterte die Worte voller Verzweiflung, wollte Jesse schütteln. Stattdessen ließ er seine Arme an dessen Schulter nach unten gleiten, umfasste die warmen Hände. »Und wir müssen leben.«
»Nothing else matters. Und jetzt spiel! Spiel für mich!« Jesse fragte nicht mehr, er forderte.
Nothing else matters. Mit zitternden Händen nahm Chad das Gitarren-Case von seiner Schulter, öffnete es und hängte sich die Akustikgitarre um. Töne! Er musste sie nur aus seinem Instrument zaubern. Vielleicht würden sie ihm wieder den Weg hinaus aus dem Grauen zeigen.
Verhalten begann er, die Melodie zu spielen. Und endlich nahm auch Jesse etwas aus seinem Rucksack. Hoffentlich griff er endlich zu seiner Waffe. Die schmatzenden Schritte hinter ihnen gehörten zu dem hageren Mann, Chad war sich ganz sicher. Er spielte weiter, ließ die Töne in seinem Körper wieder klingen. ... and nothing else matters ... Er schloss die Augen, erwartete den Tod, ruhiger und endlich nicht mehr einsam.
Da erklang ein zweites Instrument. Die Geige sang die Melodie in einer höheren Tonlage, klang erst melancholisch, dann hoffnungsvoll. Chad spielte weiter, sah den Geiger vor seinem inneren Auge.
Hübsch und blond war der Junge und in Chads Erinnerungen standen sie zusammen auf einer Bühne. Die Zuschauer hatten den Jungen mit der Geige verehrt, aber Chad hatte ihn geliebt.
Für so viel mehr als seine musikalische Begabung. Für sein Lachen und sein sanftes Wesen, dafür, dass er mehr in ihm sah als einen Quaterback, der gern Gitarre spielte. Dafür, dass er zuhörte und wunderbare Ideen hatte. Chad war der harte Kerl mit der Gitarre gewesen. Der Geiger war der Magier gewesen, der aus zwei Highschool-Jungs ein Duo mit einer vielversprechenden Karriere gemacht hatte.
Die Töne der Gitarre verschmolzen mit denen der Geige zu einem Song, der von Liebe und Sehnsucht erzählte. Der Blutgeruch verflog, die Schritte verklangen. Immer noch dröhnte die Todesangst in Chad. Doch sie senkte sich, verhallte mehr und mehr. Der Junge mit der Geige spielte ein letztes Mal mit ihm zusammen und Chad wollte jeden Augenblick auskosten.
Der Geigenbogen flog über die Seiten, das Lied erfüllte ihn bis hinein in jede Zelle. Er sah sich zusammen mit dem Jungen in der Schule, lachen, kämpfen, küssen und immer wieder Musik machen. Bilder kamen angeflogen, zeigten den Jungen, der auf Chads Bett saß und grinste. Er streckte die Hand aus und Chad kletterte zu ihm, verband ihre Lippen. Siehst du, es war einen Versuch wert, sagte der Junge und lachte bevor er sich in den nächsten Kuss beugte. Ein weiteres Bild stieg in ihm auf. Dieses klar und deutlich, die Vergangenheit verschmolz mit der Gegenwart.
~*~*~*~
Der Junge lehnte an Chads Schreibtisch, eine Hand fest um den Hals seiner Geige gekrampft, in der anderen hielt er den Bogen. Seine Gesichtszüge waren angespannt, zeigten Enttäuschung.
»Mir geht das alles zu schnell«, sagte er nachdenklich und vermied Chads Blick. »Ich habe doch das Stipendium für die Juilliard School und du wolltest für die Columbia Football spielen, sie haben dich gerade erst angenommen. Mann, Chad, wir gehen zusammen nach New York, schließen erst mal unsere Ausbildungen ab.«
»Dieser riesige Musikkonzern hat uns einen Vertrag angeboten. Wieso sollen wir noch drei Jahre warten? Dann will uns vielleicht niemand mehr sehen?« Chad sprach beschwörend und schnell.
»In drei Jahren haben wir beide gute Ausbildungen und können immer noch weitersehen.« Der Junge schüttelte den Kopf, legte die Geige und den Bogen auf den Schreibtisch und lief zur Tür. »Darüber muss ich nachdenken. Ich gehe eine Runde joggen.«
»Warte«, rief Chad ihm hinterher. »Es ist einen Versuch wert, oder? Das ist doch dein Satz?«
»Immer. Aber auch über einen Versuch muss ich nachdenken.« Leise schloss er die Tür hinter sich.
~*~*~*~
Nothing else matters. Chad spielte weiter, die Töne trugen ihn aus der Vergangenheit hinaus, zurück in die blutige Gegenwart des Motelflurs. Nur stank es dort inzwischen nicht mehr nach.
»Ist er noch da?«, flüsterte Chad die Frage, ohne die Augen zu öffnen oder sein Spiel zu unterbrechen.
Auch die Geige klang weiter durch den Flur.
»Nur ich bin da, Chad. Immer nur ich.«
Chad lächelte traurig, ließ seine Finger über die Seiten tanzen. Die Stimme des Geigers fügte sich harmonisch in ihr Spiel, war ihm so vertraut wie seine eigene.
»Wo bist du?«, fragte er und wagte nicht, die Lieder zu öffnen. Würde der hagere Mann vor ihm stehen?
»Dort, wo ich immer bin: bei dir.«
Chad schüttelte den Kopf. »Du bist nie zurückgekommen. Und plötzlich waren alle fort. Meine Eltern, alle Freunde. Sie haben nicht ertragen, dass du ...«
»Chad, ich bin hier, bei dir. Sieh mich an.«
Eine Hand legte sich von hinten auf Chads Schulter. »Er lügt«, flüsterte der hagere Mann mit kratziger Stimme in sein Ohr. »Er hat dich im Stich gelassen und kommt nie mehr zurück. Du wirst seinen Platz einnehmen.«
»Sieh mich an!«, wiederholte der Geiger. »Sag meinen Namen!«
Die Gedanken überschlugen sich in Chads Kopf, sein Herzschlag hatte die ruhige Melodie längst überholt. Wenn er jetzt die Augen öffnete, sah er entweder seinen hübschen Jungen, den ein Monster ermordet hatte. Oder er blickte dem Tod in die Augen.
Vorsichtig blinzelte Chad, gewöhnte sich wieder an das schummrige Licht im Flur. Immer noch spürte er die knochige Hand auf seiner Schulter. Ein Hauch von fauligem Atem umwehte seine Nase. Doch vor ihm stand – der Junge mit der Geige.
Und er spielte ihr Lied: Nothing else matters. Seine blauen Augen funkelten erwartungsvoll.
Chad unterbrach sein Spiel, ignorierte die Angst und öffnete den Mund.
»Jesse«, raunte er und ein Strom voller Sehnsucht schwamm mit dem Namen nach draußen. Als würde sich eine Nebelschicht um Jesse lösen, erkannte er ihn plötzlich. Nichts an ihm wirkte geisterhaft oder unwirklich. Vor ihm stand der hübsche Junge aus dem Café, der ihn zu diesem Motel gefahren hatte. Sein Jesse! Sein Liebster, dessen Tod so grauenhaft gewesen war, dass er ihn verdrängt hatte. Und er wirkte sehr lebendig.
Chad lächelte, schlang beide Arme um Jesse, drückte ihn samt Geige und Bogen fest an sich. »Es ist immer einen Versuch wert«, raunte er in das Ohr seines Freundes.
»Willkommen zurück, Liebling.« Jesses Stimme klang leise und unendlich erleichtert.
»Aber du warst doch fort.« Chad ließ ihn nicht los, zu groß erschien ihm die Gefahr, ihn erneut zu verlieren. Das Gewicht der Hand auf seiner Schulter verflüchtigte sich. Jetzt roch es im Flur nur nach Staub.
Jesse strich ihm übers Haar, küsste ihn auf die Wange, die Stirn und endlich die Lippen.
»Ich hatte mir beim Joggen in der Nähe des Highways den Fuß verstaucht und kam auf die idiotische Idee, zurück nach Greenhill zu trampen. Ein Trucker hielt an, wollte nur kurz hier im Blue Room einchecken.«
Jesse erzählte, wie er dem Trucker in die Lobby gefolgt war, weil der ihm eine Cola kaufen wollte. Doch dann dauerte alles zu lange und irgendwann hatte er Chad angerufen, um abgeholt zu werden. Der Trucker bot Jesse an, schnell Eisspray auf seinem Fuß aufzutragen. Das Spray befand sich natürlich in seinem Gepäck, auf seinem Zimmer.
»Ja, du hast mich angerufen. Jetzt erinnere ich mich. Kurz bevor du mit ihm aufs Zimmer gegangen bist. Ich habe seine Stimme noch gehört«, ergänzte Chad, lehnte sich zusammen mit Jesse an die Wand, strich ihm unaufhörlich über den Rücken.
Jesse berichtete weiter, füllte Chads Lücken. Im Zimmer war alles vorbereitet gewesen. Die Seile, Messer und ein Knebel, damit niemand Jesse schreien hörte. Sein Handy hatte ihm der Trucker sofort abgenommen.
»Die Besitzerin. Rose«, murmelte Chad in Jesses Ohr, während sich der schrecklichste Tag seines Lebens immer deutlicher zeigte. »Als du nicht in der Lobby warst, hat sie mir erzählt, dass du vor zehn Minuten mit einem Trucker aufs Zimmer gegangen bist. Das klang nicht nach dir. Und dann ...« Chad küsste Jesses Wange. Wie sehr hatte er die bekannte Haut, den Geruch vermisst. »Rose hat mir die Karte für das Zimmer gegeben. Ich sollte sofort Bescheid sagen, falls sie die Polizei rufen müsse. Und sie sagte: Achte auf den blauen Raum. « Jesse zog ihn näher. »Aber ich wusste nicht, was sie meinte. Ich konnte nur noch an dich denken. Jesse, er war kurz davor, dich zu vergewaltigen und hätte dich sicher getötet. Ich ...« Chad lehnte den Kopf gegen die Wand. Der Nebel senkte sich langsam, gab ein grausames Bild frei. »Ich habe mich auf ihn gestürzt. Und dann haben wir gekämpft. Du hast etwas gesucht, dein Handy, glaube ich. Ich habe dir zugerufen, dass du zu Rose laufen sollst. Sie würde die Polizei informieren.«
»Ich hätte dich nie allein lassen dürfen«, sagte Jesse tonlos.
»Doch. Genau das musstest du tun. Der Kerl ist ein Massenmörder, der hat mindestens zwei Jungs auf dem Gewissen.«
»Aber du bist mit dem Monster zurückgeblieben. Nur für einen Augenblick. Als ich zurückkam, war überall im Zimmer Blut, es klebte auch hier im Flur an den Wänden und auf dem Teppich. Und der Kerl war fort, zusammen mit dir.«
»Mit mir? Nein. Ich habe ihm die Nachttischlampe auf dem Kopf gehauen und bin geflohen. Aber er hatte mich gewürgt und mit einem Messer am Hals verletzt.«
»Daher also das Blut.« Jesse stöhnte leise.
Chad nickte. »Achte auf den blauen Raum, das hatte sie gesagt. Ich tastete mich an der Wand entlang. Mein Mund schmeckte nach Blut und mein Kopf tat weh. Und dann bin ich in einen der Räume gewankt und auf das Bett gefallen. Ich dachte noch, dass mich bald jemand finden würde. Aber es kam nie jemand.
Je länger ich dort lag, desto mehr habe ich vergessen. Irgendwann bin ich aufgestanden und wusste nicht mehr, warum ich in dem Raum war. Dann bin ich zu Fuß nach Hause gelaufen. Aber plötzlich waren alle fort und ich war ganz allein. Mit jedem Tag, der verging, habe ich mehr vergessen. Sogar deinen Namen. Und dann begann der Spuk und ich bin fast verrückt geworden.«
»Chad, du hast dieses Hotel nie verlassen.« Jesse sprach leise, lehnte den Kopf gegen Chads Schulter. »Die Polizei kam schnell und sie haben den Mörder auf dem Weg zu seinem Truck gefasst. Dank meiner Aussage konnte er überführt werden. Die Spuren passten zu dem Drei-Jahres-Mörder. Aber dich konnten wir nicht finden. Ich habe so lange gesucht. Überall. Zusammen mit der Polizei. Einige glaubten, dass das Monster dich ermordet und deine Leiche versteckt hat. Aber dafür hatte er kaum Zeit gehabt. Die meisten gingen davon aus, dass du eine Kopfverletzung hast und jetzt ohne Erinnerung herum irrst. Meine Eltern haben mir Geld für einen Privatdetektiv gegeben. Er konnte keine Spur finden. Du bist einfach nicht mehr aufgetaucht. Vor ein paar Monaten hat mich Rose, die Besitzerin, angesprochen. Aber ihre Geschichte klang zu irre, ich habe sie nicht beachtet.«
»Du bist nicht an die Juilliard gegangen?«, fragte Chad betroffen.
Jesse schüttelte den Kopf. »Ich konnte doch nicht weg aus Greenhill. Nicht, solange du vermisst wurdest.«
»Und dann kam Jules Hel, der Schamane mit seinem rollenden Café, in den Ort. Er war meine letzte Hoffnung. Und er war sich von Anfang an sicher, dass du noch lebst. Er meinte, dass er keine Totenessenz von dir fühlen kann.«
Chad stöhnte leise gegen Jesses Haar. »Aber wo war ich denn die ganze Zeit? Ich kann doch nicht in einem leeren Hotel überleben?«
»Komm. Rose hat dir etwas zu sagen.« Jesse verband ihre Finger erneut. Zusammen liefen sie durch den Flur, stiegen die Treppe hinunter in die Lobby.
Chad zögerte für einen Moment, schritt dann von der letzten Stufe und sah sich um. Nichts an dem kleinen Empfangsraum wirkte auffällig. Dann sah er sie, die ältere Dame, die in einem der blauen Sessel saß. Sie trug ein ebenso blaues Kleid. Eine weiße Spange hielt ihre dunklen Haare zusammen. Chad näherte sich ihr mit langsamen Schritten, Jesse an seiner Seite.
»Das kleine Mädchen vor dem Café?«, fragte er leise.
Sie nickte. »Das war ich. Nun, es war die Kleine, die ich einst gewesen bin. Mit Jules’ Hilfe kann ich mit ihr reden, sie beruhigen, dass einmal alles gut sein wird. Aber manchmal büxt sie einfach aus.« Sie lachte und Chad erkannte die Gesichtszüge des Mädchens. »Und weiß du, ihr Vater war ein Trinker. Er hat sie und ihre Mutter geschlagen. In ihrer Vorstellung ist sie in einen wunderschönen blauen Raum geflüchtet. Dort war alles ruhig und still. Sie konnte spielen und hat überlebt.«
»In ihrer Vorstellung ...«, wiederholte Chad kopfschüttelnd.
»Und dann wurde sie größer, erbte genug Geld, um ein Motel zu eröffnen. Dort erlebte sie, dass Gewalt überall sein konnte. Und sie wollte einen echten blauen Raum. Für ihre Gäste, für alle, die ihn in höchster Not brauchten.«
»Aber wie ist so etwas möglich?« Chad verstand kein Wort.
»Ach, es gibt Schamanen, die sind überaus begabt, aber grauenhafte Kartenspieler. Ich habe Jules’ Spielschulden beglichen und er hat einen Raum für mich gestaltet, der nicht ganz in dieser und noch nicht in der Anderswelt liegt.« Sie winkte ab. »Eigentlich gibt es eine ganze Welt, zwischen den Welten. Wir haben nur einen winzigen Teil davon genutzt. Und seither ist in diesem Motel niemand mehr gestorben oder ernsthaft verletzt worden. Sie alle haben den blauen Raum gefunden. Aber mit einem krankhaften Mörder hatten wir nicht gerechnet.« Jesse strich mit dem Daumen über Chads Handrücken. Rose seufzte. »Es ging alles zu schnell. Der blaue Raum konnte sich nicht für Jesse öffnen. Wenn du nicht gekommen wärst ...«
»Hätte der Kerl mich ermordet. Kein Zweifel«, erklärte Jesse und sah Chad an, der Schmerz der Erinnerungen spiegelte sich in seinem angespannten Gesicht.
»Und als er mich angegriffen hat, konnte ich fliehen und habe den blauen Raum gefunden?« Chad versuchte, die Teile zusammenzusetzen.
»Ja«, bestätigte Rose und faltete ihre Hände. »Aber wir konnten dich nicht mehr finden. Der blaue Raum ist kein fest installierter Ort. Er ist dort, wo ihn der Mensch in Not braucht. Wir haben alles versucht, aber du bliebst verschwunden. Daher habe ich das Motel geschlossen und mit der Suche begonnen. Aber selbst Jules konnte den Raum nicht ausmachen.«
»Weil ich solche Angst hatte. Ich wollte gar nicht hinaus«, überlegte Chad laut. »Ich bin fast gestorben, aber in meinem Kopf war es Jesse, dem das passiert ist. Und dann ist auch sein Name verblasst.« Er holte tief Luft. »Aber was ist mit den Striemen und dem Rufen?«
»Das war ich. Es tut mir so leid, Liebling.« Jesse schob seinen Arm um Chads Hüfte, blinzelte ihn entschuldigend an. »Rose hat mich am Ende überzeugt und Jules konnte endlich den Raum lokalisieren. Aber er war verschlossen. Wir haben so viele Séancen abgehalten. Manchmal konnte ich sogar durch die Wände nach dir greifen. Aber du hast dich gewehrt und dann ist es passiert. Bei dem Versuch, dich zu erreichen, habe ich dich gekratzt. Immer wieder.«
»Aber ich bin doch über den Renaissance-Markt gelaufen?« Chad versuchte, sich zu erinnern.
»Jules konnte den Flyer im blauen Raum unterbringen. Aber du bist wieder nicht heraus gekommen, hast nur einen Teil deiner Seele geschickt. Ausgerechnet den Teil, der mich vergessen wollte.«
»Nein. Der Teil, der Musik liebt. Und dich. Ich war immer in diesem Schutzraum …«, sagte Chad verwirrt. »Aber in meinem Kopf habe ich mir eine ganze Welt vorgestellt. Und ich habe jeden Abend für dich gespielt, darauf gewartet, deine Geige zu hören. Ich hatte solche Sehnsucht und wusste nicht einmal wonach.«
»Jules spürte, dass deine Angst immer mehr deine Wahrnehmung einfärbte«, bestätigte Rose. Der Flyer war unsere letzte Hoffnung, dich aus dem Raum zu locken. Selbst dann hast du dich nicht vollständig nach draußen gewagt.«
»Seit deinem Verschwinden konnte ich meine Geige nicht einmal mehr anfassen. Ich hatte solche Angst, dass ich nicht spielen kann. Aber dann habe ich dich gehört und plötzlich war alles wie immer. Deine Gitarre, meine Geige und unser Lied. Es war ganz leicht.«
»Ganz leicht.« Chad drehte den Kopf und lächelte. »Wo ist eigentlich der Schamane?«
»Da wo er gerade gebraucht wird«, erklärte Rose fröhlich. Dann lachte sie leise. »Oder er verliert beim Poker oder im Mah-Jongg.«
»Was passiert jetzt mit dem Motel?« Chad blickte aufmerksam zu Rose.
»Ich bin zu alt, um so einen Betrieb zu führen. Ich werde das Haus umbauen lassen. Hier sollen Kinder und Jugendliche leben, die ein Zuhause und Fürsorge brauchen.«
»Und einen blauen Raum«, ergänzte Chad und spürte das Leben zurück in seine Glieder strömen.
Der Nebel hatte sich vollständig verzogen. Die erste schöne Erinnerung, die sich unter die schrecklichen mischte, war die der Bonbon-Manufaktur. Dort hatte er Jesse zum Geburtstag die Honigbonbons gekauft und eines aus der Packung genommen. Er blickte zu der gläsernen Eingangstür, lächelte in die Sonnenstrahlen.
»Ob mein Stipendium für die Columbia noch gültig ist?«, fragte er nachdenklich. »Und willst du noch an die Juilliard?«
»Fragen wir einfach nach. So lange du bei mir bist, ist es einen Versuch wert.« Jesse strahlte ihn an.
Chad strahlte, küsste Jesse auf die geschlossenen Lippen. »Lass uns erst mal einen Raum finden, in dem du und ich allein sein können. Von mir aus, darf er auch blau sein. Hauptsache, wir befinden uns beide darin.«