Watch me fall apart
MARIE GRUNENBERG
Sobald die Lichter auf der Bühne angehen, lösen sich meine Ängste auf. Jeder angespannte Atemzug, den ich während des Wartens draußen im Regen gemacht habe. Jedes Zupfen meiner Finger am schon völlig zerfledderten Konzertticket. Und die Furcht, die Sicherheitsleute würden mich wegen der unzähligen Knicke darin nicht reinlassen. Die Unsicherheit an der Garderobe, weil ich meine Jacke nicht das ganze Konzert lang halten wollte, aber wer gibt schon seine Jacke an einer Garderobe ab, bei einem Rockkonzert? Nur spießige Langeweiler. Die schiefen Blicke der anderen Besucher, die einheitlich schwarze Kleidung, Bandshirts tragen, definitiv keine Jacken. Auch bei Regen nicht. In der echten Welt gehe ich in meiner Jeans und dem grau verwaschenen T-Shirt unter, hier steche ich heraus. Das ist ihre Welt, nicht meine.
Und vor allem ist es seine
Welt. Chris wirkt wie ein König auf der Bühne, mit der E-Gitarre in der Hand. Er passt perfekt dort hin. Deshalb hätte das mit uns auch immer schiefgehen müssen.
Das ist zumindest das, was ich mir einrede.
Und ich glaube mir exakt so lange, bis Chris die ersten Akkorde spielt. Das Schlagzeug gibt ein paar Takte vor, der Bass kommt dazu, dann steigt Chris mit der E-Gitarre ein, A-Moll, ein paar Takte lang, ein zögerndes F, und dann das D-Moll, das er immer besser greifen konnte als ich. Er hat Witze gemacht über meinen kleinen Finger, der nie da auf den Saiten blieb, wo ich ihn haben wollte.
Es wäre auf jeden Fall schiefgegangen, denn Chris ist dort oben auf der Bühne und ich wäre immer nur der gewesen, der backstage auf ihn wartet. Jetzt bin ich nicht mal mehr das,
nur ein anonymes Gesicht im Zuschauerraum. Um mich herum wippen die Menschen mit den Füßen, jubeln, singen die ersten Zeilen mit.
Der Sänger nähert sich dem ersten Refrain, ein schneller Song für den Anfang. Der Bass dröhnt durch meinen Körper, das Schlagzeug gibt meinem Herz einen neuen Takt. Doch richtig lebendig fühle ich mich erst durch Chris. Es ist unglaublich, wie seine Finger über das Griffbrett fliegen. Dabei hat er nicht mal richtig angefangen, ich weiß das. Seine Band spielt live noch viel besser als auf ihren Platten, das war schon früher so, bevor sie auf größeren Bühnen gespielt haben. Damals war ich oft auf seinen Konzerten, seit unserer Trennung nicht mehr. Seit die Band ihren Durchbruch hatte.
Aber auch danach habe ich noch ständig ihre Musik gehört. Die ersten EPs, dann das Debütalbum in Dauerschleife. Genau wie ihr zweites, und drittes. Ich könnte nie meinen Spotify-Jahresrückblick teilen, weil darin nur Chris’ Lieder sind. Und alle glauben, dass dieser Teil meiner Vergangenheit längst tot ist. Meine Familie. Mein Verlobter erst recht.
Meine Füße beginnen fast von selbst, sich zu bewegen. Ich kann auf Konzerten nicht stillstehen, konnte ich nie. Die Band ist beim zweiten Refrain angelangt, und ich stelle fest, dass der Sänger Unterricht gehabt haben muss. Er kriegt ein paar Noten, die er beim letzten Album noch nicht erreicht hat. Aber das interessiert mich nur solange, bis der Refrain endet, und Chris mit der Gitarre übernimmt.
Ich habe ihn so lange nicht mehr live spielen gehört, dass ich schlicht vergessen habe, wie umwerfend seine Soli sind. Er gleitet hinein, als gäbe es nichts Natürlicheres auf der Welt. Wenn ich nicht darauf gewartet hätte, hätte ich nicht mal gemerkt, dass ein neuer Liedteil beginnt. Ein paar Mal wiederholt er die Motive, die wir aus dem Lied schon kennen, dann macht er etwas Eigenes daraus. Langsamer, als ich
erwartet habe, aber die Menge flippt trotzdem aus. Ein paar Mädels vor mir schreien seinen Namen, er beugt sich vor und ich glaube, er lächelt. Vielleicht, weil sie keine Chance hätten. Chris würde nie was mit einer Frau anfangen, eher würde er seine Gitarre gegen einen Bass eintauschen. Und er hält wirklich nicht viel von Instrumenten mit nur vier Saiten.
Vielleicht lächelt er aber auch einfach, weil er weiß, wie absolut fantastisch das Solo ist. Er zieht die Geschwindigkeit an, und ich kann nicht mal mehr raten, welche Saiten er greift. Die Töne gehen ineinander über, und genauso natürlich, wie er aus dem Lied herausgefunden hat, findet er wieder zurück zu seiner Band. Der Sänger greift auf, was Chris ihm hinwirft, und es geht weiter.
Je länger das Konzert andauert, je mehr Songs sie spielen, desto besser finde ich in einen alten Rhythmus zurück, den ich vergessen hatte. Ich hätte schon früher zu einem Konzert von ihnen gehen sollen. Jedes Mal, wenn die Band in der Stadt war, hat Chris mir geschrieben. Mir angeboten, mich auf die Gästeliste zu setzen. Ich habe nie geantwortet.
Die Lieder fließen ineinander, und ich tanze, bis ich keine Luft mehr bekomme. Mein T-Shirt ist durchgeschwitzt und langsam verstehe ich, warum alle anderen schwarz tragen. Es ist mir egal, alles ist mir egal. Ich habe mich schon ewig nicht mehr so gut gefühlt wie in dieser Menschenmasse, die sich um mich herum zu Chris’ Musik bewegt.
Ich weiß überhaupt nicht mehr, warum ich so lange nicht mehr auf einem richtigen Rockkonzert war. Nach der Trennung von Chris ist dieser Teil meines Lebens leise gestorben, ich habe mein Studium beendet, einen Job angefangen, bei dem ich Hemd und Krawatte trage. Jonas im Büro kennengelernt. Alles war so normal, so gut, so richtig. Keine dunklen Ecken mehr, keine durchzechten Nächte und erst recht keine Musik, die so laut ist, dass man glaubt, das Trommelfell müsste eigentlich
längst gerissen sein. Ich wurde erwachsen, mein Ex wurde ein Rockstar.
Alles war
gut, war
richtig? Ich schwanke. Auf der Bühne lässt Chris den Verstärker ein letztes Mal übersteuern, das Geräusch geht mir bis in die Knochen. Dann Ruhe, nur eine Sekunde, bevor donnernder Applaus über mir zusammenbricht. Ich stimme mechanisch in das Klatschen ein, die ersten rufen nach einer Zugabe.
Die Band verbeugt sich, Chris als Letzter, sie gehen von der Bühne. Alles nur Show, jeder weiß, dass sie zurückkommen. Trotzdem fühlt es sich an, als würde etwas in mir zerbrechen mit diesem Ende. Es war ein Fehler herzukommen, nach so langer Zeit. Was ich fühle, hätte längst tot sein sollen. Erstickt unter dem normalen, einfachen Leben, das ich mir aufgebaut habe. Ein Leben, das ich verstehe. In dem ich mich sicher fühle.
Nach ein paar Minuten Applaus und immer lauteren Rufen nach einer Zugabe kommt die Band zurück, Chris ist der Erste. Er nimmt seine Gitarre aus dem Ständer auf der Bühne. Eine schwarze Fender Stratocaster, ich war dabei, als er sie gekauft hat. Jahrelang hat er mir erzählt, wie überlegen eine Stratocaster allen anderen Gitarren wäre, oder eher allen anderen Instrumenten. Was er tun könnte, wenn er eine hätte.
Er hatte recht. Alles scheint möglich, solange Chris diese Gitarre in den Händen hält.
Die erste Zugabe ist eins ihrer wenigen langsamen Stücke. Der Sänger zeigt, was er in den letzten Monaten gelernt hat und Chris, dass er mit der Stratocaster sogar langsame Liebeslieder unfassbar gut spielen kann. Es ist ein relativ neues Lied, vom dritten Album, Jahre nach unserer Trennung und meistens schreibt Chris die Texte nicht mal mit. Nur die Gitarrenstimme. Trotzdem erinnert mich das Lied an uns. Es ist wehmütig, blickt auf eine Zeit zurück, die längst vergangen ist und so oder so nie
zurückkommt. Wir sind beide anders als früher. Er könnte nie wieder der Chris sein, in den ich mich verliebt habe. Und ich …
Ich bin erwachsen geworden, und das ist eine gute Sache. Es ist wirklich besser so.
Ich bin fast erleichtert, als das Lied endlich endet. Zu viele Erinnerungen, die besser tief vergraben bleiben. Das nächste beginnt mit einem Drumsolo, ein unbekanntes Lied vom nächsten Album, ruft der Sänger ins Mikro. Sie haben sich weiterentwickelt, die Melodien sind durchdachter, die Texte noch ein Stück besser. Und auch Chris zeigt, was er in der Zwischenzeit gelernt hat. Er war immer gut, aber das hier ist noch eine Stufe besser. Nächstes Jahr füllen sie richtige Hallen, nicht mehr diese Kellerclubs, die ich eigentlich viel lieber mag als Konzertsäle. Chris spielt nicht schneller, aber wie geschickt er von einem komplizierten Akkord zum nächsten wechselt, und wie einfach er es aussehen lässt, lässt mich neidisch werden. Es ist Jahre her, dass ich eine Gitarre in der Hand hatte, aber jetzt wünsche ich mir, ich hätte nicht aufgegeben. Auch wenn ich niemals so gut geworden wäre wie er.
Der letzte Song ist ein Klassiker, den ich wie alle anderen auswendig mitbrülle. Obwohl sie den letzten Refrain mindestens dreimal wiederholen, endet er zu schnell. Dann verlassen sie die Bühne unter dröhnendem Applaus, die Lichter gehen an, aus den Boxen schallt Eric Clapton, eines der rockigeren Sachen. Er ist so was wie Chris’ Held. Chris hat immer gesagt, wenn er irgendwann ein Zehntel von Claptons Niveau erreicht, könnte er glücklich sterben.
Ich bleibe vor der Bühne stehen, bis der Saal fast leer ist. Menschen in orangen Westen fangen an, den Müll aufzusammeln. Auf der Bühne bauen ein paar Studenten die Instrumente ab. Einen irrsinnigen Moment lang wünsche ich mir, Chris’ Stratocaster zu berühren.
Stattdessen schüttle ich den Kopf, drehe mich um und gehe zum Ausgang. Es war dämlich herzukommen. Ich habe so lang durchgehalten, bin ihm immer aus dem Weg gegangen. Nur um jetzt schwach zu werden.
Draußen erschlägt mich die kalte, feuchte Nachtluft. Ich bleibe vor dem Club stehen, schaue nach oben, Sterne sehe ich natürlich nicht. Die Stadt ist zu hell, und die Regenwolken helfen nicht. Es kommt mir unvorstellbar vor, mich einfach in den nächsten Bus zu setzen, nach Hause zu Jonas zu fahren. Das sind zwei Welten, die zu weit auseinander liegen. Also bleibe ich vor dem Club stehen, ich bin der Letzte, der noch da ist. Bis ich friere. Durch den Regen auf meinem T-Shirt. Weil ich meine Jacke natürlich an der Garderobe vergessen habe.
Ich weiß, was ich tun sollte. Heimgehen, morgen anrufen, der Veranstalter hat sicher eine Kiste für Fundsachen. Und Jonas wartet auf mich. Ich habe eine Geschichte zusammengesponnen, dass ich mit ein paar Studienfreunden was trinken gehe, aber besonders lang bleibe ich nie weg.
Doch Chris hat meine Vernunft für heute Nacht kaputtgespielt. Ich gehe zurück in den Club, obwohl ich weiß, dass die Band noch dort sein könnte. Vielleicht auch gerade, weil
sie noch dort sein könnte. Der Gedanke löst ein Kitzeln in mir aus, das ich gern nicht fühlen würde, aber ändern kann ich es nicht.
Vielleicht schaffe ich es, mich bis zur Garderobe zu schleichen, ohne dass es jemandem auffällt. Aber allein, dass ich zurückgehe, beweist, dass ich den Verstand verloren habe.
Nur ein Blick. Nur ein Blick auf den Chris, den er versteckt, wenn er vor Publikum spielt. Falls er überhaupt im Club ist. Dann gehe ich, mit oder ohne Jacke, das verspreche ich mir. Und rette mich in mein sicheres, normales Leben.
Niemand hält mich auf, als ich zurück in den Konzertraum gehe. Die Leute in den orangen Westen kehren in einer Ecke
des Saals den gesammelten Müll zusammen. An der Garderobe ist das Licht längst aus. Ich bleibe an der Wand stehen, im Schatten, sehe mit zusammengekniffenen Augen Richtung Bühne. Die Band sitzt dort, ich erkenne den Sänger, den Schlagzeuger. Chris fehlt.
Ein Zeichen für meine unendliche Dummheit. Ich drehe um, verfluche mich, will gehen, nur steht jetzt jemand an der Tür zum Ausgang. Mein Herz bleibt stehen, als ich sehe, dass er meine Jacke hält.
Chris natürlich. Er kann unmöglich wissen, dass das meine Jacke ist, dass ich hier bin. Aber irgendwie sieht er kein bisschen überrascht aus, als ich die Jacke zögernd entgegennehme. Er sagt kein Wort, macht nur eine Handbewegung, dass ich mitkommen soll. Ich überlege zu verschwinden, aber ich kann nicht. Nicht mehr. Also folge ich ihm in ein Treppenhaus und dann nach oben in die Bar, die zum Kellerclub gehört. Heute ist sie geschlossen, das ganze Personal hat für das Konzert gearbeitet. Eine einzige rote Neonröhre in einer Ecke taucht den Raum in ein unwirkliches Licht.
Chris setzt sich an einen Tisch in der Mitte, ich mich ihm gegenüber. Er ist so angespannt. Jede Linie in seinem Gesicht ist hart, von dem leichten, freien Lächeln auf der Bühne ist nichts mehr übrig. Er sagt kein Wort, scheint zu warten, dass ich irgendetwas herausbekomme.
»Ich heirate in einer Woche«, sage ich und bereue es sofort.
»Glückwunsch«, sagt Chris trocken.
Ich weiß nicht, wieso ich ausgerechnet das gesagt habe. Jetzt denkt er, ich bin nur hergekommen, um ihm das unter die Nase zu reiben. Wir haben darüber gesprochen, früher, aber Chris’ erste Liebe war immer die Musik. Sesshaft werden, ein erwachsenes Leben führen, das hat ihn nie interessiert. Letztendlich hat uns auch das auseinandergetrieben. Ich wollte immer Sicherheit, nur weiß ich gerade nicht mehr wieso.
Chris’ Blick fällt auf meine Hände, vielleicht sucht er nach einem Ring. Er wird keinen finden. Jonas hat mir einen Verlobungsring gegeben, er hat den Antrag gemacht, aber heute Abend habe ich ihn ausgezogen. Weil ich ganz offensichtlich bescheuert bin.
»Ihr wart unglaublich«, sage ich. Es stimmt, und ich will nicht, dass Chris noch länger über meine Hochzeit nachdenkt. Ich will ja selbst nicht darüber nachdenken.
Jetzt lächelt Chris zum ersten Mal. Es ist ein Lächeln, gegen das er nichts tun kann, und es lässt ihn zehn Jahre jünger aussehen. Ich muss an unsere Schulzeit denken, wir sind in der zwölften Klasse zusammengekommen. Es war für uns beide die erste, richtige Beziehung mit einem Mann. Fast mein ganzes Studium waren wir zusammen, Chris war mit seiner Musik beschäftigt und ich mit dem Versuch, irgendeinen Sinn in meinem Leben zu finden. Und Sicherheit, schon damals.
»Das war dein erstes Konzert von uns, oder?«, fragt Chris. »Ich habe die Ticketkäufe gecheckt. Wenn wir hier gespielt haben. Das war das erste Mal, dass ich deinen Namen gefunden habe.«
Ich schlucke. Meine Hoffnung auf Anonymität war also von vornherein vergeblich. Ticketkäufe, natürlich. Ich habe meins online gekauft, wahrscheinlich kennt er jetzt auch meine Anschrift.
»Warum?« Chris beobachtet mich, ich kann seine dunklen Augen nicht lesen. Nicht wie früher. »Warum jetzt? Wenn du …«
Ich will ihm sagen, dass es sich nach Schicksal angefühlt hat. Ihr Konzert, eine Woche vor der Hochzeit. Eine Woche, bevor ich mein altes Ich, mein Chris-Ich endgültig begrabe. Nur einmal wollte ich Chris auf einer richtigen Bühne spielen sehen, nicht in der Ecke irgendeiner Kneipe. Einen Abschluss finden.
Er ist seinen Weg gegangen und ich meinen, und wir würden nie mehr zusammenfinden. Ich glaube, das wollte ich mir beweisen, und gerade geht es gnadenlos schief.
Es ist nicht so, dass ich Jonas nicht liebe. Ich bin glücklich mit ihm, er gibt mir nicht nur Sicherheit, er gibt mir ein Zuhause. Es ist nur so anders. Mit Chris wusste ich nie, was passiert. Er war immer in Bewegung, hat mein Leben ständig durcheinandergewirbelt. Ich muss mich daran erinnern, wie sehr mir das irgendwann auf die Nerven gegangen ist. Ein gemütlicher Abend in einer Bar konnte nie einfach nur das sein. Oft genug sind wir am nächsten Morgen nicht mal in derselben Stadt aufgewacht.
Nur wünsche ich mir in dieser Sekunde mehr als alles, das noch einmal zu erleben. Wünsche mir, dass Chris mein perfektes Ikea-Katalog-Leben in Scherben schlägt.
Impulsiv greife ich über den Tisch nach seiner Hand und bin sehr, sehr froh, dass ich den Ring zu Hause gelassen habe.
Chris entzieht sich meinem Griff und steht auf. Er verschränkt die Arme und sieht ziemlich wütend aus. »Vergiss es«, sagt er, fast knurrt er es. »Ich bin nicht deine letzte Nummer in Freiheit. Wenn du die Hochzeit so furchtbar findest, lass es sein, aber zieh mich da nicht mit rein.«
Seine Worte fühlen sich an wie eine Ohrfeige. Was tue ich hier – was hätte ich beinahe getan? Das war unfair gegenüber Jonas, der zu Hause auf mich wartet und mir vertraut. Und genauso unfair gegenüber Chris. Ich war es, der den Kontakt abgebrochen hat. Der nie auf seine Nachrichten reagiert hat, wenn er mich zu einem Konzert eingeladen hat. Weil ich Angst davor hatte, was ein Treffen mit ihm auslösen könnte. Nur wusste er das natürlich nicht. Er weiß nur, ich habe ihn jahrelang ignoriert, tauche plötzlich auf und tue … was genau?
Ich sinke auf dem Stuhl zusammen, kann ihn nicht mehr ansehen. »Es tut mir leid«, flüstere ich. Ich bin zu weit
gegangen. Viel zu weit. Vielleicht ist mein Leben längst nicht so aufgeräumt, wie ich mir eingeredet habe, aber Chris sollte nichts damit zu tun haben.
Nur hat er immer mit allem zu tun, und ich habe mich zu lange angelogen.
Ich könnte gut verstehen, wenn Chris jetzt geht, mich hier zurücklässt. Ich hätte es verdient. Stattdessen setzt er sich wieder und runzelt die Stirn. »Was ist mit dir passiert?«, fragt er so sanft, dass meine Augen zu brennen beginnen. Jetzt nimmt er doch meine linke Hand, vorsichtig, berührt meine Fingerspitzen. Ich weiß, er sucht nach Hornhaut auf den Fingerkuppen, einem Beweis, dass ich wenigstens das Gitarrespielen nicht aufgegeben habe.
Ich kann ihn nur enttäuschen. Meine alte E-Gitarre verstaubt seit Jahren im Keller. Wo ich sie abgestellt habe in der Hoffnung, dass sie mir irgendwann egal wird, aber das ist nie passiert.
Ich war derjenige, der die Trennung wollte. Weil ich nicht mehr konnte. Weil ich Sicherheit verlangt habe, die Chris mir nicht geben konnte. Und er würde nie seinen Traum opfern, für niemanden. Nicht mal für mich, auch wenn ich mit der Trennung sein Herz gebrochen habe. Meins auch.
Aber bis heute Nacht dachte ich, ich wäre geheilt.
»Du hast einen festen Job«, sagt Chris. »Ein festes Gehalt. Eine Hochzeit. Das wolltest du immer, oder nicht?«
Ja, will ich sagen. Keine Überraschungen. Einen klaren Plan, keine Abzweigungen. Job, Ehe, Kinder. Das perfekte 50er-Jahre-Leben, wenn man von der Tatsache absieht, dass Jonas und ich in den 50ern nicht hätten heiraten dürfen.
Stattdessen breche ich in Tränen aus. Ich habe seit Jahren nicht mehr geheult, wahrscheinlich seit unserer Trennung nicht mehr, und bin selbst überrascht davon. Chris rückt seinen Stuhl
neben meinen, ich falle in seine Arme und schluchze in sein verschwitztes T-Shirt.
Keine Ahnung, wie lange wir in der verlassenen Bar sitzen. Ich weine, bis nichts mehr übrig ist, dann reden wir. Ich erzähle ihm zum ersten Mal wirklich, warum ich mich damals getrennt habe. Chris wusste, dass ich mehr Sicherheit wollte, aber ihm war nie klar, wie sehr mich unser chaotisches Leben damals belastet hat. Er ist davon ausgegangen, dass sein Abenteuer unseres ist, und dass ich eines Tages einfach genug hatte. Jetzt entschuldigt er sich, aber es gibt nichts zu vergeben.
Dann spüre ich, dass ich mich verabschieden sollte. Es ist einfach ein Gefühl, und Chris versteht mich ohne viele Worte. Ich muss ihm versprechen, die Gitarre aus dem Keller zu holen. Jeden Tag ein bisschen spielen, nur fünf Minuten, sagt Chris. Und macht dann einen Witz, dass ich eh nicht länger durchhalte mit meinen weichen Fingerkuppen.
Es hat gutgetan, in seinem Arm zu weinen, aber noch besser ist es, mit ihm zu lachen. Auch wenn mein Herz so sehr wehtut, dass ich glaube, dass es in der Mitte durchbricht.
Dann küsst er mich. Erst fühlt es sich nach Abschied an, und ich glaube, so hat er es auch gemeint. Aber ich lasse ihn nicht los und er mich auch nicht. Wir gehen nicht weiter, da ist noch immer eine unsichtbare Grenze zwischen uns. Mir ist klar, dass ich mein Leben aufräumen muss, und dann. Und dann? Auf einmal habe ich das Gefühl, nach Jahren wieder ausreichend Luft zu bekommen.
~*~*~*~
Jonas ist noch wach, als ich nach Hause komme. Ich muss ihn nur ansehen und ahne, dass er alles weiß, was es zu wissen gibt. In einer Hand hält er einen Flyer mit einer Ankündigung zu dem Konzert, von dem ich gerade komme.
Er hat das nicht verdient. Bis heute Abend wusste ich nicht, wie sehr mein Leben aus der Bahn geraten war. Wie wenig ich das alles wirklich wollte, diese ruhige Zukunft, in der wir uns immer gesehen haben. Mich selbst bringe ich zurück in die Spur, aber Jonas verliert den Halt. Er hat fest damit gerechnet, mich nächsten Samstag zu heiraten, und fängt gerade an zu begreifen, dass das nicht passieren wird.
Mir geht es auch so. Die Hochzeit, die wir monatelang geplant haben, wird nicht stattfinden. Aber ich kann bei diesem Gedanken endlich wieder richtig atmen. Jonas starrt mich mit Tränen in den Augen an und versteht nicht, wie das passieren konnte.
Ich schlafe in dieser Nacht auf dem Sofa und vermisse Jonas neben mir. Ich liebe ihn – aber nicht dieses Leben, das wir vor uns gehabt hätten. Jonas weiß ganz genau, dass er all das will. Ich nicht. Und dann ist da noch der Kuss von Chris, der mir nicht aus dem Kopf geht.
Am nächsten Morgen spreche ich mit Jonas, wir reden ein paar Stunden lang. Ich versuche ihm zu erklären, weshalb ich auf diesem Konzert war, hinter seinem Rücken. Wieso ich gehen muss, wieso ich ihn nicht heiraten kann. Er versteht es nicht, das sehe ich ihm an. Nichts, was ich sage, ergibt irgendeinen Sinn für ihn.
Nachdem mir die Worte ausgegangen sind, packe ich einen Rucksack. Jonas beobachtet mich dabei, schon wieder mit dem Konzertflyer in der Hand. Er will fragen, ob ich zu Chris gehe und hat offensichtlich Angst vor der Antwort. Ich hole meine Gitarre aus dem Keller, die Tasche ist wirklich ziemlich staubig. Den Verstärker lasse ich erst einmal dort, schon die Gitarre in meiner Hand überfordert mich. Alles an diesem Morgen überfordert mich.
Ich hoffe, dass ich das Richtige tue. Es fühlt sich so an, aber wenn ich Jonas ansehe, würde ich am liebsten die Gitarre fallen
lassen und einen Weg zurück in unser Leben suchen. Einen Weg in die Realität, in der wir am Samstag heiraten, in der ich nie auf das Konzert gegangen bin. Nur kann ich das nicht.
Bevor ich gehe, nehme ich Jonas den Flyer aus der Hand und küsse ihn einmal auf die Stirn. Er schließt die Augen, will mich festhalten, dann rutschen seine Finger von meinem Jackenärmel. Die Jacke, die noch immer nach Rauch und Diskonebel riecht. Ich gehe nicht zu ihm
, will ich Jonas sagen, aber ich glaube nicht, dass das für ihn viel ändern würde.
Vielleicht irgendwann. Chris und ich haben uns beide verändert, trotzdem könnte es eine Zukunft für uns geben. Gestern Abend habe ich etwas gefühlt, aber zuerst muss ich das Chaos in Ordnung bringen, das ich hinterlasse. Muss Jonas’ und mein Leben auseinander sortieren, die Hochzeit absagen. Muss hoffen, dass Jonas das alles eines Tages versteht, dass er mich nicht für immer hasst.
Die Gitarrentasche hat Träger wie ein Rucksack, ich ziehe sie auf und lächle Jonas noch einmal an. Er hat Tränen in den Augen, schüttelt den Kopf. Am liebsten würde ich versprechen, dass alles gut wird, dass wir beide unseren Weg finden, aber das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich ihn nicht heiraten kann. Ich gehe nach draußen, und er schließt die Tür hinter mir.