Sommersprossen
TANJA RAST
Kylien trat durch die kleine Fußgängerpforte im Tor der Festung nach draußen und streckte sich erleichtert. Vor ihm lagen ein freier Abend und die Aussicht auf einige Stunden in seiner liebsten Taverne. Immerhin hatte er am nächsten Tag frei, musste also nicht auf die Uhrzeit achten.
Tief atmete er die würzige Nachtluft ein und stutzte, als er über sich ein scharrendes Geräusch zu vernehmen meinte.
Er hielt an, drehte sich und sah nach oben.
Der erste Eindruck war der von wohlgeformten Beinen und einem ebenso reizend anzusehenden Hintern. Dann entdeckte Kylien, dass der Inhaber dieser Beine – er erwog, sich zu zwicken, weil er es nicht glauben konnte – an einem behelfsmäßigen Seil baumelte, das tatsächlich aus zusammengeknoteter Bettwäsche bestand. Und obendrein zu kurz war.
Ein Umstand, den die baumelnde Gestalt offenkundig auch soeben entdeckt hatte, denn der Mann mühte sich gerade, wieder nach oben zu klettern. Dazu allerdings schien seine Kraft nicht auszureichen.
Kylien warf einen Blick zurück zum Tor der Festung. Eigentlich müsste er da jetzt Bescheid geben, damit die Wachen sich um den Flüchtling am Bettlakenseil kümmerten. Andererseits war die Festung kein Gefängnis, und der Mann über Kylien brach nicht ein, sondern aus … und könnte möglicherweise abstürzen und sich verletzen.
Er atmete einmal tief durch, stellte die in Leinen gehüllte Laute an die Festungsmauer und trat etwas näher.
Bettlaken. Dieser Umstand machte ihn fassungslos. Wer kam auf eine solche Idee? Dann sah er, aus welchem Fenster das geknotete Seil hing. Wieder sah er kurz zum Tor. Er müsste wirklich die Wachen benachrichtigen.
Doch rutschte der junge Mann über ihm gerade in diesem Augenblick ab, bekam sein Knotenseil knapp noch zu packen und erreichte nun dessen Ende. Dabei baumelte er noch ein gutes Stück über Kylien und dem harten Straßenpflaster. Ein Jammer, dass er nicht noch ein Laken mehr angeknotet hatte.
»Dein Seil ist zu kurz!« Hach, welch reizende Beobachtungsgabe.
Kylien wusste, dass er jedem Gaffer auf der Straße, der ihn auf eine solche Offensichtlichkeit aufmerksam machte, die Nase abbeißen würde.
Glücklicherweise war das Naturell des jungen Mannes – Kylien dachte scharf nach und entsann sich des Namens: Tezzan – sonniger als das eigene. Oder Tezzan war noch viel verzweifelter, als der Einsatz des Lakenseils vermuten ließ.
»Ich weiß! Wie weit ist es noch? Kannst du mich auffangen?«
Kylien starrte verblüfft empor. Er hätte damit gerechnet, dass Tezzan sein Unterfangen für gescheitert anerkannte und um die Unterstützung durch die Wache gebeten hätte. Dass er einen Wildfremden um Hilfe bat, erstaunte ihn. Was heckte Tezzan aus? Und warum war er überhaupt aus dem Fenster geklettert? Nun, vom Herumstehen und davon, den niedlichen Hintern anzustarren, fand er es nicht heraus. Zu dumm, dass diese hübsche Kehrseite ihm wahrlich vor Augen baumelte. Vielleicht sollte er zu einer der Viehtränken rennen und sich kaltes Wasser ins Gesicht spritzen. Aber in der Zwischenzeit würde Tezzan abstürzen und sich womöglich ein Bein brechen. Erschwerend kam hinzu, dass es wirklich schöne Beine waren.
»Ja, ich fang dich«, hörte Kylien eine vertraute Stimme, die er als die eigene erkennen musste.
Tezzan gab einen leisen Laut von sich, der nach einem erleichterten Lachen klang, dann stieß er sich von der Wand ab, drehte sich dabei und ließ sich fallen.
Verdammt! Bei allen Göttlichen!
Kylien sprang vor, um den fallenden jungen Mann aufzufangen, und nur einen Wimpernschlag später hielt er ihn tatsächlich in seinen Armen.
Sommersprossen, dunkle Kupfertupfen auf der Nase und den Wangen. Sogar auf die Stirn hatten sich einige von ihnen verirrt, wo sie auf schweißfeuchter, heller Haut funkelten und zwischen den sich wirr kringelnden dunkelroten Locken hervorblitzen.
Kylien wurde bewusst, dass er Tezzan schon geraume Zeit im Arm halten musste, dass er diese Einzelheiten so genau wahrnahm. Er spürte die hastigen Atemzüge des jungen Mannes, wie der Brustkorb sich bewegte, wie leicht Tezzan war. Der Duft des schlanken Körpers hüllte ihn ein, er spürte die erhitzten Muskeln, denen das Abseilen offenkundig einiges abverlangt hatten.
Verzweifelt versuchte er, Schlüsse aus der Erkenntnis zu ziehen, dass er die Sommersprossen nun ausreichend bewundert hatte. Ihm schoss Röte ins Gesicht, und eilig stellte er Tezzan auf die Füße, hielt ihn – wie er sich sehr vernünftig sagte – nur noch einen Herzschlag lang fest, damit Tezzan sein Gleichgewicht wiederfinden konnte.
Genau jetzt wäre der perfekte Zeitpunkt, den jungen Mann der Festungswache zu übergeben.
Immerhin wusste er, dass er eben den Sohn der Hochrätin Ventana im Arm gehalten hatte. Alleine das konnte einem schon mal zu Kopf steigen. Gleich nach den drei Königinnen waren die Hochrätinnen die wichtigsten und mächtigsten Frauen im Reich. Sie waren der verlängerte Arm der Königinnen und reisten kreuz und quer durch das Reich und entlang dessen Grenzen. Sie waren es, die alles im Blick behielten und hin und wieder in die Hauptstadt kamen, um Berichte vorzulegen.
Kylien hatte die Ankunft des Wagentrosses ebenso gesehen, wie er einen kurzen Blick auf die Hochrätin und ihren Sohn hatte erhaschen können. Verdammt, was sollte er jetzt machen? Und warum kniff Tezzan überhaupt aus? Wohlerzogene Söhne von Hochrätinnen sollten dergleichen nicht tun. Schon gar nicht mittels eines zu kurzen Lakenseils!
»Danke«, sagte Tezzan jetzt und klang so glücklich und aufrichtig in einem, dass Kyliens Neugierde dadurch nur noch angefacht wurde. Er sollte die Wache in Kenntnis setzen, dass der Sohn der Hochrätin eine Eskorte zurück in seine Gemächer benötigte. Aber … dieser strahlende Blick, das Lächeln, das einen weichen Mund mit vollen Lippen verzog und Zähne blitzen ließ … Ach, verflucht, und dieses Zutrauen! Das ging wirklich gar nicht!
»Gern geschehen«, antwortete er und wollte doch fragen, was dieser Ausbruch zu bedeuten hatte.
»Ich sollte vielleicht erklären …« Tezzan holte tief Luft und spähte dann in Richtung des Haupttores, das durch die vorspringende Rundung eines Turmes verbogen blieb. »Ich … Es ist mein erster Besuch in der Hauptstadt! Und meine Mutter ist einfach dagegen, dass ich mich mal umsehe, eine Kneipe besuche …«
Aus gutem Grund, möchte ich wetten.
»Ich will doch nur einmal
nicht unter einen Glassturz gesetzt werden.« Er zögerte kurz und streckte eine schmale Hand aus. »Mein Name ist Tezzan.«
Kyliens Erziehung versetzte ihm einen herzhaften Klaps auf den Hinterkopf, und so ergriff er die Hand, schüttelte sie knapp und murmelte: »Kylien.« Verflucht, was mache ich mit ihm?
Tezzan spähte noch einmal ringsum, dann nach oben zu seinem baumelnden Seil aus Bettlaken. Er lachte ganz leise. »Mutter wird mich ausschelten. Aber das ist morgen! Jetzt sollte
ich hier nur rasch verschwinden. Nicht, dass ein Diener mich hier unten sieht und ich sofort wieder einkassiert werde.«
Genau jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, mahnend auf den jungen Mann einzuwirken, ihn freundlich, aber bestimmt zum Tor zu führen und den Wächtern dort zu übergeben. Doch statt Pflichtbewusstsein keimte eine ganz andere Pflanze in Kylien, und er war sich sicher, dass gerade nicht sein Verstand mit ihm sprach. Denn hastig machte er zwei Schritte zur Seite und ergriff die Laute, die wohl fassungslos zugesehen hatte, was ihr Herr da anstellte. Und wie dämlich er sich dabei anstellte. Dass die Vorstellung einer missbilligend beobachtenden Laute kein besseres Licht auf seine Geistesgaben warf, fiel Kylien dann auch auf.
Aber er erinnerte sich lebhaft an die elterlichen Einwände, als er erstmals geäußert hatte, wie er sich sein Leben vorstellte, was er tun und lassen, wie er seinen Unterhalt bestreiten wollte. Ebenso klar tauchten die Bilder aus der Vergangenheit auf, dass auch er aus einem Fenster geklettert war – ohne Bettlakenseil, weil sein Zimmer zu ebener Erde gelegen hatte. Außerdem entsann er sich, dass die elterliche Schelte, als er am nächsten Morgen zerrauft, aber glücklich zurückgekehrt war, gar nicht so schlimm ausgefallen war, sondern dass sich sogar eine Art grimmiger Stolz in die Miene seiner Mutter geschlichen hatte.
Leben unter einem Glassturz? Scheußliche Vorstellung! Und wenn Kylien mit Tezzan ging, konnte er ihn von den wirklich ungeeigneten Gassen und Kneipen fernhalten und ein wachsames Auge auf ihn werfen. Die Hochrätin musste ja niemals erfahren, in wessen Begleitung ihr Sohn die Hauptstadt erkundet hatte.
»Oh!«, stieß Tezzan aus, der sich trotz seiner Ankündigung, die Stadt im Alleingang entdecken zu wollen, noch nicht von der Stelle gerührt hatte. »Du … du spielst? Ich auch!«
Kylien streifte sich den Trageriemen über eine Schulter und machte eine einladende Bewegung, damit sie vom baumelnden Lakenseil fortkamen.
Tezzan errötete freudig, was die Sommersprossen wie Funken über einem nächtlichen Feuer aufglühen ließ. Dass er keine Einwände hatte, sich von einem Wildfremden begleiten zu lassen, gab Kylien einen weiteren Hinweis, wie behütet sein Schützling aufgewachsen war. Vertrauensselig bis zum Abwinken!
»Ja«, antwortete er nach einer kleinen Weile, während er Tezzan über die breite Straße führte, damit sie in der Deckung einer Gasse verschwinden konnten. »Tagsüber arbeite ich in der Festung, und meine freien Abende spiele ich oft in einer Gastwirtschaft nicht weit von hier. Ein paar Bekannte und ich treffen uns dort, jeder trägt ein paar Lieder vor. Manchmal wird es ein kleiner Wettstreit.« Vor allem war es eine saubere Kneipe, und die Wirtin achtete darauf, dass niemand sich wirklich volllaufen ließ, damit es keinen Streit gab. Der Gedanke, in welche Kaschemme Tezzan sich womöglich verirrt hätte, wenn Kylien ihn nicht unter seine Fittiche genommen hätte, trieb ihm Schweiß auf die Stirn. Aber in der Rose
war er gut aufgehoben, konnte ein Bier oder Fruchtwasser trinken, und niemand würde ihn bestehlen, niederschlagen oder gar verschleppen.
Gut, hätte Kylien ihn an die Wache übergeben, wäre ihm all das auch nicht zugestoßen.
Aber es widerstrebte ihm so sehr, diesen Freiheitsdrang im Keim zu ersticken. Außerdem konnte er sehr wohl auf Tezzan achtgeben, dessen Neugierde befriedigen und dabei für seine Sicherheit sorgen. Besser ging es doch gar nicht. Natürlich war Heimlichkeit zu verabscheuen, aber ein Teil von Kylien hoffte, dass die Hochrätin ihren Sohn wohlbehalten und glücklich erst am Frühstückstisch wiedersehen würde, ohne dass sie von dem ganzen Abenteuer etwas ahnte. Vorausgesetzt, kein eifriger
Dienstbote sah nach seinem jungen Herrn und entdeckte das baumelnde Lakenseil.
Er dachte zurück zu jenem widerwillig funkelnden Stolz in den Augen seiner Mutter. Hm. Das musste er noch einmal überdenken, schien es ihm. Aber jetzt ging Tezzan vor. Und dieses warme, prickelnde Gefühl von Glück in Kyliens Magengrube, weil der junge Mann so vergnügt neben ihm ging, sich aus leuchtenden Augen selbst in einer Gasse voller geschlossener Läden umsah, als wäre sie eine geheime Kostbarkeit.
»Hast du schon zu Abend gegessen?«, fragte er schließlich, als die Straße sich vier weiteren an einem kleinen Platz anschloss.
»Ich war so wütend auf meine Mutter, dass ich kaum einen Bissen herunterbekommen habe. Hast du denn schon etwas gegessen?«
»Nein«, gab Kylien mit einem Lachen zu. »Deswegen frage ich. Magst du Fisch?«
Ein begeistertes Nicken. Kylien schob es nicht nur auf Fisch, sondern auch auf die Aussicht, in einer echten Garküche etwas auswählen zu können.
»Ich habe auch ein paar Münzen dabei. Drei Kleine Silber und viel Kupfer. Das ist … das ist richtig und ausreichend, oder?« Unsicherheit flackerte in den Augen und verdunkelte das Leuchten.
»Vollkommen ausreichend. Und viel besser, als wärst du mit einer prallen Börse gefüllt mit Großem Silber und vor allem Gold unterwegs. Komm, da hinten ist die Garküche, in der ich immer vor dem Spielen esse. Sie haben Fischsuppe, knusprige Röllchen und noch viel mehr. Bin gespannt, wie es dir schmecken wird.«
Das Leuchten kehrte mit voller Kraft zurück. Wieder dieses zauberhaft eifrige und zugleich schüchterne Nicken.
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Kurz darauf quetschten sie sich an einigen Handwerkern vorbei, stellten ihre Tonschalen auf einen der Stehtische im offenen Hinterhof der Garküche. Bunte Laternen malten warmes Licht in allen Farben des Regenbogens auf die Tischplatte und auf Tezzans Haut und Haare.
»Es duftet wundervoll!« Tezzan schnupperte genussvoll an seiner Schüssel voll mit gebratenen Fischstücken, Gemüse und Reis. Über alles war eine reichliche Portion würziger Grüner Sauce aus fermentierten Algen und sieben Sorten Pfeffer geschöpft worden.
Kylians Schüssel sah ebenso aus. Er mochte die Köchin, die ihr Handwerk verstand und reichliche Portionen an Handwerker, Kaufleute, Wachen auf dem Heimweg und mehr verfütterte. Der Fisch war immer frisch, alles war anständig gegart und gewürzt.
Mit seinen Stäbchen fischte Kylien den ersten Happen aus der dampfenden Sauce und schob ihn sich hungrig in den Mund. Die Wärme tat ebenso gut wie die Würze.
Er sah Tezzan zu, der zuerst mit einem Holzlöffel etwas Reis mit Sauce aus seiner Schüssel nahm und vorsichtig kostete. Solche Mahlzeiten kannte er ganz bestimmt nicht. Er kaute, schluckte und nickte. »Es schmeckt noch besser, als es duftet!«
Kylien lachte und nickte. Er hob mit den Stäbchen etwas Grünes aus seiner Schüssel und fühlte den unbändigen und unsinnigen Wunsch, Tezzan das zum Kosten zu geben. Vollkommen unsinnig, da der junge Mann das gleiche Gericht in seiner Schüssel hatte. Tezzan wechselte nun auch zu den Stäbchen, suchte unter Sauce und Fisch, bis auch er einen Gemüsehappen fand, der dem von Kylien ähnlichsah. Gleichzeitig steckten sie sich die Bissen in den Mund – jeder in den eigenen, was ja auch viel vernünftiger war!
»Lecker! Du isst hier jeden Abend?« Ein wenig klang Sehnsucht in Tezzans Stimme mit. Oder Kylien redete sich das gerade ein. Gleichgültig.
Er nickte. »Na ja, fast jeden Abend. Es ist nicht weit von der Festung, und ich bin ein lausiger Koch.«
»Ich auch. Und ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich das Abendessen kaum angerührt habe. Damit hat sich jemand gewiss viel Mühe gegeben. Aber ich war so zornig auf meine Mutter. Sie hätte mir doch einen meiner Lehrer mitgeben können. Oder jemanden von der Wache. Ich wollte ja nicht einmal alleine
durch die Stadt laufen.« Er lächelte Kylien vertraulich zu. »So gefällt es mir viel besser.«
Waren das betrunkene Schmetterlinge, die in Kyliens Brustkorb herumflatterten? Mussten es wohl sein. Bestimmt brachte er heute Abend in der Rose
nur schmachtende Liebeslieder zustande oder entlockte der Laute lediglich Misstöne, weil er vergessen hatte, wie man die Saiten zupfte.
Ganz allmählich wurde ihm klar, dass er Tezzan unter seine Obhut genommen hatte, weil er den jungen Mann schlichtweg anschmachtete. Der erste Eindruck war von schönen Beinen und einer wohlgeformten Kehrseite gewesen. Dann waren die verflixten Sommersprossen aufgetaucht und hatten ihn gefangengenommen. Dazu die herbstlaubfarbenen Locken, das zauberhafte Lächeln, die offensichtliche Unbedarftheit und das Vertrauen, das der junge Mann ihm so überreichlich schenkte. Ach, verdammt!
Doch hatten seine Eltern ihn anständig erzogen, und so fiel der Entschluss gar nicht schwer, redete er sich tapfer ein, an diesem Abend nicht mehr als ein Beschützer und Begleiter zu sein. Er würde Tezzan nur sehr zahmes Nachtleben der Hauptstadt zeigen. In anderen Vierteln ging es ganz anders her, und die würde Tezzan nicht zu sehen bekommen, solange Kylien auf ihn aufpasste. Und damit bewies, dass er von ebenso starken
Beschützerinstinkten geleitet wurde wie die Hochrätin. Armer Tezzan, der nun auch wieder unter einer Glasglocke gelandet war, wenngleich sie großzügiger ausfiel als jene, unter der seine Mutter ihn gesetzt hatte.
Aber wie Kylien es auch drehte und wendete, während sie ihre Schüsseln leer aßen und er einige – harmlose – Fragen über die Hauptstadt beantwortete, es gab keinen Ausweg, keine Möglichkeit, diesem schönen Mann vielleicht näherzukommen. So Tezzan denn überhaupt Interesse an Männern hatte. Üblicherweise würde Kylien direkt nachfragen, wenn ihm ein anderer Mann gefiel. Bei Tezzan war es schlichtweg nicht möglich, weil es ihn nicht zu kümmern hatte.
Stumm verfluchte er im Geiste seine Eltern und seinen eigenen Anstand, auf den er doch sonst so stolz war.
»Du bist hier in der Stadt aufgewachsen?«, fragte Tezzan.
Ach, stundenlang könnte er dieser Stimme zuhören, selbst falls sie nur Rechenschaftsberichte der Hochrätin vorlesen würde! Obendrein konnte er sich nun einreden, dass Tezzan aus mehr als nur Höflichkeit fragte, war das nicht wunderbar?
Er nahm einen Schluck Wasser, nickte und erzählte bereitwillig: »In der Nähe des Hafens. Meine Eltern hatten eine Schreinerei, in der sie Truhen und andere Möbel für die Werft und die Schiffe herstellten. Glücklicherweise bin ich nicht ihr einziges Kind. Meine ältere Schwester und mein kleiner Bruder«, er deutete mit der Hand die Größe des Jüngeren an, der ihn um mehr als Haupteslänge überragte.
Diese Geste brachte ihm freundliches Lachen von Tezzan an, was diesem ungemein gut stand! Die Sommersprossen rotteten sich regelrecht in den zarten Fältchen in seinen Augenwinkeln zusammen und schienen ebenso vergnügt wie er.
Verdammt, er würde sich sehr bewachen müssen, damit er nachher in der Rose
keine schmachtende Ode an Sommersprossen zum Besten gab!
»Die beiden werden die Schreinerei auf jeden Fall übernehmen. Meine jüngere Schwester und ich haben uns andere Arbeit gesucht. Sie lernt bei einem Goldschmied, und obwohl sie natürlich jedes ihrer bisherigen Werke als Schrott bezeichnet, ist ihr Lehrherr sehr zufrieden mit ihr.«
»Das stelle ich mir wundervoll vor. Ich würde so gerne auch etwas erschaffen
, auch wenn ich fürchte, dass ich irgendwann in der Verwaltung landen werde. Verstehe mich nicht falsch, ich liebe Bücher. Aber es ist eine Sache, sie zu lesen, weil man will, eine andere Sache, sie als Arbeit ansehen zu müssen.« Er seufzte.
Kylien gab ihm mit einem Nicken zu verstehen, dass sie aufbrechen sollten und griff nach beiden Schüsseln, um sie zurück zur Theke zu bringen. »Was würdest du gerne machen?«, fragte er, als Tezzan sich ihm anschloss. Es war nicht mehr weit bis zur Rose
.
»Etwas mit Stoffen«, kam die Antwort schnell wie ein Bolzen, der von einer Armbrustsehne flog. »Bunte Stoffe. Ich würde gerne alles vom ersten Schritt an lernen. Flachs, aber auch Wolle. Alles vom Kämmen über das Spinnen und vor allem das Färben. Ich würde gerne Weben lernen.« Er sah auf seine Hände, schmal, empfindsam, Sommersprossen auf ihren Rücken. Hände, die wie gemacht waren, die Weichheit eines Stoffes zu ertasten, eine dicke Falte zu packen, die Griffigkeit des Materials zu erspüren.
Nicht ganz unerwartet brodelte Hitze in Kylien bei dieser Vorstellung, wie die schlanken Finger sich in ein weißes Laken krallen würden. Wie Schweiß auf dem sehnigen Unterarm perlen würde. Oh, verdammt!
Hastig gab er die Schüsseln ab, hielt sich dann am Trageriemen der Laute fest. Gerade der einzige Halt in einer Welt, die nach Tezzan und Hitze duftete und Kylien deutlich vor Augen führte, dass er dem Alter, in dem man sich Hals über
Kopf verlieben konnte, noch lange nicht entwachsen war. Das war eindeutig mehr als sachtes Schmachten, als Gefallenfinden an einem schönen Gesicht unter roten Locken und einem schlanken, biegsamen Körper, der einfach wunderschön anzusehen war. Ihr Gespräch, das Lachen, all das kam dazu.
»Als ich kleiner war, hat mein Kindermädchen oft mit einer Handspindel Wolle verarbeitet, während ich ihr vorlas. Wundervolle Stunden! Oder ich würde gerne etwas mit Holz machen. Daran habe ich mich vorhin erinnert, als du die Schreinerei deiner Eltern erwähnt hast.«
Sie hatten derweil die kleine Seitenstraße erreicht, die für keinen Karren passierbar war, weil sie über eine Reihe von Stufen führte, dann ein Stück eine schmale Gasse entlang, ehe es wieder eine Treppe zu überwinden galt. Kylien spähte aus Gewohnheit in die Schatten, ob der Weg sicher wäre.
Tezzan eilte leichtfüßig neben ihm die Stufen empor und sah sich immer wieder neugierig um. Kylien war sicher, dass dem jungen Mann kein Blumentopf, keine wuchernde Rankpflanze und kein mit Schnitzwerk durchbrochener Fensterladen entging. Das alles schien so neu und wundervoll für ihn, dass auch Kylien seine Umgebung mit neuen Augen sah. Nicht mehr der ständig wachsame Blick, ob vielleicht irgendwo ein Dieb lauern mochte oder ein hungriger Hund, der zu einem Problem werden könnte.
Selbst das Schild, das an Ketten über dem Eingang der Rose
hing, schien ihm mit einem Mal schön und unvertraut zugleich. Dass der Schriftzug von einem kunstvoll geschnitzten Kranz von Zweigen mit Rosenblüten umgeben war, hatte er bestimmt schon einmal vor Jahren bewusst wahrgenommen. Später nicht mehr.
»Da ist es schon«, sagte er und konnte sich doch kaum von dem Anblick der Rosenranken losreißen.
Schon auf der Straße vernahm er die Musik: Es mussten die Zwillinge sein, die auf Querflöte und Trommeln ein Kriegslied spielten, wie nur sie das vermochten.
Tezzan rückte näher, schien aufgeregt und voller Vorfreude. Das Strahlen war wieder da und erhellte schier die Gasse.
Kylien öffnete die Tür, und die Flötenklänge hüllten sie beide ein, als sie durch den Perlenvorhang in die Gastwirtschaft traten. Gelbgoldenes Licht der vielen Laternen ließ Tezzans Locken in allen Tönen von Kupfer, Zinnober und Karmesin leuchten. Eine schmale Hand schloss sich wie Halt suchend um Kyliens Handgelenk, fühlte sich kalt vor Aufregung an.
Ja, es waren die Zwillinge, ganz wie erwartet. Ihre Musik war wild und aufregend, lud dazu ein, mit dem Fuß den Takt zu klopfen oder das Trommelspiel mit Händeklatschen zu verstärken. Das taten einige der Gäste auch, und Kylien spähte rasch umher, bis er seinen bevorzugten Tisch glücklicherweise unbesetzt vorfand.
Die Wirtin winkte ihm zu, hatte ihn offenbar schon erwartet und vielleicht seinen Tisch sogar freigehalten. Kylien nickte ihr zu und zog Tezzan dann mit sich zu dem kleinen Alkoven, der leicht erhöht den besten Blick über den Schankraum ermöglichte.
Er spürte, wie der Rhythmus des Kriegsliedes von Tezzan Besitz ergriff, wie der junge Mann seine Schritte dem Takt anpasste. Es tat ihm gut, zeigte ihm, wie wohl Tezzan sich fühlte. Und er sah so wunderschön aus. Die Wangen leicht gerötet vor Aufregung und Freude, sodass die Sommersprossen noch mehr leuchteten. Jede Einzelne ein Funken über einem Freudenfeuer wie jene in der Mittsommernacht.
Sie nahmen einander gegenüber Platz. Der Schankdiener kam sofort zu ihnen und fragte leise nach ihren Wünschen. Kylien bestellte Fruchtwasser. Er hatte das Gefühl, dass er unbedingt einen klaren Kopf behalten sollte. Nicht, dass der angesichts
Tezzan sehr klar war, aber er musste es ja nicht noch schlimmer machen.
Auch Tezzan bestellte ein Fruchtwasser mit Kirschen. Kaum war der Diener gegangen, beugte Tezzan sich zu Kylien über den Tisch. »Was wirst du spielen?«
»Ich weiß noch nicht.« Bloß keine Liebesballade! Dann würde er Tezzan nämlich die ganze Zeit anschmachten, sich garantiert verspielen und irgendwann eine solche Blutleere im Hirn haben, dass er nicht einmal mehr ein Wort hervorbrachte. Vielleicht sollte er besser gar nicht singen, sondern nur spielen. Das wäre bestimmt weiser. Eine Eingebung traf ihn wie ein Hammerschlag. »Möchtest du vielleicht auch? Ich würde dir meine Laute leihen. Es ist wirklich nur freundlicher Wettstreit.« Er fühlte, dass er bei diesen Worten ein wenig rot wurde. Immerhin war ein Instrument, und war es auch nur seine einfache, alte Laute, die nun neben ihm auf der Sitzbank ruhte, etwas Persönliches.
Tezzan errötete nun ebenfalls. Mit einer nahezu ungestümen Bewegung ergriff er Kyliens Hand. »Darf ich? Würdest du? Oh! Oh, so gerne!«
Er legte die freie Hand auf Tezzans, drückte ganz kurz und sanft zu. »Ja, gerne.« Bei allen Göttlichen, in diesen Augen konnte er sich verlieren! Jetzt erst – da er nun zum ersten Mal, seitdem er Tezzan am Bettlakenseil entdeckt hatte, über ausreichendes Licht verfügte – konnte er sehen, wie hell Tezzans Augen tatsächlich waren. Sie wiesen ein wunderschönes, frisches Sommergrün auf. Sterne funkelten in ihnen, wenn er sich freute. Wie Tautropfen auf dem Gras, wenn die Morgensonne darüber streichelte. Und das waren eindeutig die törichtesten Gedanken, die er jemals in seinem Kopf gehabt hatte!
Hastig gab er Tezzans Hand frei, drehte sich leicht zur Seite und ergriff die Laute, um sie aus ihrer Leinenhülle zu befreien.
Sah sie zu schäbig aus? Gleichgültig, sie war eine liebe Freundin, wurde seit Jahren umhegt, gespielt und machte Kylien glücklich. Er hoffte so sehr, dass Tezzan sie ebenso liebevoll an sich drücken würde, ihr die sanften, hellen Klänge entlocken würde.
Er wartete nur noch ab, bis der Diener die Getränke gebracht hatte, dann reichte er die Laute über den Tisch, achtete darauf, dass der bunte Gurt kein Glas umwerfen konnte.
Seine Sorge verflüchtigte sich wie Morgennebel, als er sah, wie behutsam und ehrfürchtig Tezzan die Laute entgegennahm, wie seine Augen strahlten und ihm wieder diese bezaubernde Röte in die Wangen stieg. Sanft streichelten die schlanken Finger über das Griffbrett und dann über die Saiten.
Tezzan hob den Kopf und lächelte schüchtern und begeistert zugleich. »Danke. Das … sie ist wundervoll. Du hast wirklich nichts dagegen, dass ich deine Laute spiele?«
Kylien konnte nur den Kopf schütteln und darum kämpfen, dass sein Lächeln nicht zu breit und verliebt ausfiel. Alles, was Tezzan tat und sagte, erschien ihm wundervoll.
Ein letzter Flötenton. Applaus brandete auf. Die Zwillinge hatten ihr Kriegslied beendet und heimsten Beifall ein. Auch Kylien klatschte, obwohl er gar nicht mehr zugehört hatte. Ein Jammer, denn die beiden waren wirklich gut.
»Nun, wer spielt uns als Nächstes auf?«, erklang die Stimme der Wirtin.
Tezzan drückte die Laute an sich, glitt aus der Nische und von der Sitzbank. »Darf ich?«
Freundlicher Beifall empfing ihn. Die Wirtin nickte ihm zu, und Tezzan wandte sich noch einmal Kylien zu, lächelte, strahlte, dass alle Laternen nur noch dumpfen Schimmer zu spenden schienen.
Dann bewegte er sich zielstrebig auf die kleine Bühne zu, passierte die Tische und Gäste, die Laute in sicherem, liebevollem Griff.
Wie geschmeidig er sich bewegte, wie gerade aufgerichtet er ging. Laternenschein ließ sein Haar leuchten wie einen Helm aus Feuer. Mit einem langen Schritt erklomm er die Bühne, wandte sich um.
Kyliens Herz klopfte einen wilden Takt. Einsam und doch so sicher und gelassen wirkte Tezzan dort auf der Bühne. Jetzt erst streifte er sich den Gurt der Laute über den Kopf, streichelte über den gewölbten Klangkörper des Instruments.
»Danke, dass ich heute Abend hier sein und spielen darf«, sagte er schlicht und zupfte eine der Federn aus dem geflochtenen Gurt der Laute. Er stand einen Augenblick still, dann flammte das Lächeln wieder in voller Stärke auf, als hätte Tezzan sich erst jetzt entschieden, was er vortragen wollte.
Er sah Kylien direkt an, als er die ersten Takte spielte. Vertraut, und doch ganz fremd, da Tezzan nicht nur die bekannte Melodie mit dem Federkiel aus den Saiten lockte, sondern seine eigenen Variationen wie Blumengirlanden um die geläufige Weise wand.
Kal und Ten, zwei Krieger, die unsterblich ineinander verliebt waren und Seite an Seite auszogen, um einen Eisdrachen zu erschlagen.
Kyliens Mund wurde trocken. Üblicherweise fragte er einen anderen Mann, ob dieser sich ebenfalls Männern zuwandte, ehe er auslotete, ob aus ihnen etwas werden könnte. Bei Tezzan hatte er das selbstverständlich unterlassen und sich alleine in die Rolle als Beschützer und ein wenig als Mentor eingefunden. Jetzt wurde ihm klar, dass er nicht hatte fragen müssen. Denn Tezzan lieferte ihm die Antwort, während er von einem Sommerwald sang, in dem es schneite, und dabei immer noch Kylien in die Augen blickte.
Tezzan musste die bewundernden Blicke gespürt und verstanden haben, die Kylien sich so zu unterdrücken bemüht hatte. Funkenflug zwischen ihnen, wie die Sommersprossen auf dem schmalen Gesicht, die aussahen wie winzige Stückchen Glut.
Er entlockte der Laute ein Zwischenspiel, das Kylien begeisterte und die anderen Gäste wie gebannt auf die schlanken Finger und die tanzende Feder starren ließ.
Kyliens Herzschlag beschleunigte sich. Er kannte dieses Lied, er wusste, welche Zeilen nun kommen würden.
»Ten reicht die Hand, Kal ergreift sie geschwind
lächelt, der Blick klar trotz Schneewirbelwind
Und Sommersprossen im wirbelnden Weiß
glüh’n wie Funkenflug über dem Feuer so heiß.«
Sommersprossen, in die er sich verliebt hatte. Wie in den ganzen restlichen Tezzan. Das Gefühl des schlanken Körpers in seinen Armen, nachdem Tezzan sein Bettlakenseil losgelassen hatte. Wie in einem dämlichen Liebeslied, als hätte Kyliens Herz an den Sommersprossen Feuer gefangen.
Nicht einen Herzschlag lang verließ Tezzans Blick sein Gesicht, während er ein weiteres Zwischenspiel auf der Laute zauberte. Wieder eine Variante, erneut so viel von ihm selbst im vertrauten Lied. Und Kylien wusste, was jetzt kommen würde, kannte die nächste Strophe, die ihm immer albern und zu viel erschienen war, die so romantisch war, dass Schmetterlinge besoffen wurden.
»Ten fragt: Bist Du mein?
Kal lächelt ihn an.
Dein bin ich, bist du mein?
Ten ist’s schon lang.
Ich bin dein,
sagt er, und weiß: Sie sind eins
und untrennbar trotz Kälte und des Drachen Eis.«
Beifall brandete auf, ehe noch der letzte Saitenklang verstummt war.
Tezzan ließ die Hand mit der Feder sinken, verneigte sich graziös, hob den Kopf wieder und war eine Flamme dort im Laternenlicht. Unbeirrbar fand sein Blick wieder Kyliens. Sommersprossenfunkeln auf Wangen, Stirn und Nase. Sogar auf den schmalen Händen. Jedes herbstlaubfarbene Löckchen eine kleine Lohe.
Er strahlte wie ein Sommertag und kletterte nun wieder von der Bühne, um zielstrebig zurück zu Kylien zu kommen. Unterwegs erhielt er Lob, den einen oder anderen Schulterklopfer und wirkte so zufrieden wie ein Kater auf der warmen Ofenbank.
Kylien streckte ihm die Hand entgegen. Sein Herz klopfte ganz oben in der Kehle, und er versuchte tapfer, sich einzureden, dass er übertrieb, dass er in die Zeilen eines Liedes so viel mehr hinein wünschte, als Tezzan gemeint haben konnte.
Aber Tezzan ergriff seine Hand, drückte sie liebevoll und zog sie an seine Brust, wo er sie festhielt. »Und wenn ich mir jetzt etwas eingebildet habe, was es gar nicht gibt, tut es mir sehr leid, dass ich so aufdringlich bin«, flüsterte er heiser.
»Nein«, gab Kylien ebenso rau zurück. Er sollte doch auf ihn aufpassen! Es ging alles zu schnell. Aber wann reiste die Hochrätin unter Mitnahme ihres Sohnes wieder ab? Wie viel Zeit blieb tatsächlich? Außerdem musste er Tezzan auch wieder bei der Festung abliefern. Das Bettlakenseil war immer noch zu kurz, außerdem konnte Tezzan nicht hochklettern.
Die Welt schien sich um ihn zu drehen. Die Lichter waren zu grell, alles war zu laut, und doch wie in Watte gepackt, während er nur Augen für Tezzan hatte, die Atemzüge unter seiner Hand spürte und im Feuerwerk der Sommersprossen untergehen wollte. Er suchte nach Worten und fand keine, die nicht schmalzig klingen würden.
Tezzan rückte noch ein wenig näher. »Darf ich dich küssen? Das will ich schon den ganzen Abend, aber … darf ich?«
Kylien nickte stumm. In seiner Brust flatterten wieder die betrunkenen Schmetterlinge und verschlangen jedes Wort, das vielleicht Aussicht darauf gehabt hätte, vernünftig zu klingen.
Tezzans kupferfarbene Wimpern flatterten sacht, ehe die Lider sich halb senkten. Jede Sommersprosse glühte rot auf der hellen Haut.
»Kommandant! Ich hatte gehofft, dich hier zu treffen!«
Tezzan riss die Augen auf. Kylien erstarrte, hob mühsam den Kopf und entdeckte eine seiner jungen Rekrutinnen, die sich den Weg zum Alkoven bahnte.
Oh, verdammt. Verdammt! Ja, er hätte es Tezzan irgendwann sagen sollen. Gerade jetzt, weil … weil sie sich beinahe geküsst hätten. Weil Tezzan von Sommersprossen gesungen und Kylien so deutlich dabei angesehen hatte. Weil er ihn im Arm hielt … weil er im Grunde seiner Seele viel zu ehrlich war.
»Kommandant, der Sohn … der Sohn der …« Sie starrte Tezzan an und besaß so viel Verstand, den Rest des Satzes zu verschlucken. Immerhin standen sie in einer gut besetzten Kneipe. Hier wussten alle, dass Kylien der Kommandant war. Wessen Sohn Tezzan war, trompetete man aber trotzdem besser nicht in den Schankraum.
Auf der Bühne erhob sich der sonore Klang einer Bockpfeife. Gleich würde die Melodie folgen, aber noch füllte nur der klagende Grundton die Kneipe und bot Deckung für eine Anweisung an die Rekrutin.
Doch Tezzan kam Kylien zuvor. Und noch immer hielt er Kyliens Hände und stand ihm so nahe, dass er die Körperwärme und die Atemzüge spüren konnte.
»Aber ich habe meiner Mutter doch geschrieben, dass ich unter dem Schutz von Kommandant Kylien … Hat sie den Brief nicht gefunden? Es tut mir so leid, dass sie nun alle in Aufruhr versetzt.« Er wandte den Blick wieder zu Kylien empor.
»Begleitest du mich zurück zur Festung, bitte? Mutter wird entsetzlich besorgt sein.«
Kylien raffte all seine verbliebene Fassung – viel war es nicht – zusammen und sagte zu seiner Rekrutin: »Wir kommen umgehend nach. Warte bitte draußen.«
Sie salutierte und trat hastig den Rückzug an.
»Ich weiß, ich hätte es dir früher sagen sollen«, begann er. »Aber als ich dich an deinem Seil baumeln sah … und dann hörte, dass … und …«
Tezzan legte den Kopf schräg und lächelte wie ein Sonnenaufgang. »Was? Dass du der Kommandant der Festungswache bist? Aber das wusste ich doch, Kylien. Du warst mir bei unserer Ankunft gleich aufgefallen. Als ich an meinem Seil hing, hatte ich keine Ahnung, wer mich auffangen würde, und ich hatte ein wenig Angst. Nur kam ich ja beim besten Willen nicht mehr alleine nach oben! Und das Seil war viel zu kurz. Aber dann hast du mich im Arm gehalten, und ich wusste, dass ich in Sicherheit bin. Ich habe mich so geborgen bei dir gefühlt – vom ersten Augenblick an.«
»Ich habe mir solche Mühe gegeben …«
»Ja, das war sehr niedlich. Ich weiß nicht, wen du darstellen wolltest: Küchenhilfe? Stallknecht? Aber alleine schon, wie du alles jederzeit im Blick hattest! Ja, ich war im Vorteil, weil ich dich ja schon in deiner schönen Rüstung gesehen hatte. Deine Haltung ist auch in einfacher Kleidung die gleiche, mein Kylien.« Er atmete tief durch. »Ich fürchte wirklich, du solltest mich jetzt zurückbringen, ehe meine Mutter die ganze Stadt in Aufruf versetzt. Denn natürlich habe ich weder einen Brief hinterlassen noch geschrieben, dass du mich begleitest. Sonst wäre sie bestimmt viel ruhiger.«
»Du meinst nicht, dass sie mir den Kopf abbeißen möchte?«
Tezzan lachte leise. »Nein. Sie ist wirklich nur liebevoll und besorgt und vergisst mitunter über ihrer Arbeit, dass ich nicht länger sechs Jahre alt bin und aus Kirschbäumen purzele.«
Kylien entzog ihm die Hand und streichelte ihm über die Wange. »Dann gehen wir jetzt zurück.«
Tezzan schüttelte sacht den Kopf. »Du hast da etwas vergessen.«
Stirnrunzelnd sah Kylien ihn an.
»Ich möchte dich immer noch küssen.« Ein spitzbübisches Lächeln begleitete diese Worte. »Dazu müssen wir den pflichtbewussten Kommandanten wohl vor die Tür setzen, nicht wahr? Und es tut mir leid, dass ich dich heute nicht spielen hören kann. Das holen wir morgen nach. Nur auf den Kuss möchte ich nicht bis morgen warten müssen.«
»Ich auch nicht«, gab Kylien ziemlich heiser zurück und zog Tezzan behutsam an sich. Die Laute war ein wenig im Weg, denn Tezzan hielt sie ja immer noch. Aber das machte nichts. Kylien beugte sich vor, fühlte weiche, warme Lippen, schloss die Augen und küsste den Bettlakenartisten liebevoll.
Er hatte das Gefühl, dass die Saiten der Laute bei jedem gemeinsamen Herzschlag leise summten.