Liebe klingt vulkanisch
MÀILI CAVANAGH
Für alle Star Trek Fans.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße!« Martin blieb fluchend stehen, um den Zettel aufzuheben, den er gerade verloren hatte. Doch eine heftige Windbö untergrub sein Vorhaben; hob das Blatt in die Lüfte und trug es davon. Direkt auf die vielbefahrene Straße zu seiner Rechten.
»Nein!« Martin rannte hinterher.
Ein roter Dacia Duster musste seinetwegen eine Vollbremsung hinlegen. Der Fahrer ließ das Fenster herunter und beugte sich hinaus. »Hast du Vollidiot noch alle Tassen im Schrank?«, schrie er ihn ungehalten an.
»Entschuldigung!«
Martin beeilte sich mit einem betroffen-schuldig wirkenden Gesichtsausdruck den Abholschein aufzuklauben und wieder zurück auf den Fußweg zu hasten. Obwohl er bereits vollkommen außer Atem war und Seitenstechen hatte, lief er so schnell er konnte, sah dabei auf sein Handy – und stieß prompt mit einem Laternenpfahl zusammen. »Au!« Das würde eine ordentliche Beule auf seiner Stirn geben.
Noch fünf Minuten.
Er legte einen Zahn zu und huschte um 17:55 Uhr durch die Tür der Postfiliale.
Die blonde, ältere Frau hinter dem Schalter sah ihn missbilligend über den Rand ihrer Hornbrille an und warf dann einen vielsagenden Blick auf die Uhr an der weißen Wand.
17:56 Uhr – und der Sekundenzeiger schritt unaufhörlich vorwärts.
Martin schob wortlos den dreckigen und mittlerweile arg mitgenommenen Zettel über den Tresen.
Für einen Augenblick schien sein Gegenüber zu überlegen, ihn nicht anzunehmen, sondern auf den bevorstehenden Feierabend hinzuweisen. Doch schließlich nahm sie ihn mit spitzen Fingern und ging ins Lager. Ein paar Minuten später kam sie wieder und reichte ihm wortlos ein großes Paket.
»Danke!«
Jetzt stand der Convention nichts mehr im Weg!
Kaum hatte er eine halbe Stunde später zu Hause die Tür hinter sich ins Schloss geworfen, riss er noch im Flur das Paket auf.
Vier Monate hatte er gewartet. Und jetzt hielt er sie endlich in den Händen! Er betrachtete sie von vorne und hinten und strich zärtlich mit seinen Fingerspitzen über ihre Rundungen. Dann machte er ein Foto von seiner neuen Geliebten und lud es in der WhatsApp Gruppe »STCon2018 – We will rock you« hoch.
~*~*~*~
Christian war fix und fertig, als er die Stufen zu seiner Altbauwohnung hochstieg. Den ganzen Tag hatten er und seine Kommilitonen für die bevorstehende Prüfung gelernt. Jetzt rauchte ihm der Schädel und er sehnte sich nach ein paar Stunden Schlaf, zumal er in der letzten Nacht nicht viel davon bekommen hatte. Sie hatte den zwanzigsten Geburtstag seines Kumpels Alex gefeiert. Feucht-fröhlich bis morgens um vier.
Oben angekommen riss er erst einmal alle Fenster auf. Sie hatten August und seit Tagen waren die Temperaturen nicht unter dreißig Grad gefallen. Und es sollte – jedenfalls laut seiner Wetter-App – noch mindestens eine Woche so weitergehen.
Er wusste, dass sich dadurch der Raum kaum abkühlen würde, aber zumindest zirkulierte so etwas die Luft in seiner kleinen Mansarde.
Die Mietpreise in der Stadt waren hoch und freier Wohnraum grundsätzlich knapp, sodass er froh gewesen war, als er die Zusage für diese dreißig Quadratmeter bekommen hatte.
Seine Eltern konnten ihn finanziell nicht unterstützen.
Sein Vater war seit vielen Jahren gesundheitsbedingt arbeitslos und seine Mutter arbeitete hauptberuflich bei einer Putzfirma, die Gewerbeobjekte betreute. Er wusste, dass seine Familie von vielen Menschen belächelt wurde. Er kannte all die abschätzigen Bemerkungen über seinen Vater – zu faul zum Arbeiten, Nichtsnutz, Schmarotzer. Er war damit aufgewachsen, dass die Leute mit den Fingern auf seine Familien zeigten; er hatte die mitleidigen Blicke gesehen, mit denen man seine Mutter bedachte, weil sie bei einem Mann blieb, der nicht für sie und das gemeinsame Kind sorgen konnte. Doch seine Eltern liebten einander und nahmen ihr Ehegelübde – in guten wie in schlechten Tagen – sehr ernst. Sie mochten vielleicht von der Hand in den Mund leben, aber eines würde ihnen niemand nehmen: die Liebe zueinander und die Liebe zu ihrem Kind.
Andere wären an so einem Leben vielleicht zerbrochen, ihn hingegen hatte es angespornt und eine glückliche Fügung des Schicksals in Form des Chefs seiner Mutter, der für den Hausmeister eines Mietshauses, in genau der Stadt, in der er einen Studienplatz bekommen hatte, einen Helfer zum Schneeschippen und Rasenmähen suchte, hatte ihn in diese kleine Mansardenwohnung gebracht.
Im Schlafzimmer zog er sich bis auf die Unterhose aus, warf sich auf das Bett und schloss die Augen – nur um gefühlte zwei Sekunden später hochzuschrecken. Mit wild klopfendem Herzen und Schweiß auf der Stirn lauschte er.
Was, zur Hölle, war das eben gewesen? Oder hatte er geträumt?
Nein, da war es wieder, dieses seltsame Geräusch.
Zuerst ein fast zaghaftes Pling, Pling, Pling , als würde irgendwo ein Wasserhahn tropfen und dann … Es war unmöglich, es zu beschreiben, so grässlich war es. Aber zumindest konnte er eindeutig lokalisieren, woher es kam: nämlich aus der Wohnung direkt unter ihm.
Er legte den Kopf schief. Das war … irgendwie … elektronisch. Vielleicht eine kaputte Gitarre? Er kannte sich mit Musikinstrumenten nicht aus. Aber egal was sein gutaussehender Nachbar da gerade drangsalierte – es nervte!
Martin. Martin Müller.
Christian schätzte ihn auf Anfang zwanzig. Er hatte etwas längere pechschwarze Haare, blau-graue Augen und bei ihrer ersten Begegnung vor ein paar Monaten hatte er eine verwaschene, aber saubere Jeans und einen Pullover mit dem Logo von Greenpeace getragen. Sie hatten sich eine ganze Weile miteinander unterhalten …
Christian hatte ihn auf Anhieb sympathisch gefunden, mit seiner lockeren, ungezwungenen, ja fast schon ein wenig rebellischen Art. Er stand zu seinen Überzeugungen und trat dafür auf Demos ein. Er hatte sich sogar schon mal zusammen mit anderen an die Ankertrossen eines Walfangschiffes gekettet, um es am Auslaufen zu hindern und auch sonst war er keiner unkonventionellen Art und Weise abgeneigt, um auf Missstände hinzuweisen.
Martin studierte Philosophie und wohnte auch erst seit einem Jahr hier. Und – Martin war schwul. Letzte Woche hatte Christian unfreiwillig einen One-Night-Stand von ihm mitbekommen. Sie hatten es draußen auf dem Balkon miteinander getrieben und sich anschließend wegen irgendetwas lautstark gezofft, bis der andere Typ abgehauen war.
Christian hatte eine ganze Weile auf seinem Mini-Balkon gestanden und ihnen zugesehen, bis ihm bewusst geworden war, was er da tat. Nämlich spannen. Am liebsten hätte er mitgemacht. Nein, das stimmte nicht ganz. Am liebsten hätte er diesen Kerl rausgeschmissen und selbst Martin gevögelt. Inzwischen hatte er nämlich insgeheim ein Auge auf ihn geworfen … Aber sich nicht überwinden können ihn anzusprechen.
Martin hatte ihm leidgetan, als sein nächtlicher Besucher gegangen war und er allein dagesessen hatte, mit gesenktem Kopf, die Arme um die angezogenen Beine geschlungen. Aber Christian hatte nicht den Mut gehabt, zu ihm runterzugehen und ihn zu trösten. Zumal er dann auch hätte eingestehen müssen, was er alles mitbekommen hatte.
Unter ihm ging der Lärm weiter. Steigerte sich sogar noch.
Genervt stand Christian auf, zog sich trotz der Hitze aus Gewohnheit eine kurze Hose und ein T-Shirt über, nahm seinen Haustürschlüssel, ging nach unten und wollte klingeln.
Er stutzte.
Vor ihm an der Wand befand sich kein normaler Klingelknopf, sondern eine rote Holztafel. Darauf ein großer weißer Schalter, ein goldenes Gitter mit einem hellblauen Rahmen und rechts davon ein roter und ein weißer Knopf.
Das Teil musste neu sein, schließlich lief er jeden Tag an Martins Wohnung vorbei. Wahrscheinlich hatte er es vorhin nicht bemerkt.
Er zögerte. Wo sollte er draufdrücken?
Er entschied sich schließlich für den kleinen weißen Knopf – der sah irgendwie am ungefährlichsten aus.
Ein schrilles Pfeifen ertönte.
Christian schüttelte den Kopf.
Von drinnen kamen Schritte näher. Die Tür wurde geöffnet. »Ja bitte?«
Martin trug nichts außer einer ziemlich eng sitzenden blau-schwarzen Unterhose, die mehr enthüllte, als sie verbarg. Okay, er war kein Schwarzenegger und auch kein Adonis – aber in Christians Augen, für seinen Geschmack dennoch attraktiv. Um genau zu sein: sehr attraktiv! Sexy, wie er so dastand.
Christian schluckte; holte tief Luft und versuchte, irgendwie seine durcheinander geratenen Gedanken und Gefühle zu ordnen. Eigentlich wollte er eine Schimpftirade loslassen, doch bei diesem Anblick brachte er lediglich ein unbeholfen gestottertes »Hey!« heraus.
»Hey! Komm rein!«
Christian folgte der Aufforderung und blieb unschlüssig im Flur stehen.
Er blinzelte. Schloss kurz die Augen und öffnete sie wieder. Doch das Bild, das sich ihm bot, blieb dasselbe. Von der Decke hingen unzählige kleine Raumschiffmodelle. An den Wänden waren Flaggen und Poster befestigt. Auf dem Fußboden lag ein Läufer mit einem Logo, das er irgendwo schon mal gesehen hatte. Die Tür zum Bad stand offen. Der Badvorleger, die Handtücher … Alles mit diesem Logo. Sogar der Zahnputzbecher!
»Du kannst ruhig ins Wohnzimmer kommen. Ist nur nicht aufgeräumt.«
Christian folgte der Stimme. Auch hier ging die Nerd-Show weiter. Sogar noch schlimmer. Lebensgroße Pappaufsteller von irgendwelchen Außerirdischen. Eine Kristallkugel mit einer 3D Lasergravur, Dioramen, eingerahmte Autogramme … Es herrschte eine Unordnung, nein, ein Chaos, dass er sich fragte, wie man hier überhaupt irgendetwas wiederfinden konnte.
Und dann machte es Klick.
»Du … äh … bist Star Trek Fan, ja?« Als Kind hatte er mal ein paar Folgen gesehen. Diese Zeit der Unbeschwertheit war lange her.
»Jap.« Martin fegte ein paar Unterlagen vom Sofa. »Willst du dich setzen?«
»Ich …« Auf dem Ding würd ich lieber was anderes mit dir machen , dachte er und musste sich auf die Unterlippe beißen, um es nicht auszusprechen. Gott, er hatte wirklich schon zu lange keinen Sex mehr gehabt, wenn er darüber nachdachte, über seinen Nachbarn herzufallen.
Er räusperte sich verlegen. »Nein, danke. Ich will mich ja nicht beschweren, aber …« Na ja, eigentlich war er ja genau deswegen hergekommen.
»Hm?« Martin zog fragend die Augenbrauen hoch. Eine Strähne seines Haars hing ihm in der Stirn. Er pustete sie weg.
»Aber was immer du da vorhin veranstaltet hast – geht das auch leiser? Ich steck mitten in den Prüfungsvorbereitungen und …«
»Oh, war das zu laut? Tut mir leid. Ich hab die Ka’athyra erst gestern bekommen und habe sie gerade gestimmt und in zwei Wochen ist schon unser Auftritt.«
»Die was?« Christian verstand nur Bahnhof.
»Die Ka’athyra!« Martin grinste und deutete auf den Tisch. Dort lag, auf einem Haufen von Zeitschriften und einer leeren Pizzaschachtel, etwas, das Christian entfernt an eine kleine Harfe erinnerte. »Das ist eine vulkanische Laute. Manche sagen auch vulkanische Harfe oder Leier dazu. Spock hat in der Folge Der Fall Charly darauf gespielt und auch in Die Reise nach Eden . Allerdings auf einer akustischen Version. Das ist eine elektrische. Hab ich mir extra in den USA anfertigen lassen. In dem großen Saal würde man sie sonst nicht hören.«
Christian brauchte einen Moment. »Du willst also innerhalb von zwei Wochen lernen, ein … Instrument zu spielen, das es eigentlich gar nicht gibt?«
Verlegen sah Martin auf seine schmalen Füße. »Hm. Wenn du es so ausdrücken willst …«
Das war die verrückteste Idee, die Christian je gehört hatte. Wie kam man nur auf so was? »Und, äh, wie soll das gehen?«
Martin beugte sich hinunter, um sein Handy aufzuheben, das, natürlich, in einem Case mit dem Konterfei von Captain Kirk steckte. Dabei streckte er Christian seinen knackigen Hintern entgegen. Christian schluckte.
Fuck!, fuhr es ihm durch den Kopf.
Martin tippte auf dem Handy herum und hielt ihm dann das Teil entgegen, auf dem ein YouTube-Video lief. »So! Im Internet gibt’s jede Menge Anleitungen.«
Christian seufzte. Wenn das nicht durchgeknallt war, dann wusste er auch nicht. Andererseits, was ging es ihn an? »Okay … Könntest du eventuell ein wenig leiser üben auf deiner …. Wie heißt das Teil noch mal?«
»Ka’athyra!«
»Äh … hm … darauf …«
Martin nickte. »Klar.«
Christian gähnte. »Dann … geh ich mal wieder.«
Martin begleitete ihn bis zur Tür. Als er sie für ihn öffnete, streifte er dabei Christians Oberarm. Es war wie ein Stromstoß, der bis in die Tiefen seines Inneren reichte – direkt bis in sein Herz.
Du bist wirklich auf Sex-Entzug , dachte Christian und machte sich auf und davon, bevor Martin bemerkte, dass sich da etwas in seiner Hose zu regnen begann.
~*~*~*~
»Du bist so ein Idiot, Martin!« Er raufte sich die Haare. Nicht mal was zu trinken hatte er ihm angeboten. Na ja, wer würde auch mit einem fast nackten Nachbarn ein Bier trinken, in einer Umgebung, in der es aussah, als hätte eine Bombe eingeschlagen? Und das nicht nur heute. Er wusste, dass er chaotisch war. Unpünktlich. Einen schrägen Humor hatte. Das hatte schon viele abgeschreckt und langsam, aber sicher hegte er den Verdacht, dass er niemals eine feste Partnerschaft haben würde. Er genoss das Leben, nahm jeden Tag, wie er war – schließlich konnte jeder der letzte sein. Das war keine Floskel. Schmerzhaft hatte er den Verlust zweier geliebter Menschen erfahren müssen. Sein Cousin war bei einem Motorradunfall gestorben und seine Schwester war vor ein paar Monaten ihrer Krebserkrankung erlegen. Mit gerade mal sechzehn Jahren. Der Gedanke an die beiden schmerzte. Er zwang sich, ins Hier und Jetzt zurückzukehren und drängte die Trauer zurück; versuchte an etwas Schönes zu denken.
Christian. Sein sexy Nachbar.
Wie oft hatte er am Fenster gestanden und ihn beobachtet, wenn er auf dem Rasen seine Dehn- und Streckübungen machte, bevor er zum Joggen ging? Zu oft … Jedes Mal war er danach zu spät zu seinen Terminen gekommen. Und dabei wusste er nicht mal, ob Christian auf Frauen oder auf Männer oder vielleicht beides stand. Na ja, selbst wenn er schwul war oder bi oder was auch immer – das war’s dann wohl gewesen …
Martin versuchte, seine Proben auf Stunden zu verlegen, in denen Christian nicht da war – oder so leise wie möglich zu spielen. Nach einer Woche war er kurz davor, das Handtuch zu werfen. Er konnte es einfach nicht! Eigentlich hätte er drei Monate Zeit gehabt, um zu lernen, wie man das Teil handhabte. Aber es hatte Lieferschwierigkeiten gegeben – alles waren Einzelstücke und der, der die Dinger herstellte, war krank geworden.
Wenn er allein diesen beschissenen Auftritt gehabt hätte, hätte er ihn bereits abgesagt. Blamieren konnte er sich auch woanders und nicht ausgerechnet vor Publikum bei einem Talentwettbewerb. Aber er wollte zusammen mit seinen Freunden auftreten. Allesamt Hardcore Star Trek Fans wie er. Jeder von ihnen hatte seit letztem Jahr dafür jede Menge Freizeit und Geld investiert. Für die Kostüme, die Instrumente …
Sie waren zu siebt. Tim spielte als Data die Violone, Joshua eine betazoidische Chime, David die bajoranische Tivara, Philipp die klingonische Concertina, Finn die vulkanische Trommel, Leon das Theremin und er die vulkanische Harfe.
Sie hatten sich vor zwei Jahren auf einem Trek Dinner kennengelernt. Es war eine neue Con. Der Star Trek Boom war längst vorbei und die meisten Veranstalter hatten aufgegeben. Früher hatte es neben den großen viele kleinere, sehr familiäre Veranstaltungen gegeben. Doch das war lange her – eigentlich bereits vor seiner Geburt. Mittlerweile gab es nur noch eine Con, die er aber als viel zu voll und teuer empfand. Da waren ihm kleinere Events lieber, bei denen man nicht von einem Panel zum nächsten hetzen musste. Bei dieser neuen Con sollten nur fünf Gaststars auftreten. Als Rahmenprogramm waren Autogrammstunden, Fotosessions, Vorträge, Workshops und andere Aktivitäten angedacht. Das Ganze über drei Tage in einem renommierten Hotel in der Stadt.
Dort bei dem Talentwettbewerb mitzumachen, war eigentlich eine Schnapsidee gewesen – im wahrsten Sinne des Wortes. Sie hatten auf dem TD, das einmal im Monat im Clubraum eines Restaurants stattfand, viel zu viel Alkohol getrunken und noch dort im Vollrausch die Anmeldung geschrieben.
Aber je näher der Termin rückte, desto bewusster wurde Martin, wie bescheuert ihr Vorhaben war. Am Abend wollten sie sich alle bei ihm treffen. Er seufzte und begann das Wohnzimmer aufzuräumen. Na, das würde ja was werden.
~*~*~*~
Christian warf das Buch in die Ecke und sprang auf. Seit dem Morgen hatte er Kopfschmerzen. Diese Hitze vertrug er nicht. Und kaum hatte er sich zu Hause an seinen Schreibtisch gesetzt, hatte diese schreckliche Musik angefangen. Nein. Das war nicht ganz korrekt. Erst war eine wunderschöne Melodie erklungen. Eine Melodie, die ihn für ein paar Minuten seine Schmerzen hatte vergessen lassen. Er hatte die Augen geschlossen und sich auf den Ton-Schwingen davontragen lassen. Martin war wirklich begabt. Jeden Abend hatte er seinen Fortschritten gelauscht, hatte sein Spiel genossen. Heute Abend schien er Besuch zu haben, dem Lärmpegel nach zu urteilen.
Und dann war dieses Etwas ertönt. Das war keine Musik. Das klang, als würde irgendjemand eine Katze umbringen! Oder mit irgendetwas über eine Tafel kratzen. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Er schnappte sich seinen Schlüssel und stapfte nach unten. Das musste aufhören, sonst würde er einen Mord begehen.
Mit jedem Schritt, den er Martins Wohnung näherkam, wurde der Krach lauter. Was, zur Hölle, veranstaltete er da?
Christian klingelte.
Nichts.
Kein Wunder, bei dem unsäglichen Krach.
Er klingelte also noch mal, ließ den Zeigefinger gefühlte fünf Minuten auf dem Knopf, bis endlich die Tür aufgerissen wurde – und er einem Monster gegenüberstand.
Er erschrak sich so dermaßen, dass er aufschrie und einen Schritt zurück machte und fast die Treppe runtergefallen wäre, hätte er sich nicht am Geländer festgehalten.
Natürlich war es kein Monster, sondern nur jemand, der in einem Kostüm steckte, inklusive seltsamen Wülsten auf der Stirn, wilder Haarmähne und ihm etwas entgegenschleuderte, das wie »nuck näch« klang – oder so ähnlich. Dann lachte er laut, wobei in seinem Mund künstliche, gelbe, spitze Zähne aufblitzten. »Das war Klingonisch und bedeutet: Was willst du?«
Christian schluckte. Am liebsten weg von diesem Planeten, fuhr es ihm durch den Kopf. »Ist, äh, Martin da?«
»Ja, klar, komm rein!«
Vorsichtig drängte Christian sich an ihm vorbei und ging ins Wohnzimmer. »Ach Gott«, entfuhr es ihm. Alle Anwesenden waren verkleidet. War er zufällig auf einer Kostümparty gelandet?
»Hey, Christian! Das sind meine Kumpel, mit denen ich am Wochenende auftrete.« Martin, in einem blauen Uniformhemd und einer schwarzen Hose, legte die vulkanische Harfe zur Seite und erhob sich. Er trug eine schlecht sitzende Perücke und hatte sich spitze Ohren angeklebt. Er sah damit verdammt sexy aus.
Oh, Himmel, stehst du etwa insgeheim auf Rollenspiele?, fragte Christian sich.
»War es wieder zu laut?«
Christian nickte.
»Kulturbanause!«
Christian wandte den Kopf zu dem Kerl, der das gesagt hatte. Das Geräusch, dass dieser mit dem Ding vor ihm auf dem Tisch erzeugte, ließ beinahe seine Zehnägel hochrollen. »Scheiße, was ist das?«
»Eine Theremin! Damit kann man wunderbar die Titelmelodie von Star Trek/Raumschiff Enterprise nachspielen.«
»Das ist mein Nachbar.« Martin stellte sich neben ihn. »Tut mir leid. Ich hab vergessen, dass du im Prüfungsstress bist. Wir üben die nächsten Tage woanders. Versprochen!«
Christian seufzte und nickte schließlich. »Okay!« Er musterte Martin. »Die spitzen Ohren und die Uniform stehen dir übrigens.«
»Uh!«, machte jemand und kicherte.
»Vulkanier ficken aber nur alle sieben Jahre!« Der Blonde sah demonstrativ auf den Kalender, der an der Wand hing. »Wenn ich richtig gerechnet haben, dann …«
»Halt die Klappe, Joshua!«, fauchte Martin und wurde tatsächlich rot.
Christian musste unwillkürlich grinsen. Schüttelte dann den Kopf und wandte sich zum Gehen. Verrückter Haufen. Dann würde er das Lernen heute ausfallen lassen, eine Aspirin einwerfen und ins Bett gehen.
Martin brachte ihn bis zur Tür. »Tut mir leid. Meine Freunde übertreiben manchmal.«
»Schon gut.«
»Dann … Viel Glück bei deiner Prüfung.«
»Danke.«
~*~*~*~
»Ihr seid solche Idioten!«, fauchte Martin, als Christian gegangen war.
»Der steht auf dich – und du auf ihn!«, meinte Tim und legte die Füße auf den Tisch.
»Wie kommst du darauf?«
»Das sieht doch ein Blinder …«
Martin seufzte. Wenn die daran glaubten – er nicht. Dafür hatte er schon zu viele gescheiterte Beziehungen hinter sich. In seinen Augen war er beziehungsunfähig. Er war für die anderen zu individuell, zu unangepasst. Hatte zu viele Spleens, einen zu seltsamen Lebensstil.
Wahrscheinlich würde er für immer Single bleiben und sich im Altersheim allein in seinem Zimmer die 534534ste Wiederholung von Voyager ansehen.
Glück war etwas für die anderen.
Tief in seinem Inneren wusste er, dass es nicht so war, aber manchmal kamen solche Gedanken einfach in ihm auf.
In seine letzte Beziehung zum Beispiel hatte er alles gesteckt, hatte zurückgesteckt, ja, sogar einige seiner Prinzipien über Bord geworfen. War eigentlich fast nur für seinen Partner da gewesen – und trotzdem wegen eines anderen sitzengelassen worden. Nun, vielleicht genau deswegen. Er wusste es nicht.
~*~*~*~
Am nächsten Abend klopfte es bei Christian an der Tür. Zu seiner Überraschung war es Martin.
»Störe ich?«
»Nein, komm rein. Willst du was trinken?« Christian schloss hinter Martin die Tür.
»Nein, danke. Ich muss gleich weiter. Zur Probe, du weißt schon.«
Er nickte. »Hm. Deine Star Trek Combo!«
»Ja. Hier!« Er hielt ihm einen schmalen weißen Umschlag entgegen.
»Was ist das?« Christian krauste verwirrt die Stirn.
»Mach auf!«
Christian tat es. Es war ein Gutschein für eine Tages-Eintrittskarte für besagte Convention.
»Das ist ’ne kleine Entschuldigung. Ich weiß, ich habe ziemlich genervt. War echt ’ne blöde Idee, bei diesem Ding mitzumachen.«
»Wieso? Nun setz dich ein paar Minuten und erzähl!«
Martin nahm auf dem Sofa Platz und erzählte, wie es dazu gekommen war.
Christian, der es sich ebenfalls bequem gemacht hatte, hörte interessiert zu und lachte. »Ziemlich … ungewöhnlich.«
»Ja. Allerdings.«
Mit hochgezogenen Augenbrauen sah Christian auf die Karte. »Und ich soll jetzt Zeuge eures Untergangs werden?«
Martin biss sich auf die Unterlippe. An diesen Aspekt seines Geschenkes hatte er offensichtlich nicht gedacht. »Ich … Tut mir leid. Mein Leben ist ein einziges Chaos!« Er fuhr sich mit den Händen durch die Haare. »Ich lass kein Fettnäpfchen aus.«
Er wirkte so verletzlich und verloren, wie er dasaß, das T-Shirt halb in, halb aus der Jeans hängend, zwei verschiedene Socken, die Haare mittlerweile wesentlich kürzer geschnitten, was ihm stand, aber verstrubbelt.
Scheiße!, fuhr es Christian durch den Kopf, als ihm bewusst wurde, was er da eigentlich gerade gesagt hatte. »So schlecht wart ihr gar nicht«, versuchte er zu retten, was noch zu retten war. Und das war die Wahrheit.
»Echt?«
»Na ja, ich bin wirklich kein Musikkenner. Nur dieses nervige Theremin – das geht gar nicht!«
Martin lachte. Es war ein schönes Lachen. Ehrlich. Und es erreichte seine Augen, in denen er am liebsten versunken wäre. Sie erinnerten ihn an den Himmel, wenn er nach einem Unwetter wieder aufklarte.
»Ihr macht das schon! Und – ich komme mit.« Er hatte ohnehin nichts Besseres vor.
»Cool!« Martin sprang auf, stieß dabei gegen den Couchtisch, sodass das filigrane hauchdünne Glas, das darauf stand, herunter auf den Parkettboden fiel und in tausend Teile zerbrach. »Oh, Scheiße! Sorry!« Er machte einen Schritt um sich herunterzubücken; dabei rutschte er auf einem Blatt Papier aus, das mit heruntergesegelt war. Instinktiv versuchte er sich mit der rechten Hand beim Stürzen abzufangen und fasste genau in den Scherbenhaufen. Blut tropfte auf den Boden. »Scheiße!«
»Alles okay?«
Martin schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, ich habe mich nicht nur geschnitten, sondern auch ein paar Splitter in der Hand.« Er drückte darauf rum, zuckte zusammen. Fluchte.
Christian sah sich die Bescherung an. Was für ein Pechvogel Martin war! »Ich habe leider keine Pinzette hier. Tja, dann sollten wir damit wohl besser ins Krankenhaus fahren. Vielleicht muss es auch genäht werden. Nicht, dass noch eine Sehne verletzt ist.«
»Was?« Martin wurde leichenblass. »Ich … Der Auftritt … Es sind nur noch ein paar Tage …«
Eilig holte Christian den Erste-Hilfe-Kasten und legte einen provisorischen Verband an. »Wenn du hier verblutest, wird das erst recht nichts mit deiner musikalischen Karriere. Komm, lass uns fahren.«
Zum Glück war in der Notaufnahme nicht viel los und es bedurfte nur ein paar Minuten, um die winzigen Splitter rauszuholen, die Schnitte zu kleben und einer Tetanus-Auffrischung. Christian blieb die ganze Zeit bei Martin und hielt dessen andere Hand, da dieser vermutlich sonst die Flucht ergriffen hätte, so oft, wie er zum Ausgang geschielt hatte. Die Ärztin lächelte. »So, fertig! Sie dürfen jetzt wieder nach Hause.«
Als Martin wieder im Auto saß, sah er auf seinen dick verbundenen Finger. Den Daumen hatte es am schlimmsten erwischt. »Das war’s dann wohl mit dem Auftritt …«
Christian seufzte. Er fühlte sich irgendwie schuldig. »Ach was, das kriegen wir wieder hin. Es sind ja noch ein paar Tage und wenn du den Finger schonst …«
Martin sah ihn mit großen Augen an. Hilflos. Schutzbedürftig.
»Pass auf, du machst damit gar nichts und ich koch für dich und wenn du was zu tippen hast …«
Martin blinzelte. »Aber …«
»Kein Aber! Du machst nur das Nötigste und alles andere übernehme ich!«
»Danke!«
Christian nickte. Was hatte er da gerade gesagt?
Nun, er hielt sich an sein Wort; kochte, wusch Wäsche, während Martin auf dem Sofa lag und sich erholte. Und erfuhr in den nächsten Tagen viel über Martin. Dass er sich sein teures Hobby eigentlich nur leisten konnte, weil seine Oma die Hälfte der Miete übernahm und ihm öfter etwas zusteckte, er containerte und nur Second Hand Sachen kaufte – was aber auch zu seiner Lebenseinstellung passte. Er hatte viele Freunde, war jedes Wochenende unterwegs.
Christians Leben hingegen zog sich belanglos und langweilig, eintönig dahin.
~*~*~*~
Martin war mehr als nervös, als er Christian am Samstag abholte. Er mochte Christian und hatte eine Scheiß Angst, sich beim Talentwettbewerb vor ihm zu blamieren. Wenn er sich verspielte … oder sie den letzten Platz machten … Dann war er in Christians Augen garantiert ein Versager.
Andererseits – war er das nicht ohnehin schon?
Sie waren so unterschiedlich, hatten kaum Gemeinsamkeiten, wie er in den letzten Tagen festgestellt hatte.
Christian, der Ordnungsfanatiker, bei dem alles seinen Platz hatte. Der Zahlen liebte. Bei dem jede Minute seines Tages durchgeplant war.
Und er, der Chaot, der mit Ach und Krach sein Abi geschafft hatte. Er, der … Nerd.
Ihm fehlte Beständigkeit. Eine rote Linie. Ein klares Lebensziel. Ein Thema, das sein Leben durchzog.
Sein Daumen tat immer noch weh, aber er würde trotzdem spielen. Das war er Christian und den anderen schuldig.
Er schwieg während der Fahrt; wusste nicht, was er sagen sollte. Es war, als hätten sie in den letzten Tagen jeden Gesprächsstoff aufgebraucht.
Außerdem, da er mittlerweile wusste, dass auch Christian schwul war, verursachte Christians Nähe eine Traurigkeit in ihm, die ihn verstummen ließ. Er mochte Christian, ja, er hegte sogar Gefühle für ihn. Aber Christian war unerreichbar, würde sich wohl nie mit jemandem wie ihm abgeben. Wenn er hetero gewesen wäre, wenn ihm seine Gefühle nicht im Weg stehen würden, hätten sie vielleicht Freunde sein können, aber so …
~*~*~*~
Martin hatte sich nicht lumpen lassen. Die Karte musste wirklich teuer gewesen sein – oder er hatte sie so bekommen, weil er ja bei der Show mitmachte –, denn Christian hatte für die Teilnahme an den verschiedenen Panels einen Sitzplatz in der ersten Reihe. Christian wusste es nicht. Martin hatte am Eingang zwei bedruckte DIN-A4-Blätter und ihre Personalausweise vorgelegt, woraufhin sie beide jeweils ein Plastikarmband bekommen hatten. Ein wenig fühlte er sich unter den ganzen eingefleischten Fans unwohl. Er konnte nicht mitreden. Andererseits war hier jeder nett und hieß ihn willkommen; band ihn sofort in Gespräche ein, ja, er erhielt sogar von jemandem, der als Cardassianer verkleidet war, wie Martin ihm erklärte, eine Einladung auf eine Cola an die Bar. Er war einer der wenigen, der nicht kostümiert herumlief, was auffiel und man schien der Meinung zu sein, man müsse sich um ihn kümmern. So etwas hatte er noch nie erlebt. So ein Gemeinschaftsgefühl auch Fremden gegenüber. Solch eine Herzlichkeit.
Martin schien ganz in seinem Element zu sein, ständig liefen sie jemandem über den Weg, den er kannte, mit dem er plauderte und fachsimpelte.
Sie sahen sich selbstgebaute Modelle an, ließen sich mit Stars fotografieren, holten sich Autogramme, lauschten einem Vortrag über die Theorie des Warp-Antriebes, tranken »Romulanisches Ale« und aßen »klingonisches Gagh«, lebende Schlangenwürmer, die in Wirklichkeit zum Glück nur gefärbte Spaghetti waren. Er fühlte sich in seine unbeschwerte Kindheit zurückversetzt und der Tag verflog viel zu schnell.
Es war Abend geworden und Martin und die anderen hatten gleich ihren Auftritt. Martins Hände zitterten vor Aufregung so sehr, dass er es nicht schaffte, sich die Gummi-Ohren wieder anzukleben, die er ständig verlor. Außerdem trug er noch zum Schutz der Wunde ein dickes Pflaster am Daumen. Die anderen waren mit sich und ihren Instrumenten beschäftigt.
»Soll ich dir helfen?«, fragte Christian.
Martin nickte.
Christian nahm den Kleber, drückte extra viel davon aus der Tube auf seinen rechten Zeigefinger und bestrich damit Martins Ohr. Er spürte, wie Martin unter der Berührung erbebte.
Zu gern hätte er seine Hand weiter wandern lassen. Den Hals hinunter, über die Brust, hinab bis zu seiner Mitte.
»Danke!«, murmelte Martin, die Wangen gerötet.
Christian nickte und ging zurück zu seinem Platz.
Kurz darauf betrat Martin mit seiner Gruppe die Bühne.
Leon spielte mit dem Theremin die Titelmelodie aus den Classic Folgen. Dann präsentierte jeder ein Einzelstück.
Christian schloss während Martins Spiel die Augen. Die Töne waren sanft wie der Wind, trugen ihn davon. Ließen ihn träumen von Liebe und Glück.
Tief in seinem Herzen sehnte er sich nach Harmonie in seinem Leben. Einer Harmonie, wie er sie in Martins Harfenspiel gespürt hatte.
Als das Stück endete, hinterließ der Klang der Harfe in ihm einen Nachhall. Eine Leere, die gefüllt werden wollte. Eine Sehnsucht, die nur einer stillen konnte … Er wusste, er musste sich befreien, die Grenzen, die Ketten sprengen, die er sich selbst umgelegt hatte. Aber er wusste nicht, wie er den Mut dazu finden sollte.
Zum Schluss kam etwas Gemeinsames, das sie selbst komponiert hatten. Es klang nicht besonders harmonisch, was vermutlich an der Zusammenstellung der Instrumente lag.
Christian bewunderte Martin. Er hätte sich so was nie getraut. Da hatte er viel zu viel Angst, sich zu blamieren. Martin machte seine Sache gut. Soweit Christian das beurteilen konnte – er hatte die Melodie ja nun schon oft genug gehört –, verspielte Martin sich nicht einmal.
Es gab tosenden Applaus für die Gruppe und als Martin sich neben ihn setzte zitterte er noch immer vor Aufregung. Schweiß stand auf seiner Stirn, er war vollkommen durchgeschwitzt.
»Hey! Das war klasse!« Christian legte seine Rechte auf Martins linke Hand.
Zweifelnd sah der ihn an. »Wirklich?«
»Ja!«
Es war sogar so gut, dass sie den ersten Platz machten.
Alle sprangen auf; Martin fiel Leon in die Arm. Dann drehte er sich zu Christian und küsste ihn überschwänglich. Leidenschaftlich.
Christian zögerte. Erwiderte den Kuss schließlich und spürte, wie dabei sein Herz fast bis zum Hals schlug. Er hatte Schmetterlinge im Bauch. Sie tanzten, flogen auf und ab. Nisteten sich in seinem Kopf ein und schienen sich in einen summenden Bienenschwarm zu verwandeln. Martin, Martin, Martin … my love … Fuck, ja, zur Hölle, er hatte sich in ihn verliebt! Und zwar sowas von! Seine Lippen brannten vom Kuss – heißt und kalt gleichzeitig. Er wollte mehr davon. Mehr von Martin … Am liebsten hier und jetzt.
Martins Augen leuchteten.
»Ich …« Doch zu mehr kam Christian nicht, denn die Gäste hinter ihnen beschwerten sich, dass sie ihnen den Blick auf die Bühne und den Zeremonienmeister versperrten. Und so lösten sie sich voneinander und setzten sich wieder. Hand haltend – in einer stummen Verständigung. Eine Geste, die mehr als tausend Worte sagte.
Abends feierten sie den Sieg. Zuerst dort bei der abendlichen Karaoke Party und später in einer nahegelegenen Bar.
In ihren Kostümen, die sie nicht abgelegt hatten, erregten sie natürlich die Aufmerksamkeit der anderen Gäste und Christian befürchtete, jeden Moment rausgeworfen zu werden. Aber man war dort offenbar sehr tolerant und so ließ Christian sich von der guten Stimmung mitreißen und gegen Mitternacht landete er sogar irgendwie mit Martin auf der Tanzfläche. Er war alles andere als ein begnadeter Tänzer. Wenn er ehrlich war, wusste er nicht mal, wann genau er zum letzten Mal eine Diskothek betreten hatte. Eigentlich hatte er die letzten Jahre seine Abende mit Lernen verbracht. Das Leben war dabei an ihm vorbeigezogen, während er tage- und nächtelang für das Abitur und später für das Studium gebüffelt hatte. Vielleicht fühlte er sich deshalb von Martin so angezogen. Er strahlte eine Lebensfreude aus, eine Leichtigkeit, die ihm verloren gegangen war.
Er hatte vergessen, wie man Spaß hatte. Wie man glücklich war. Wie man sich spürte, das Leben, seinen Herzschlag. So wie jetzt. Der Bass ließ den Boden unter seinen Füßen beben. Die Vibrationen setzten sich fort, durch seinen ganzen Körper. Erfüllten ihn mit einer Leichtigkeit, mit einer nie gefühlten Freiheit.
Martins Nähe, sein Lachen, seine Unbeschwertheit – das zog ihn an. Durch ihn fühlte er sich nach all den Jahren wieder lebendig.
Sein Leben war eine Partitur in D-Moll. Ein Trauermarsch. Und die wenigen Stunden mit Martin verwandelten es in eine Sinfonie des Glücks.
Als er Martin vor all den anderen in seine Arme zog und eng umschlungen mit ihm tanzte, erkannte er sich selbst nicht wieder. Er hatte seine Homosexualität nie geleugnet, war aber damit auch nicht hausieren gegangen, denn er hatte gesehen, was dabei rauskommen konnte. Sein bester Kumpel war nach einer CSD Party von irgendwelchen homophoben Idioten zusammengeschlagen worden und hatte eine Woche auf der Intensivstation gelegen. Deshalb hatte er sich, was seine Neigung betraf, stets feige bedeckt gehalten. Doch in diesem Augenblick wollte er sich nicht mehr verstecken. Alle sollten sehen, dass er dazu stand – und ihm etwas an Martin lag.
Dieser senkte den Blick, was Christian wiederum nicht einordnen konnte.
»Alles okay? Oder ist es dir peinlich?«
»Peinlich?« Er schüttelte so heftig den Kopf, dass die Perücke verrutschte. »Im Gegenteil. Ich bin mega happy!«
»Dann ist ja gut. Ich nämlich auch!« Er zog ihn näher zu sich.
Sie waren mit die Letzten, die um kurz vor drei mehr oder weniger hinauskomplimentiert wurden. Da Martin absolut nicht trinkfest war schnappte Christian sich entschlossen dessen Autoschlüssel. »Ich fahre!«
»Okay, Schnuckelchen!« Mit einem seligen Lächeln legte Martin seinen Kopf auf Christians Schulter. Schnuckelchen? So hatte ihn noch nie jemand genannt. Und für ihren ersten gemeinsamen Abend, wenn man es denn so nennen konnte, war das schon eine sehr intime Bezeichnung. Aber – es gefiel ihm. Und so drückte er Martin einen Kuss auf die Stirn. »Dann komm!«
»Ich sag doch, der steht auf dich«, meinte Joshua und boxte Martin gegen den Oberarm.
»Mmh!«
Christian zog Martin mit sich und verfrachtete ihn ins Auto. Am Haus angekommen, schlief Martin tief und fest und war kaum wachzukriegen. Mit Müh und Not schaffte Christian ihn bis zu dessen Wohnung – wo er dann in Martins Hosentasche herumkramen musste, um an dessen Haustürschlüssel zu kommen. Was kein einfaches Unterfangen war, da die Hose mehr als eng saß. Er hatte wohl zu gut für ihn gekocht …
»Hm, mach weiter, das gefällt mir!«, murmelte Martin mit geschlossenen Augen.
»Würde ich, wenn du nüchtern wärst!«
»Versprochen?«
»Du weißt, dass ich mein Wort halte. Und jetzt ab ins Bett!«
Ein seliges Lächeln stahl sich auf Martins Gesicht. »Aye, Aye, Captain!«
In Martins Wohnung verfrachtete er ihn ins Schlafzimmer und zog ihn erst mal bis auf die Boxershorts aus. Nicht, dass er seine Uniform noch vollkotzte.
Dann legte er sich angezogen neben ihn und betrachtete den schlafenden Martin im Schein des Mondlichts, das durch das Fenster fiel. Sein Gesicht, die kleine Narbe an seinem Kinn, der Brustkorb, wie er sich hob und senkte …
Er lächelte und küsste ihn auf die Stirn. »Dann schlaf gut.«
~*~*~*~
Als Martin am nächsten Morgen aufwachte, brauchte er eine ganze Weile, um sich daran zu erinnern, was geschehen war. »Oh, Scheiße!«, murmelte er und fuhr sich mit der Rechten über das Gesicht. Dann erst nahm er den Geruch nach Kaffee wahr und folgte ihm.
In der Küche angekommen blieb er stehen und blinzelte.
Christian stand am Herd und holte gerade zwei Eier aus einem Topf. Neben ihm röchelte die Kaffeemaschine. Der Tisch war gedeckt.
»Hey! Guten Morgen!«
»Guten Morgen. Was … machst du noch hier?«
»Frühstück?« Christian holte zwei Tassen aus dem Schrank.
»Du bist immer noch hier, obwohl ich mich gestern Abend so danebenbenommen hab?«
»Du warst ziemlich betrunken.« Christian setzte sich. Kippte Milch in seine Tasse.
Martin nahm ebenfalls Platz. Unsicher. »Tut mir leid. Ich …« Er zuckte mit den Schultern. »Immer wenn ich was besonders gut machen will, geht es daneben.«
»Würde ich nicht sagen. Ihr habt den ersten Platz gemacht.«
»Das meinte ich nicht. Ich … ich meinte dich. Seit du hier eingezogen bist, wollte ich dich ansprechen, aber ich hab mich nicht getraut. Dann hab ich dich mit meiner Musik genervt und deine Tasse kaputt gemacht … Und dich Schnuckelchen genannt …« Nervös spielte er mit seinem Löffel, kickte ihn auf dem Tisch hin und her, bis er runterfiel. Er bückte sich danach, stieß beim Hochkommen mit dem Kopf gegen die Unterseite des Tisches, sodass der Behälter mit dem Zucker einen Satz machte und anschließend auf dem Bodenfliesen zerbrach.
Martin war den Tränen nah. »Siehst du, das meinte ich!« Er griff nach den Scherben.
»Nicht!« Christian hielt seine Hände fest. »Bitte … Nicht, dass du dich wieder verletzt!« Er küsste Martins Daumen, dem das Harfespielen nicht besonders gutgetan hatte. Er tat weh und war rot.
»Weißt du, das ist genau der Grund, weshalb ich mich in dich verliebt habe. In deine unkonventionelle Lebensweise. In deine Spontanität. Deinen Humor. Du hast mich daran erinnert, was es wirklich heißt, zu leben. Das ist mir in den letzten Jahren irgendwie verloren gegangen.«
Martin schluckte. Wusste gar nicht, was er sagen sollte.
Christian strich ihm mit dem Daumen über die Unterlippe. »Was hältst du davon, wenn wir erst mal zusammen duschen gehen und dann …« Er grinste.
Martin nickte.
Die nächsten Minuten erlebte er wie in Trance.
Christian übernahm die Führung. Zog sie beide aus, Stück für Stück. Betrachtete und küsste jeden Zentimeter von Martins Körper.
Martin stöhnte. Genoss das Gefühl, begehrt zu werden. Geliebt. Um seinetwillen.
Christian seifte ihn ein. Seine Hände glitten zärtlich über Martins Körper. Erkundeten und verwöhnte ihn.
Ihr Stöhnen erfüllte bald darauf das kleine Badezimmer …
~*~*~*~
Am Abend saßen sie in Christians Wohnzimmer. Martin hatte die Ka’athyra hervorgeholt und spielte darauf nur für ihn.
Ihr Lied.
Er war nie jemand gewesen, der an das Schicksal glaubte. Vor allem nicht, wenn es bedeutete, dass aus etwas Schlechtem etwas Gutes entstand. Die krankheitsbedingte Arbeitslosigkeit seines Vaters, die wiederum seine Mutter quasi zwang, die Familie mit ihrer Arbeit als Putzkraft zu ernähren, was letztendlich ihn in dieses Haus und in seine im Sommer sehr stickige Mansardenwohnung geführt und ihn an Martins Wohnungstür hatte klingen lassen, hatte ihn eines Besseren belehrt. Natürlich wusste keiner von ihnen, was die Zukunft alles für sie bereithielt, aber das war egal.
Was zählte, war die Gegenwart. Der Augenblick. Martin und Christian. Heute, morgen, übermorgen, nächste Woche, nächsten Monat, nächstes Jahr – oder gar für immer.