Die Stille, das Meer und die Sterne
TOMKE BEKKER
Gegenwart
»O mein Gott, ist das staubig.« Laura hustete demonstrativ und wedelte mit der Hand in der Luft. »Ich glaube, hier war seit hundert Jahren niemand mehr.«
»Na ja, nicht ganz.« Vorsichtig kletterte ich hinter ihr die schmale, wackelige Stiege hinauf. Es war stickig auf dem Dachboden, zwischen den Balken hingen dichte Spinnweben und nur eine winzige Funzel erhellte den Raum. Ringsum erblickte ich zahlreiche, ausrangierte Möbel, Kartons und Kisten, alles von einer fingerdicken Staubschicht bedeckt.
»Das wird ein Spaß«, brummte Laura und klopfte sich die Jeans und das T-Shirt ab. »Wir sollten echt eine Entrümpelungsfirma anrufen, damit die den ganzen Kram mitnimmt.«
»Nein«, protestierte ich. »Wir können Onkel Erichs Sachen nicht einfach wegschmeißen.«
»Komm schon, Finn. Denkst du wirklich, er hat im Pflegeheim noch Bedarf an …«, sie zog ein verstaubtes Tuch beiseite und hustete, »… einem uralten Schuhputzautomaten?«
»Mag sein, dass ein paar Sachen wegkönnen«, lenkte ich ein. »Aber ich will mich hier erst umsehen. Wer weiß, vielleicht finden wir ja ungeahnte Schätze?«
Laura gluckste. »Du guckst zu viel Bares für Rares
, Bruderherz. Onkel Erich war Kellner in Omas Gasthaus, welche Wertsachen soll er denn besessen haben?«
»Keine Ahnung. Glaub mir, das wird spannend.«
Laura seufzte und aktivierte die Taschenlampe an ihrem Smartphone. »Na schön, dann mal los.«
Neugierig machte ich mich über die zahlreichen Kisten und Kartons her, die sich unter der Dachschräge stapelten. Eigentlich war Erich nicht unser Onkel, sondern unser Großonkel, der ältere Bruder unserer Oma Inge. In den Achtzigern hatte er dieses Haus gekauft und fast vierzig Jahre darin gelebt, bis er vor Kurzem einen zweiten Schlaganfall erlitten hatte. Eine häusliche Pflege war nicht mehr in Frage gekommen und schweren Herzens hatte Oma entschieden, für ihn einen Platz im Pflegeheim zu suchen. Das Haus stand seitdem leer und Erich hoffte, dass Laura und ich Interesse daran haben würden, hier einzuziehen, statt es zu verkaufen. Es war ein schönes, altes Gebäude mit holzvertäfelten Wänden, einem offenen Kamin und einem weitläufigen Garten, in dieser Wohngegend mit den heutigen Immobilienpreisen nahezu unerschwinglich. Allerdings war es auch renovierungsbedürftig. Das Dach musste ausgebessert werden, die hölzernen Fensterrahmen waren morsch und die alte Ölheizung war eine echte Umweltsünde.
Trotzdem war ich gespannt, was wir hier finden würden. Ich wusste nur wenig über Onkel Erichs Vergangenheit. Er war viel gereist, hatte Oma erzählt, vielleicht gab es ja doch noch ein paar außergewöhnliche Fundstücke hier.
Ich schob Kartons und Kisten mit Weihnachtsschmuck, alten Zeitungen und Elektroschrott beiseite, hustete in die entstandene Staubwolke und blickte dann überrascht auf den braunen Koffer, den ich freigelegt hatte. Es war ein schmuckloses Exemplar in Krokodillederoptik mit verrosteten, goldenen Schließen, etwa so groß wie ein handelsüblicher Aktenkoffer. Ich ging in die Hocke und öffnete mit etwas Mühe die verrosteten Verschlüsse.
Ein überraschter Laut entglitt mir, als ich den Deckel aufschlug. Das war kein Aktenkoffer, sondern ein Klarinettenkoffer, ausgekleidet mit schwerem dunkelblauem Samt. Das Instrument war in seine Einzelteile zerlegt und schien hervorragend erhalten. Die versilberte Mechanik war über die Jahre deutlich angelaufen, aber durch die sichere Lagerung war offenbar keine Feuchtigkeit in den Koffer gelangt.
»Hast du was gefunden?« Laura schielte über meine Schulter. »Wow, die sieht alt aus. Hatte schon wieder ganz vergessen, dass Onkel Erich Klarinette gespielt hat. Denkst du, die ist wertvoll?«
Ich gab Laura keine Antwort. Da war noch etwas. Im Deckel des Koffers befand sich eine eingenähte Tasche und darin … Ich zog es vorsichtig heraus. Ein schäbiges Notizbuch mit Onkel Erichs Namen und dem Aufkleber einer Reederei auf dem Deckblatt.
»RMS Saphire
«, las ich vor. »War Onkel Erich mal bei einer Schiffsgesellschaft?«
»Keine Ahnung. Was steht denn in dem Buch?«
Ich rappelte mich auf, setzte mich auf einen stabilen Karton und schlug das Büchlein behutsam auf. Das Innere wirkte vergilbt und scheinbar hatte jemand Kaffee oder eine andere Flüssigkeit darauf verschüttet, zumindest klebten einzelne Seiten zusammen.
»Das ist ein Tagebuch«, stellte ich fest. »Siehst du? Datumsangaben.«
»Wie spannend.« Trotz des staubigen Bodens hockte sich Laura neben mir in den Schneidersitz und leuchtete mit dem Handy in meine Richtung. »Na komm schon, lies vor.«
»Ich weiß nicht.« Unschlüssig starrte ich auf die Seiten. »Das gehört Onkel Erich und es ist privat. Vielleicht möchte er nicht, dass wir –«
»Ach was.« Laura winkte ab. »Er hat immer gesagt, dass wir uns um sein Haus und seine Sachen kümmern sollen, wenn er es nicht mehr kann. Also hat er bestimmt nichts dagegen.«
Ich schluckte, hin und her gerissen zwischen Neugier und dem unangenehmen Gefühl, hier ungerechtfertigt in der Privatsphäre meines Großonkels zu wühlen. Am Ende jedoch siegte die Neugier und ich begann zu lesen.
»8. Juni 1957, Liverpool …«
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8. Juni 1957, Liverpool
Gestern früh ist die RMS Saphire
zu ihrer Jungfernfahrt aufgebrochen. Es war ein bewegender Anblick, all die Menschen am Kai jubeln zu sehen. Ich kann mich gut erinnern, wie ich als junger Bursche in Hamburg am Hafen stand und den auslaufenden Ozeanriesen zugewunken habe, während sie mit qualmenden Schloten am Horizont verschwanden. Selbst an der Reling zu stehen und zuzusehen, wie die Fabriken von Liverpool, die Kaimauern und die Menschen in der aufwirbelnden Gischt verblassten, ließ mein Herz vor Begeisterung höherschlagen.
In knapp einer Woche werden wir New York erreichen und ich kann es kaum erwarten, die Freiheitsstatue und die Wolkenkratzer zu sehen. Danach geht es nach kurzem Aufenthalt direkt weiter nach Montreal.
Ich bin wahrlich ein unfassbarer Glückspilz. Die Reise nach England hat mich meine letzten Ersparnisse gekostet, ich besitze kaum mehr als einen Satz Kleidung, einen Hut und meine treue Klarinette, und doch hat sich dieses Wagnis ausgezahlt.
Zum ersten Mal in meinem Leben verdiene ich hier an Bord meinen Lebensunterhalt mit dem, was mich wirklich von Herzen erfüllt: mit Musik. Die Kapelle spielt jeden zweiten Abend und einmal die Woche geben wir ein Bigband-Konzert
im hiesigen Kinotheater. Ja, in der Tat, es gibt ein Kino an Bord, und auch sonst jede Form von Annehmlichkeit: einen Friseursalon, eine Bücherei, zahlreiche Ladengeschäfte, Bars, Restaurants, was immer das Herz begehrt. Zwar reicht meine Gage nicht aus, um dieses Angebot zu erproben, doch ich erhalte Kost und Logis und teile mir eine Kabine mit einigen Musikerkollegen. Es könnte wahrlich schlimmer sein.
Außerdem, wenn ich ehrlich bin, mich erfüllt der Ausblick an Deck weit mehr als jeder Kinobesuch. Sobald es Nacht wird, scheint die Welt zu schrumpfen. Man vergisst, wo man ist. Es gibt nur noch das Meer und die Sterne. Wie gerne würde ich meine Klarinette zur Hand nehmen und dort spielen, nicht für ein Publikum, nur für mich und für die Schönheit des Augenblicks. Irgendwann vielleicht.
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9. Juni 1957, Atlantik
Es ist der dritte Tag an Bord der Saphire
. Heute Abend gaben wir in der Bar der Ersten Klasse ein opulentes Jazz-Programm zum Besten und ich kann noch immer nicht glauben, dass dies nun mein Alltag ist. Während ich hier sitze und diese Zeilen schreibe, zittern mir die Finger vor Rührung. Ich danke Gott und der Welt für dieses Privileg.
Unsere Sängerin ist gut, wenn auch etwas konservativ für meinen Geschmack. Ihr fehlen die Rauheit und die Schärfe einer Ella Fitzgerald oder einer Billie Holiday, die ihrem Publikum mit wenigen Tönen schon das Herz aus dem Leib reißen. Den Gästen scheint es dennoch zu gefallen. Ich schätze, sie sind alle betuchte Geschäftsleute, zumindest sah ich niemanden, der nicht in die feinste Mode gekleidet war. Sie trinken Champagner, Bourbon und Gin und es kommt einem vor, als habe es die elenden Jahre nach dem Krieg nie gegeben.
In einer Pause begab ich mich an Deck, um das Meer und die Sterne zu sehen. Ich gehe jede Nacht hinaus, genieße den Anblick und fühle, wie er tief in meine Seele dringt. Er erweckt Melodien und Klangfolgen in mir, Abend für Abend werden es mehr. Vielleicht schreibe ich sie doch noch nieder.
Heute jedoch bekam ich Gesellschaft. Ein Stewart trat zu mir an die Reling mit der Bitte um eine Zigarette. Er ist in meinem Alter, schätze ich, Mitte zwanzig, höchstens dreißig. Eindeutig Engländer. Ich habe ihn schon öfter im Rauchsalon und an der Bar gesehen, wo er oft bis zur Sperrstunde Getränke und Zigarren serviert. Die Tätigkeit als Stewart ist ein Knochenjob. Arbeit gibt es reichlich und zugleich darf ihr Lächeln nie verrutschen und ihre Worte dürfen nie auch nur einen Hauch von Schärfe tragen. Kein Vergleich zu den Kneipen und Lokalen auf der Reeperbahn, in denen ich mir als junger Kerl ein paar Mark verdient habe. Da habe ich den Stammkunden gerne mal einen dummen Spruch vor den Latz geknallt und alle haben es mit Gelächter quittiert. Das Publikum hier würde eine solche Entgleisung nie verzeihen.
Ich erwartete, wir würden schweigend nebeneinander unsere Zigaretten rauchen und die salzige Luft genießen. Stattdessen sprach er mich unvermittelt an. Zum ersten Mal war ich froh um die britischen Besatzer, die so oft im Lokal meiner Eltern ein- und ausgegangen waren und deren Sprache ich dadurch gelernt hatte. Es sei ihm unangenehm, sagte der Stewart, doch er müsse es endlich loswerden. Überrascht ließ ich ihn gewähren und er begann, von meinem Klarinettenspiel zu schwärmen. Wie glücklich ich aussähe, wenn ich spielte. So selbstvergessen. Als sei die Welt ringsherum stehen geblieben, als gäbe es nur die Musik. Ich lauschte ihm gebannt, konnte kaum glauben, dass mein Spiel so intensive Gefühle in einem anderen Menschen auslöste. Ich war nur Teil eines Ensembles und Soli waren rar gesät.
Wie sich herausstellte, hatte Samuel – so ist sein Name – als Junge selbst Klarinette gelernt, es aber auf Drängen seines Vaters aufgegeben. Die Liebe zum Jazz, vor allem zum Swing, ist ihm dennoch geblieben und erfüllt ihn bis heute. Im Qualm einer weiteren Zigarette fanden wir uns unversehens in einer hitzigen Diskussion darüber wieder, ob nun Benny Goodman oder Artie Shaw der bessere Jazz-Klarinettist sei. Ich argumentierte natürlich
für Shaw. Nur weil man Goodman den King of Swing
nennt, heißt es nicht, dass er der bessere Musiker ist. Shaws Spiel ist lyrisch, variantenreich und innovativ, seine Arrangements gleichen einem symphonischen Meisterwerk und sind von unnachahmlicher Raffinesse. Goodman dagegen ist ein Blender, dem Samuel ganz offensichtlich verfallen ist. Man musste uns beide mit Nachdruck an das Ende unserer Pause erinnern, sonst hätten wir uns vollständig in diesem Diskurs verloren.
Den Rest dieses Abends spielte ich inbrünstiger als je zuvor, im Wissen, dass Samuel zuhörte. Dass es jemanden in diesem Publikum gab, für den meine Musik mehr war als wohliges Plätschern im Hintergrund. Allein die Erinnerung an unser Gespräch und an Samuels glänzende Augen ließ mein Herz höherschlagen.
Jetzt sitze ich hier in meiner Kabine und schreibe bei gedämpftem Licht, um meine Kollegen nicht zu wecken. Nur damit ich diese Zeilen auf Papier bringen und mich selbst überzeugen kann, dass all dies kein schöner Traum ist, aus dem ich bald erwache. Ich kann nicht aufhören, an Samuel zu denken. Er weckt etwas in mir, das … Nein. Ich will es nicht aussprechen. Ich will dieses Gefühl genießen. Wenigstens noch eine Weile.
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Gegenwart
Ich las die letzten Zeilen und sah Laura mit überrascht hochgezogenen Augenbrauen an. »Wow. Denkst du, was ich denke?«
»Du glaubst, Onkel Erich und dieser Stewart …?«
»Vielleicht.« Ich betrachtete die eng beschriebenen Seiten mit Onkel Erichs ordentlicher, weicher Handschrift. »Siehst du hier? Die letzten Sätze sind nicht so sauber wie die davor, als hätten seine Finger gezittert, während er schrieb. Vielleicht waren es die Wellen, aber …«
»Hm«, brummte Laura. »Er war nie verheiratet, oder? Andererseits … hätte er uns das nicht irgendwann einmal erzählt? Wir leben ja nicht mehr in den Fünfzigern, er hätte nichts befürchten müssen.«
»Keine Ahnung.« Ich zuckte die Schultern. »Nach dem ersten Schlaganfall hat er kognitiv ziemlich abgebaut und immerhin waren Beziehungen zwischen Männern damals strafbar. Da redet man nicht einfach so drüber, auch fünfzig Jahre später nicht.«
»Ja, mag sein. Egal. Lies weiter, dann erfahren wir es vielleicht.«
Unschlüssig starrte ich das Tagebuch an. »Bist du sicher? Das ist schon ziemlich … privat, oder?«
Laura legte die Stirn in Falten. »Du willst jetzt nicht wirklich aufhören?«
Ich seufzte und hob einen Mundwinkel. »Nein, ich bin auch neugierig.«
»Dann mach schon. Lies weiter.«
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11. Juni 1957, Atlantik
Der Morgen bricht an und ich habe kaum geschlafen. Mein Herz ist so voller Freude und Sehnsucht, dass ich nicht fähig war, die Augen zu schließen. Gestern haben wir uns wiedergesehen. Samuel – Sam, er will, dass ich ihn Sam nenne – hatte einen freien Abend und nach dem Ende meines Auftritts im Salon blieb auch mir ein wenig Freizeit. Wir setzten uns an die Bar, tranken Whiskey und träumten von Konzertkarten für die Carnegie Hall
, sobald wir New York erreichen. Dabei wissen wir beide, wie schwer solche Tickets zu bekommen sind, vor allem für arme Schlucker wie uns. Wir erzählten von unserer ersten Jazz-Platte, wie wir unseren Klarinetten am Anfang mühsam einzelne Töne entlockt hatten und von dem geringen Verständnis unserer Eltern für diese brennende Leidenschaft, die Musik in uns entfacht.
Die Lichter in der Bar wurden bereits gedimmt, die Sperrstunde nahte, und in Sams Blick lag eine tiefe Zärtlichkeit, als er mich ansah. Ein Verstehen, wie ich es lange gesucht, aber nie gefunden hatte. Fast schien es mir – und ich weiß, das klingt pathetisch – als blickte er in meine Seele, um dort etwas zu erkennen, das niemand zuvor gesehen hatte. Vielleicht noch nicht einmal ich selbst. Er bat mich, ihn an Deck zu begleiten, und wie hätte ich ihm diese Bitte abschlagen können? Schweigend rauchten wir nebeneinander unsere Zigaretten, als bedürfe es keiner Worte, als sei die Stille alles, was wir brauchten. Die Stille, das Meer und die Sterne.
Die ganze Nacht habe ich mich mit der Frage gequält, ob ich es hätte tun sollen, ob dieser Moment da draußen an der Reling umgeben von Salz und Gischt der richtige gewesen wäre. Oh, ich Narr. Der richtige wofür
? Wie hätte ich das aussprechen können, ohne uns beide der Lächerlichkeit preiszugeben oder uns gar in Gefahr zu bringen? Selbst wenn er – und das wage ich
kaum zu hoffen –, ähnlich empfände, könnten wir im Gefängnis landen, sobald jemand davon erführe.
In letzter Konsequenz ist es doch nur ein schöner Traum, der in New York enden wird. Sam wird dort mit einem Teil der Crew von Bord gehen, die Reederei braucht ihn auf einem anderen Schiff, während ich weiter nach Montreal fahre. Es sind nur wenige Tage und ich werde sie genießen, als wären es meine letzten.
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12. Juni 1957, Atlantik
Die Zeit läuft ab, morgen erreichen wir New York. Gott, wie hatte ich mich darauf gefreut, in den Hafen einzulaufen und amerikanischen Boden zu betreten, jetzt fühlt sich dieser Gedanke schal und spröde an. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass ich etwas – jemanden – finden könnte, der mir mehr bedeutet als meine Musik. Wie können so wenige Tage, so wenige Stunden etwas so Starkes und Mächtiges entfesseln?
Neben mir liegt das Foto, das wir gestern Abend an Deck geschossen haben. Unser Posaunist besitzt eine Polaroid-Kamera und er war bereit, sie mir zu leihen. Ich weiß, man kann Augenblicke nicht einfangen, genauso wenig wie die Euphorie und die pure Schönheit von Musik. Aber genau wie eine Schellack-Platte kann auch eine Fotografie der entscheidende Funke sein, um ein Feuer im Herzen zu entfachen.
Apropos Funken – das Lied ist fertig. Es ist nur eine kleine Partitur, ein Großteil ist schief und improvisiert, aber ich will sie Sam überlassen. Nur ein mickriges Andenken, so viel weniger wert als alles, was ich ihm wahrhaftig schenken wollte.
Wir treffen uns nach dem Dinner an Deck und wenn mich die Angst und die Nervosität bis dahin nicht bezwingen, dann werde ich es ihm sagen. Ihm sagen, was ich fühle, wie viel mir
unsere gemeinsame Zeit bedeutet hat und welchen Schmerz der Abschied birgt.
Wenn dann alles endet, habe ich immer noch das Foto. Nur Sam, ich, das Meer und die Sterne.
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Gegenwart
Mit großen Augen starrte Laura mich an. »Was ist? Lies weiter.«
»Geht nicht.« Ich hielt ihr das Tagebuch entgegen und sie stieß einen enttäuschten Laut aus. Schon die letzten Seiten waren von Nässe zerfressen gewesen und die Schrift bisweilen schwer zu entziffern, aber ab hier war der Rest des Büchleins völlig unlesbar. Auch wenn auf einzelnen Seiten noch Teilsätze oder Wörter zu erkennen waren, genügten sie nicht, um einen Gesamtzusammenhang preiszugeben.
»Das ist doch Scheiße!«, fluchte Laura. »Ich will wissen, wie das ausgeht, verdammt!«
»Ich auch.« Ich legte das Büchlein mit einem Seufzer beiseite und betrachtete die Klarinette im Koffer. Onkel Erich hatte sie wieder nach Europa mitgebracht, genau wie das Tagebuch. Sie war mit ihm um die ganze Welt gereist. Ein Jammer, dass sie nur ein Instrument war – sie hätte uns die Geschichte sicher zu Ende erzählen können.
Unschlüssig strich ich mit dem Finger über den Samt. »Sei ehrlich, Laura, wie soll es schon ausgegangen sein? Onkel Erich hat hier gelebt, in Deutschland, allein. Und scheinbar hat er bis heute niemandem von diesem Mann erzählt, in den er mal verliebt war.«
Laura kaute auf der Innenseite ihrer Wange, sichtlich unzufrieden mit meiner Auflösung. »Wir fragen Oma«, beschloss sie. »Vielleicht weiß die ja was.«
»Meinst du? Das ist sechzig Jahre her. Da waren noch nicht mal unsere Eltern geboren.«
»Und? Ganz ehrlich, diese Geschichte, das ist … wow. Ich muss wissen, wie das ausgegangen ist. Unbedingt.«
»Schon, aber … was wenn wir Onkel Erich damit in Verlegenheit bringen? Vielleicht hat er Oma nie davon erzählt und will gar nicht, dass sie es weiß.«
Laura nickte bedächtig. »Ja, du hast recht. Wir müssen ihr ja nicht sagen, was in dem Tagebuch stand, oder? Wir fragen sie einfach nach Sam und der Saphire
.«
»Na schön.« Ich lächelte dünn. »Aber nur, weil ich echt neugierig bin«
~*~*~*~
In Omas Wohnung duftete es nach Apfelkuchen. Obwohl sie das Gasthaus schon vor Jahren an unseren Onkel Franz und seine Frau abgegeben hatte, wohnte Oma bis heute in der Einliegerwohnung darüber und wenn es viel Betrieb gab, half sie tatkräftig aus. Trotz ihrer zweiundachtzig Jahre und einer fortschreitenden Arthritis.
Sie servierte uns den Apfelkuchen mit einem großen Klecks Schlagsahne und einer Tasse Kaffee, während sie selbst nur Kräutertee trank.
»Wir brauchen deine Hilfe, Oma«, erklärte ich ihr schließlich. »Wir waren bei Onkel Erich auf dem Dachboden und haben da was gefunden.«
»So?« Sie nippte an ihrem Tee. »Was denn?«
Ich griff in meine Tasche und zog das Büchlein heraus, das ich sicherheitshalber in Folie eingeschlagen hatte. »Das war in einem alten Klarinettenkasten. Es ist ein Tagebuch von Onkel Erich aus dem Jahr 1957. Er war damals Klarinettist auf einem Transatlantik-Liner.«
Omas Miene hellte sich auf und sie betrachtete das Buch mit einem feinen Lächeln. »Ach, sieh an. Von dem Tagebuch hat er nie erzählt. Wie nett, dass ihr es gefunden habt.«
Ich wechselte einen unschlüssigen Blick mit Laura, die den Vorstoß wagte: »Weißt du, Oma, Onkel Erich erwähnt in diesem Tagebuch einen Mann, den er auf dem Schiff kennengelernt hat. Einen englischen Stewart namens Samuel. Hat er dir … mal von ihm erzählt?«
»Samuel.« Omas Miene blieb undurchdringlich, doch dann nickte sie hastig. »Wartet kurz.« Sie stand auf und humpelte zu einem der schweren Wohnzimmerschränke aus dunklem Holz. Nacheinander zog sie einzelne Schubladen auf, kramte darin und holte schließlich einen kleinen Packen Papier hervor, zusammengeschnürt mit einer roten Kordel. Sie reichte ihn mir und mein Herz begann vor Aufregung schneller zu klopfen. Laura trat neben mich und blickte mir atemlos über die Schulter, während ich das Päckchen aufschnürte. Es waren Dutzende Postkarten mit Motiven aus aller Welt, adressiert an Onkel Erich. Sie kamen aus Boston, Québec, Kapstadt, Caracas und Rio de Janeiro. Die Poststempel datierten auf die späten Fünfziger- und frühen Sechzigerjahre.
Der Text auf den Karten war auf Englisch verfasst. Je ein paar nette, unverfängliche Worte über die Stadt, das Wetter, die Musik. Und sie alle waren auf dieselbe Weise signiert: »Forever, S.«
Laura stieß einen Freudenschrei aus. »S wie Sam! Er hat ihm geschrieben, sie haben sich nicht in New York aus den Augen verloren!« Mit fiebriger Miene sah sie Oma an. »Hast du das gewusst? Ich meine, dass Onkel Erich …?«
Oma zuckte mit den Schultern. »Erich war nie sehr gesprächig. Als er Deutschland in den Fünfzigern verließ, gab es einen dicken Streit mit unseren Eltern, die gar nicht glücklich waren, dass er lieber als Musiker über die Weltmeere segeln
wollte, als unser Gasthaus zu übernehmen. Das hat ihn geprägt, schätze ich. Er hat nie viel von der Zeit erzählt, in der er fort war. Tja, und ich habe nie gefragt.«
»Wieso hast du dann die Postkarten?«
»Ich habe sein Schlafzimmer ausgeräumt«, erklärte sie. »Bevor er ins Heim musste. Das hier war in seinem Nachttisch und ich wollte es für ihn aufheben.«
Ich nickte und blätterte gedankenverloren weiter durch den Stapel. Zwischen den Postkarten steckte ein vergilbter Briefumschlag, den ich hastig öffnete. Heraus fielen einige Fotos, allesamt in verblichenem Schwarzweiß. Eines stach mir ins Auge.
»Laura, schau mal!« Ich hielt ihr das Foto hin. Ein altes Polaroid, schlecht belichtet, aber das Motiv war noch vage zu erkennen. Zwei Männer, der größere trug eine weiße Uniform mit schwarzer Fliege, der kleinere einen Anzug und in der Hand hielt er eine Klarinette. Hinter ihnen konnte man die Umrisse eines Schiffsdecks erahnen.
»O mein Gott.« Laura nahm das Foto so behutsam zwischen die Finger, als könnte sie es zerdrücken. »Das ist das Polaroid, von dem Erich geschrieben hat. Das sie an Bord gemacht haben, auf der Saphire
.«
Ich nickte atemlos. Es fühlte sich surreal an, als hätten wir gerade ein uraltes Puzzle gelöst. Wenn Onkel Erich all das noch hatte, das Foto, die Postkarten, dann hieß das …
»Ach.« Oma unterbrach meine Gedanken und blinzelte überrascht. »Das
ist dieser Sam, ja? Er war Onkel Erichs Geschäftspartner.«
Laura und ich wechselten einen Blick. »Geschäftspartner?«
»Ja, ja. Warte, da muss noch … Ah, hier!« Sie zog eines der übrigen Fotos hervor. Kein Polaroid diesmal, ein gewöhnliches Schwarz-Weiß-Bild. Ich erkannte die beiden Männer sofort wieder, auch wenn sie darauf ganz anders gekleidet waren. Der
Kleinere links im Bild war Onkel Erich und der Rechte … ja. Es war Sam. Die beiden standen grinsend nebeneinander in der Tür eines ländlich wirkenden englischen Pubs. Auf der Rückseite des Fotos befand sich ein Schriftzug: Grand Opening, Old Friar’s Pub 1962
.
»Anfang der Sechziger ist Erich nach England gegangen«, erklärte Oma und nahm einen Schluck Tee. »Er hat dort mit einem Freund diesen Pub eröffnet, in der Nähe von Southampton.«
Laura und ich wechselten einen vielsagenden Blick. Mit einem Freund.
»Aber Onkel Erich kam später hierher zurück«, warf Laura ein. »Weißt du, was aus … diesem Freund wurde?«
Oma rührte in ihrem Tee. »Er ist gestorben, soviel ich weiß. Mitte der Achtzigerjahre. Erich hat den Pub verkauft und kam wieder nach Hamburg.«
Unverhofft spürte ich einen Kloß in meiner Kehle, während ich das Foto betrachtete. Sie sahen glücklich aus, zufrieden mit sich und der Welt. Sie hatten einen Platz gefunden, an dem sie leben konnten, mit ihrem eigenen Pub und miteinander. Ich stellte mir vor, wie Onkel Erich abends seine Klarinette ausgepackt und darauf gespielt hatte. Wie selbst die harten Trinker plötzlich ruhig und melancholisch wurden und Sam ihm von der Bar aus versonnen zuhörte. Sich vielleicht daran erinnerte, wie sie einander auf der Saphire
kennengelernt hatten, wie er zum ersten Mal Erichs Spiel gelauscht und sich in ihn und seine Musik verliebt hatte. Fünfundzwanzig lange Jahre hatten sie zusammen verbracht. Und ohne Sam hatte es für Erich keinen Sinn mehr gehabt, an diesem Ort zu bleiben, den sie sich gemeinsam aufgebaut hatten.
Laura legte ihre Hand auf meine, wir sahen einander an und wir wussten, was zu tun war.
~*~*~*~
»Herr Winkler? Sie haben Besuch.«
Laura und ich schoben uns an der Pflegerin vorbei in Onkel Erichs Zimmer. Es war klein, aber für ein Pflegeheim recht gemütlich eingerichtet: mit Blumen in einer Vase und Bildern an den Wänden. In einer Ecke stand ein alter Plattenspieler.
Onkel Erich saß in einem Rollstuhl am Fenster und ich glaubte, eine Regung in seinem faltigen Gesicht zu erkennen, als er uns erblickte. Seit dem zweiten Schlaganfall war er halbseitig gelähmt und konnte kaum sprechen, aber seine Umgebung nahm er noch immer aufmerksam wahr. Das konnte man in seinen hellen Augen erahnen.
Unschlüssig setzten wir uns an den kleinen, runden Tisch im Zentrum des Zimmers. »Geht es dir gut, Onkel Erich?«, fragte ich, bekam aber keine Antwort. Ich hatte, um ehrlich zu sein, auch keine erwartet. Ich war mir nicht einmal sicher, ob er uns erkannte.
»Wir haben dir etwas mitgebracht«, sagte Laura und griff in ihre Handtasche. Wir hatten die beiden Bilder – das Polaroid von der Saphire
und das Foto von der Pub-Eröffnung – gemeinsam eingerahmt und Laura zeigte sie Onkel Erich. »Wir haben sie bei Oma gefunden und uns gedacht, du … möchtest sie vielleicht hier haben. Als Andenken.«
Onkel Erichs Blick huschte über die Bilder und ich erkannte, wie sich seine Augen weiteten. Schwerfällig beugte er sich im Rollstuhl nach vorne und strich mit den Fingern behutsam, zärtlich über das Glas. Laura und ich sahen einander an.
»Erinnerst du dich noch?«, fragte ich leise und deutete auf das Polaroid. »An das Schiff?«
Onkel Erich gab ein Geräusch von sich, von dem ich nicht sicher sagen konnte, ob es Zustimmung oder Ablehnung ausdrückte. Er strich immer noch mit den Fingerspitzen über
das Glas. Nicht zufällig, sondern gezielt. Sein Finger verharrte auf dem Polaroid, auf dem Mann in Weiß.
Ich sah Onkel Erich an und plötzlich standen Tränen in seinen Augen. Erschrocken sog ich die Luft ein. »Tut mir leid. Sollen wir … die Fotos wieder mitnehmen? Ist dir das lieber?«
Ich wollte den Rahmen an mich nehmen, doch Onkel Erich legte seine knochigen Finger nachdrücklich auf meine. Er hatte nicht viel Kraft, die Geste genügte.
Ich sah ihn eindringlich an. »Willst du sie behalten?«
Er deutete ein schwaches Nicken an. Seine Lippen formten ein einziges Wort und ich war mir sicher, dass ich es erkannt hatte.
Sam.