Die Melodie des Waldes
TANYA CARPENTER
Ich stellte den Motor ab und stieg aus dem Jeep. In mir war so viel Trauer. Zu wenig Zeit, um sie zu verarbeiten. Das alles erschien mir noch immer unwirklich. Zu grausam, um wahr zu sein. Und die Aufgabe, die hier auf mich wartete, war mir verhasst. Wir hätten jetzt zusammensitzen sollen, um einander zu trösten und Grandpa zu betrauern. Stattdessen hatte mein Vater gar nicht schnell genug wieder zum Tagesgeschäft übergehen können, kaum dass der Sarg unter der Erde war. Wie konnte man so gleichgültig sein?
Und ich? Musste den Menschen verraten, der mir am nächsten gestanden hatte. Das war das Schlimmste daran. Es zu wissen, es nicht zu wollen, und doch nicht anders handeln zu können. Ich sah Grandpas Gesicht vor mir. Bis zu jenem Moment vor einer Woche hatte ich nicht geahnt, dass man den Tod tatsächlich sehen konnte, noch ehe er da war.
»Versprich es mir, mein Junge.« Mit zittriger Stimme hatte er mich angefleht, während ersich an mir festklammerte. Die Hand viel zu kalt, viel zu schwach. Seine Haut erschreckend blass und grau. Die sonst wachen Augen tief in den Höhlen liegend und bereits verschleiert, als wäre ein Teil von ihm schon nicht mehr in dieser Welt. »Du kümmerst dich um meinen Wald, ja? Du sorgst dafür, dass er bleibt.«
»Das wirst du selbst bald wieder tun«, hatte ich geantwortet, obwohl ich es besser wusste. Und er auch, wie sein trauriges Lächeln bestätigte.
»Meine Zeit läuft ab, Nicolas. Aber das ist in Ordnung. Ich hatte ein langes, erfülltes Leben. Und dieser Wald, der hatte einen großen Anteil daran. Er war für mich immer ein magischer Ort. Dein Vater, Gott weiß, ich liebe und schätze ihn, denn er ist mein Sohn, aber er hat es leider nie verstanden. Im Gegensatz zu dir. Darum musst du dich jetzt darum kümmern. Er hat besondere Kräfte, dieser Wald. Du weißt es, nicht wahr? Du warst oft genug mit mir dort. Deshalb verlass ich mich auf dich. Du wirst das für mich tun, meine Junge. Hm?«
Der letzte Wunsch eines Sterbenden. Und jetzt stand ich hier – in diesem Wald – und hatte keine Ahnung, wie ich diese Bitte erfüllen sollte.
An jenem Nachmittag hatte ich das Thema geschickt in eine andere Richtung gelenkt, mit ihm über alte Zeiten gesprochen, gealbert und gescherzt. Als ich gegangen war, hatte ich einen Hauch von Hoffnung verspürt. Einen Tag später war alles anders gewesen. Ich kam gerade noch rechtzeitig, um Großvaters Hand zu halten, während er diese Welt verließ. »Dein Versprechen«, waren seine letzten Worte gewesen, und ich hatte ihm versichert, ich würde daran denken, er müsse sich keine Sorgen machen. Ich war so ein Verräter. Dabei konnte ich nicht behaupten, dass ich nur gesagt hatte, was er hören wollte, damit er sich nicht aufregte und friedlich gehen konnte. Ich hatte es in dieser Sekunde genau so gemeint, weil ich gespürt hatte, wie wichtig es ihm war. Und weil ich ähnlich empfand wie er.
Aber das war nur ein Traum. Und Träume zersplitterten nun mal an der harten Realität. Der Wald hätte schon vor Jahren abgeholzt werden müssen. Das war unser Geschäft. Mein Vater wusste das, hatte sich oft mit meinem Großvater darüber gestritten, dass ausgerechnet dieses kleine Stück nicht angetastet werden durfte. Bloß wegen irgendwelcher Erinnerungen, über die Grandpa nicht einmal sprach. Warum ausgerechnet dieser Wald? Dieses Geheimnis hatte er wohl mit ins Grab genommen.
Eine seltsame Ironie, dass dieser Ort – und was auch immer ihn und Grandpa verband – nun gemeinsam mit dem alten Mann sterben würde. So blieben sie wohl doch verbunden. Der Gedanke sollte mich trösten, tat es aber nicht. Zu schwer lastete das schlechte Gewissen auf mir, da machte es keinen Unterschied, dass mein Vater die Entscheidung getroffen hatte und ich sie lediglich ausführte. Wir hätten wenigstens warten sollen, bis der Erbschein ausgestellt und der Besitz von Grandpa auf Dad umgeschrieben war, auch wenn das alles nur noch Formsache war. Aber ich fand, das wären wir Großvater schuldig gewesen. Allein aus Respekt. Noch war das sein Eigentum, und er hätte nicht gewollt, dass hier bald bloß noch Baumstümpfe und kaputt gefahrener Waldboden übrigblieben.
Ich seufzte und schob die Gedanken beiseite. Sie brachten mich nicht weiter. Ich sollte das hier einfach rasch hinter mich bringen.
Es war still und doch nicht lautlos hier im Wald. Eine wohltuende Ruhe, ohne dass ich genau hätte benennen können, warum ich so empfand. Vielleicht war es einfach die Erinnerung an Grandpa, die innere Verbindung zwischen uns, die ich spürte, und die mir in diesem Moment Trost spendete. Früher waren wir oft hier gewesen. Er hatte mich gern mitgenommen und ich war stolz gewesen, wenn ich ihn begleiten durfte. Das hatte meinen Vater und mich immer schon unterschieden. Für Dad war Holz ein Wirtschaftsgut, für mich Balsam für die Seele und Inspiration für fantastische Geschichten. Ich mochte mich seinem Willen gebeugt und meinen Platz im Unternehmen eingenommen haben, aber die Träume und Ideen waren deshalb nicht verschwunden. Ich wäre viel lieber Schriftsteller geworden. In Dads Augen eine brotlose Kunst, und mir hatte der Mut gefehlt, es trotzdem zu wagen. Die Scham, wenn ich gescheitert wäre und vor ihm zu Kreuze hätte kriechen müssen, wäre unerträglich gewesen. Dann lieber gar nicht erst versuchen, auch wenn Grandpa meine Geschichten immer geliebt hatte.
Der Wald erinnerte mich an diese Zeiten. Ich hörte das Gezwitscher der Vögel und das sanfte Rauschen des Windes in den Baumwipfeln. Sogar das Rascheln von Blättern tiefer im Wald, auch wenn ich nicht sagen konnte, was für ein Tier dort wohl gerade unterwegs war. Aber all das hatte nichts gemein mit dem Lärm und der Hektik, die so sehr Teil meiner Welt waren, dass ich beides nie bewusst wahrnahm. Außer jetzt, als es weit fort war. Verrückt. Ich hätte Grandpa noch mal herbringen sollen, dachte ich wehmütig. Auch wenn die Leiterin des Seniorenheims strikt dagegen gewesen war, weil die Anstrengung in seinem Zustand zu groß gewesen wäre. Aber mit einem Rollstuhl hätte es doch gehen müssen. Und vielleicht hätte es ihm gut getan. Nicht, dass ich an eine Wunderheilung glaubte, aber … ein bisschen Trost, ein bisschen stille Freude, ein bisschen von der Magie, an die Grandpa immer geglaubt hatte. Er hätte das verdient gehabt, und mich ärgerte, es nicht vehementer versucht zu haben.
Ich atmete tief durch und mit dem Duft von Harz, grünem Laub, Waldboden und Moos strömte eine Art wehmütiger Frieden in mich ein. Ich gestattete mir noch einen kurzen Moment, dem Geist des Waldes, wie Grandpa es immer genannt hatte, nachzuspüren. Es fiel schwer loszulassen, vielleicht weniger den Wald als vielmehr ihn. Doch er war tot, und egal wie lange ich hier stehen und Kindheitserinnerungen nachhängen würde, diese Tatsache blieb.
Entschlossen ging ich zum Jeep zurück, holte Band und Kreide und die Messgeräte heraus und machte mich daran, die Bäume zu markieren. Außerdem steckte ich den Platz ab, auf dem die Stämme bis zum Abtransport gestapelt werden sollten. Die lange Routine dieser Tätigkeiten vereinnahmte mich rasch. Ich ließ meine Gedanken schweifen und erlaubte mir, im Unterholz Kobolde zu sehen oder in den Lichtreflexen auf dem bunten Herbstlaub der Bäume kleine Elfen. Ein bisschen war ich wieder Kind, ersann eine Geschichte und nahm mir vor, sie später aufzuschreiben und Grandpa zu erzählen, auch wenn er sie nicht mehr hören konnte. Aber es wäre tröstlich, an seinem Grab zu sitzen und wieder wie früher mit ihm zu reden.
Ich war so vertieft, dass ich nur vage merkte, wie ich ein Lied summte. Es war keine mir bekannte Melodie, dennoch fühlte sie sich vertraut an, beruhigte mich. Und just in dem Moment, in dem ich mir ihrer so richtig bewusst wurde, vernahm ich sie auch noch von einem anderen Ort im Wald. Offenbar hatte ich sie schlicht übernommen, während sie an meine Ohren gedrungen war. Nur, woher rührte sie? Ich runzelte die Stirn, lauschte und drehte mich einmal um mich selbst, in dem Versuch, den Ursprung der Töne zu ergründen. Es waren weiche, sanfte Klänge. Ein wenig traurig vielleicht. Als ich mir der Richtung, aus der sie kamen, relativ sicher war, folgte ich ihnen. Offenbar war ich wohl doch nicht so allein, wie ich gedacht hatte, und wer auch immer sich hier herumtrieb, musste erfahren, dass er nicht wiederkommen sollte. Das würde in ein paar Tagen einfach zu gefährlich werden.
Je tiefer ich in den Wald ging, umso vertrauter wurde mir alles. Nach und nach erinnerte ich mich an die mächtigen alten Eichen, die kleine Felsgruppe, von der Grandpa behauptet hatte, sie sei ein Hünengrab und schließlich kam die Lichtung in Sicht, an deren Rand der kleine Bach entlang plätscherte. Hier schien der Ursprung der Melodie zu sein, denn die Töne erklangen nun klar und kräftig, gar nicht mehr traurig, sondern nur besänftigend. Auf jeden Fall spielte hier jemand eine Art Flöte, was auch immer er damit bezwecken mochte.
Ich trat auf die Lichtung und blieb verdutzt stehen, als ich die Antwort auf diese Frage erhielt. Tatsächlich saß auf einem großen Stein am Bachufer ein junger Mann, etwa in meinem Alter, vielleicht ein wenig älter, und spielte eine Panflöte. Er hatte die Augen geschlossen, wirkte völlig entrückt und in sein Spiel versunken. Langes schwarzes Haar lockte sich um seine Schultern und die Hände, die das filigrane Instrument hielten, wirkten kräftig wie auch der ganze Rest von ihm. Oh, ja, so stellte ich mir in meiner Fantasie einen Prinzen des Waldes vor, von dem ich mich allzu gern erobern lassen würde. Sein Anblick allein hätte mir womöglich bereits den Atem verschlagen, doch mindestens ebenso beeindruckend war der Hirsch mit dem mächtigen Geweih auf der anderen Seite des Baches, der dem Lied zu lauschen schien. Auf den zweiten Blick entdeckte ich auch noch ein Hasenpaar zu den Füßen des Mannes, sowie mehrere Eichhörnchen und allerhand Vögel auf den Ästen über ihm. Es hätte mich nicht gewundert, wenn sogar ein paar Fische im Bach vor ihm verharrten. Die Szenerie war so unwirklich wie faszinierend, dass ich wie erstarrt dastand und dieses Bild in mich aufsaugte, das gut und gerne einer meiner Fantasiegeschichten hätte entsprungen sein können. Es wäre mir respektlos erschienen, meine Stimme zu erheben und so den Zauber dieses Augenblicks zu zerstören. Auch so kam ich mir wie ein Eindringling vor, aber ich schaffte es nicht, mich zurückzuziehen. Es war, als sei ich von den Klängen ebenso gefesselt wie die Tiere.
Schließlich endete das Lied, der Mann öffnete seine Augen und blickte lächelnd zu dem Hirsch, der noch immer kein Anzeichen von Furcht oder gar Flucht zeigten. Der Fremde neigte seinen Kopf wie zum Gruß, woraufhin das Tier es ihm gleichtat. Die Hasen ließen sich von ihm streicheln, als seien sie zahm. Ein leises Raunen drang an meine Ohren, als der Mann die Lippen bewegte, doch Worte konnte ich keine verstehen. Eines der Eichhörnchen kam vorwitzig den Baumstamm heruntergeklettert und sprang dem Flötenspieler auf die Schulter, was den leise lachen ließ. Ein Laut, der mir durch und durch ging. Tief und warm und dunkel wie der Wald selbst.
Ich räusperte mich, weil meine Kehle plötzlich trocken war. Sofort schraken die Tiere zusammen und rannten oder flogen davon. Vor Scham wäre ich am liebsten im Boden versunken, doch als der Mann sich mir zuwandte, lag kein Vorwurf in seiner Miene, sondern verzeihende Freundlichkeit.
»Sie sind bei Fremden oft recht scheu«, sagte er leichthin, wobei seine Worte mir noch mehr unter die Haut krochen als das Lachen zuvor.
»Tut mir leid«, entgegnete ich betreten. »Ich wollte nicht stören. Ich war nur … Ich hab dein Flötenspiel gehört und … mich gewundert.«
Meine Verlegenheit war idiotisch. Das war unser Wald. Mir musste nichts leidtun.
Der Fremde steckte seine Flöte in eine Jeansjacke, die neben ihm lag, und erhob sich. Ich konnte nicht anders, als meinen Blick prüfend über seinen Körper wandern zu lassen. Er war verdammt attraktiv. Sowohl T-Shirt wie Hose betonten definierte Muskeln, ohne dass es protzig wirkte.
»Wie gesagt, Fremde machen sie nervös. Aber keine Sorge, sie kommen wieder. Sie lieben mein Flötenspiel.«
Da waren sie nicht die Einzigen. Mich hatte es ebenfalls magisch angezogen, aber das konnte ich wohl schlecht sagen.
»Du spielst auch ziemlich gut. Trotzdem hab ich noch nie gesehen, dass wilde Tiere so vertrauensvoll zu einem Menschen kommen.«
Gott, was redete ich denn da? Ich sollte diesem Typ klarmachen, dass er den Wald nicht mehr betreten durfte, damit es nicht zu einem Unfall mit Personenschaden kam.
»Ich fürchte, künftig wirst du allerdings woanders spielen müssen«, erklärte ich daher. »Der Wald ist ab Montag Sperrgebiet. Er wird abgeholzt, da haben Unbefugte keinen Zutritt mehr. Zu gefährlich.«
Augenblicklich verfinsterte sich die Miene des Flötenspielers und ich musste mich zusammenreißen, um nicht zurückzuweichen, denn er wirkte auf mich wie ein zorniger Waldgott, der mich jeden Moment mit der bloßen Kraft seines Willens niederstrecken könnte. Oh, Mann, da war mir wohl wirklich meine Fantasie zu Kopf gestiegen.
»Was soll das heißen, er wird abgeholzt? Das kann nicht sein. Wer hat dir dazu die Erlaubnis erteilt? Der Besitzer würde das niemals zulassen.«
Von seinem Ausbruch überrascht, hob ich die Augenbrauen. »Der Wald gehört meiner Familie. Uns muss niemand die Erlaubnis erteilen.«
Jetzt musterte er mich eingehend und sah nicht minder verwundert aus als ich. Dann aber schüttelte er entschieden den Kopf.
»Auf keinen Fall. Ich glaube dir nicht. Ich kenne den Besitzer und weiß, er würde das nie zulassen. Der Wald bedeutet ihm alles.«
Allmählich dämmerte mir, dass der Kerl von Grandpa sprach. Offenbar hatten sich die beiden gekannt, aber er wusste noch nichts von seinem Tod. Das tat mir leid und brachte meine eigene Trauer zurück. Ich trat einen Schritt auf ihn zu und streckte halb die Hand nach ihm aus. Eine Geste, die er argwöhnisch registrierte und die ich selbst mehr aus Hilflosigkeit ausführte, weil ich nach Worten suchte.
»Du redest vermutlich von Robert. Er ist … er war mein Großvater. Er ist letzte Woche gestorben und mein Vater hat entschieden, dass der Wald nicht länger ungenutzt bleiben kann. Das ist unwirtschaftlich.«
»Bob ist tot?« Der Wald schien für einen Moment Nebensache. Entsetzen und Trauer malten sich gleichermaßen in die Züge des Fremden, ganz so, als habe er einen engen Freund verloren. Und weshalb nannte er Grandpa Bob? Niemand hatte das getan, seit Grandma gestorben war.
»Tut mir leid, dass du es so erfährst. Habt ihr euch gut gekannt? Ich meine, er hat nie von dir gesprochen, oder von einer Vereinbarung mit jemandem. Wie heißt du überhaupt?«
Erneut schenkte er mir einen langen Blick. Ich sah Tränen in seinen Augen schimmern. Tiefgrüne Augen, wie mir auffiel, die mich beinah so sehr in ihren Bann zogen wie sein Flötenspiel zuvor. Er blinzelte die Feuchtigkeit weg, blies angestrengt den Atem aus, ehe er antwortete: »Bob sagte Peter zu mir. Wenn du wirklich sein Enkel bist, ist es wohl okay, wenn du mich auch so nennst.«
»Freut mich, dich kennenzulernen, Peter. Ich bin Nicolas.«
Diesmal zögerte er nur kurz, ehe er meine dargebotene Hand ergriff und schüttelte. Sein Händedruck war warm und fest und ich konnte mich eines leichten Prickelns bei der Berührung nicht erwehren, auch wenn es unter den gegebenen Umständen wenig angebracht war. Zu schade, dass Grandpa uns einander nie vorgestellt hatte.
»Du siehst ihm ähnlich«, meinte er nachdenklich. »Das gleiche blonde Haar. Dieselben blauen Augen. Und sein Herz.«
Ein bisschen komisch fand ich diese Vergleiche schon, aber letztlich war es nicht neu, dass man mir nachsagte, meinem Grandpa ähnlich zu sehen. Und auch sonst waren wir uns in vielem einig gewesen. »Woher kanntet ihr euch denn nun, du und Grandpa? Und weshalb hat er nie von dir gesprochen?«
Peter zuckte die Achseln. »Wir kannten uns von hier. Aber es ist auch schon eine ganze Weile her, dass wir zuletzt miteinander geredet haben. In den letzten Jahren kam Bob nicht mehr hierher.«
Ich nickte verstehend. »Er hatte einen Schlaganfall und lebte seitdem im Seniorenheim, weil ihn Zuhause niemand angemessen hätte betreuen können.«
Erneut bereute ich es, Grandpa nicht hin und wieder zu einem Ausflug hierher abgeholt zu haben. Vielleicht hätte ich auf diese Weise auch Peter schon eher kennengelernt und erfahren, was es mit den beiden auf sich hatte.
»Ich kann mir trotzdem nicht vorstellen, dass Bob damit einverstanden wäre, den Wald abzuholzen. Und ungenutzt ist hier ganz sicher nichts. Du hast doch selbst gesehen, wie viele Tiere hier leben. Das ist ihr Zuhause.«
»Das mag schon sein, aber davon hat unsere Firma nichts.« Noch während ich das sagte, hasste ich mich selbst dafür. Das waren nicht meine Worte, nicht mein Denken, sondern das von Dad.
Peter schnaubte abschätzig. »Euch geht es immer nur ums liebe Geld. Für die wahren Reichtümer seid ihr blind.«
Ich überlegte noch, was ich ihm antworten könnte, um unser Gespräch wieder in freundlichere Bahnen zu lenken, da klingelte mein Handy. Bereits die Melodie verriet, dass mein Vater anrief, also war Ignorieren keine Option. So konnte ich nicht verhindern, dass Peter sich wortlos abwandte, seine Jacke ergriff und im Wald verschwand, während ich den Anruf entgegennahm.
~*~*~*~
Wenig später war ich auf dem Weg ins Seniorenheim, um Opas Sachen abzuholen, so wie mein Dad es in seinem Anruf gefordert hatte. Eine weitere Aufgabe, die er mir übertrug, obwohl es ihm oblegen hätte. Ich wollte glauben, dass es nicht bedeutete, es sei ihm nicht wichtig genug. Er hatte nur einfach zu viel zu tun und keine Zeit dafür.
Die Einrichtung lag außerhalb der Stadt. Es gab einen kleinen Park mit großen, schattenspendenden Bäumen und ein paar Teichen mit Goldfischen darin. Kein Wald, aber Natur. Es war Moms Idee gewesen, Großvater hier unterzubringen, damit er sich wohlfühlte und versorgt war. Von dem Schlaganfall hatte er sich nie vollständig erholt. Es gab gute Tage, wo man ihm wenig anmerkte, doch die waren selten. Sein Kurzzeitgedächtnis war beeinträchtigt, manchmal fehlten ihm einzelne Worte und seine rechte Körperhälfte hatte viel an Kraft eingebüßt, weshalb er gefüttert werden musste und sich nur noch mit dem Rollstuhl und fremder Hilfe fortbewegen konnte.
»Hallo Nicolas«, begrüßte mich Mrs. Churchill, die Leiterin des Heims. »Mein aufrichtiges Beileid. Kommen Sie, um die Sachen Ihres Großvaters zu holen? Ihr Vater sagte, er würde jemanden vorbeischicken, aber es klang eher, als hätte er ein Unternehmen damit beauftragt. Na ja, viele persönliche Dinge sind es ja ohnehin nicht.«
Ich runzelte verwirrt die Stirn. »Mein Vater? War er etwa heute hier?« Warum hatte er die Sachen dann nicht selbst mitgenommen, sondern schickte mich hierher? Die Frage – oder vielmehr, die Antwort darauf, die mir eine leise Stimme in meinem Inneren zuflüsterte – hinterließ einen bitteren Nachgeschmack. Es war ihm eben wirklich nicht wichtig genug. Eine ungeliebte Last, die er lieber beiseiteschob.
»Ihr Vater kam am späten Vormittag und ist erst vor etwa einer Stunde wieder weggefahren. Er hatte ein paar Kartons dabei und hat angefangen, die Sachen Ihres Großvaters einzuräumen.«
Ich war sprachlos, und irgendwie auch wütend und enttäuscht. Ohne ein weiteres Wort ging ich zu Grandpas Zimmer. Kaum, dass ich die Tür aufgestoßen hatte, blieb ich fassungslos in deren Rahmen stehen und starrte auf eine Handvoll halbgepackter Kartons auf dem Boden, vor allem aber auf das Chaos drum herum. Jeder Schrank, jede Schublade war ausgeräumt, Großvaters Habseligkeiten auf dem Bett, dem Tisch und sogar dem Teppich verteilt. Nur ein Teil davon war bereits achtlos in die Kartons geworfen worden. Ein Wunder, wenn nichts zu Bruch gegangen war.
»Ach du lieber Himmel.« Mrs. Churchill war mir gefolgt und nicht minder entsetzt als ich über das Chaos im Zimmer.
»Keine Ahnung, warum es hier so aussieht, Mrs. Churchill. Ich versichere Ihnen, ich räume das hier auf und packe die Kartons zu Ende, damit sie abgeholt werden können. Vermutlich wurde mein Vater zu einem wichtigen Termin gerufen, ehe er fertig war.«
Die Ausrede war kaum glaubwürdig, doch Mrs. Churchill gab sich damit zufrieden und ließ mich allein.
Seufzend begann ich, Ordnung in dieses Chaos zu bringen. Behutsam legte ich die Sachen in die Kartons. Dabei fiel mir ein alter Zeichenblock in die Hand. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass Grandpa zeichnete. Offenbar hatte er eine Menge Geheimnisse gehabt.
Auf der ersten Seite befand sich ein Bild der drei Eichen, an denen ich erst heute Mittag vorbeigegangen war. Wärme durchströmte mich, als ich durch die Seiten blätterte und immer neue Zeichnungen von seinem Wald fand. Fast alle Orte, die er festgehalten hatte, waren mir vertraut. Beim Bild meiner Grandma wurde mir eng ums Herz. Es musste erst kurz vor ihrem Tod entstanden sein. Grandpa hatte ihr Gesicht detailliert und liebevoll festgehalten. Es wirkte so lebendig wie eine Schwarzweiß-Fotografie. Nur die Augen blickten irgendwie traurig. Fast so, als wisse sie um ihr Sterben. Das nächste Blatt zeigte eine Panflöte und einzelne Töne, die von ihr empor gen Himmel stiegen. Ob Grandpa seiner verlorenen Liebe ein letztes Lied gespielt hatte? Ich schluckte gegen den Kloß im Hals an und wollte den Block in einen der Kartons legen, da segelte ein loses Blatt daraus zu Boden. Es war in der Mitte gefaltet und als ich es aufhob und aufklappte, sah ich in Peters Gesicht. Auch seine Züge waren lebendig wie auf einer Fotografie, und er sah fast genauso aus wie heute bei unserer Begegnung. Wann Grandpa es wohl gezeichnet hatte?
Ich zögerte nur eine Sekunde, dann faltete ich es zusammen und steckte es ein. Ein paar Minuten später war ich fertig, das Chaos beseitigt und alles verpackt. Ich wusste nicht, was Dad damit vorhatte. Vermutlich würde er die Kartons irgendwo einlagern und es Mom und mir überlassen, später zu sortieren, was wir behielten, was entsorgt werden konnte und was gespendet wurde.
Einen Karton nach dem anderen brachte ich hinaus in den Jeep. Als ich mit dem letzten das Zimmer verließ, kam mir Schwester Vicky entgegen. Sie hatte sich hier im Pflegeheim um Grandpa gekümmert.
»Hallo Nicolas«, begrüßte sie mich und legte ihre Hand auf meinen Arm. »Wie geht es Ihnen? Mein aufrichtiges Beileid. Ich weiß, wie nahe Sie und Robert sich standen.«
Ihre Worte waren tröstlich, versetzten meinem Herzen aber gleichzeitig einen Stich. »Danke, Vicky. Ich kann immer noch nicht glauben, dass Grandpa nicht mehr da ist. Er war mein Held. Vermutlich hab ich tief im Inneren gehofft, er würde unsterblich sein.«
Sie erwiderte mein schmerzliches Lächeln und strich tröstend über meinen Arm. »Er hat Sie sehr geliebt. Mehr, als Sie ahnen. Warten Sie einen Moment, ich habe noch etwas für Sie. Er hat darauf bestanden, dass ich es nur Ihnen persönlich geben soll, niemandem sonst aus der Familie. Daher hatte ich heute Mittag schon Sorge, wie ich das anstellen soll, als Ihr Vater herkam und anfing, die Sachen auszuräumen.«
Verwundert blickte ich ihr nach, wie sie im Stationszimmer verschwand und gleich drauf mit einer grünen Schachtel wiederkam.
»Was ist das?«
»Ich habe nicht hineingeschaut. Aber es schien ihm wichtig zu sein, dass Sie es erhalten.«
Ich nahm das Kästchen entgegen und hob den Deckel ab. Darin lag eine Panflöte, ganz ähnlich der, die Peter im Wald gespielt hatte. Dieser Tag wurde immer rätselhafter.
»Oh, wie hübsch«, meinte Vicky. »Konnte Ihr Großvater Flöte spielen?«
»Ich weiß es nicht«, gestand ich ehrlich, musste aber an das Bild denken, das er von dem Instrument gezeichnet hatte. »Ich habe ihn nie spielen hören. Aber sie muss ihm viel bedeutet haben, wenn er sie bei sich haben wollte.«
»Und es zeigt, wie wichtig Sie ihm waren, wenn er sie Ihnen vermacht hat.«
Ich schluckte. Eigentlich war die Panflöte genauso Teil des Erbes wie alles andere. Aber mein Vater würde wohl kaum Wert auf solch ein einfaches Musikinstrument legen. Die Flöte und die Zeichnungen, die würde ich behalten. Allein schon, um zu verhindern, dass sie auf dem Müll landeten.
Ich verstaute das Kästchen mit der Flöte im Handschuhfach des Jeeps und machte mich auf den Weg nach Hause.
~*~*~*~
Als ich wenig später mein Elternhaus betrat, hörte ich wie Mom in der Küche hantierte und wohl das Abendessen vorbereitete. Dad war wie immer in seinem Büro. Nicht, dass es in der Firma keines geben würde, aber für ihn existierte der Begriff Feierabend nicht. Darum leitete er sein Telefon einfach aufs Handy weiter, wenn er nach Hause fuhr und zog sich die meiste Zeit auch hier ins Arbeitszimmer zurück. Ein Wunder, dass meine Eltern noch die Mahlzeiten zusammen einnahmen. Manchmal fragte ich mich, wie sie es geschafft hatten, mich zu zeugen.
Ich entschied, das Unangenehme direkt hinter mich zu bringen, und mit Dad über das Chaos im Seniorenheim zu sprechen. Vor seiner Tür blieb ich stehen, weil ich drinnen Stimmen hörte. Vielmehr eine Stimme. Seine. Er telefonierte also schon wieder.
»… mir nicht gefallen. Das ist reine Verzögerungstaktik. Es gibt dieses Dokument nicht, mein Vater hat nie von so was gesprochen. Also halten Sie sich gefälligst an die Fakten und machen Sie die Unterlagen fertig.« Ein kurzes Schweigen setzte ein, während vermutlich der Gesprächspartner am anderen Ende etwas sagte. Es dauerte nicht lange, bis mein Vater wieder lospolterte. Wütender als zuvor. »Es ist mir egal, was er Ihnen gesagt hat. Ist Ihnen klar, dass der Alte überhaupt nicht mehr zurechnungsfähig war? Der hatte doch schon seit dem Schlaganfall nicht mehr alle Tassen im Schrank. Und die letzten Tage war er praktisch im Delirium, so viel Medikamente wie die in ihn reingepumpt haben. Das waren Wahnvorstellungen, sonst nichts.« Es tat mir weh, wie er über Grandpa sprach, aber ich war nicht wirklich überrascht. »Hören Sie, ich habe bereits die Arbeiter und Maschinen eingeplant«, fuhr Dad fort. »Jeder Tag Verzögerung kostet mich ein Vermögen. Dafür mache ich Sie haftbar, haben Sie das verstanden? Also tun Sie verdammt noch mal Ihren Job.«
Es dauerte ein paar Sekunden, dann hörte ich, wie etwas Hartes auf der Tischplatte aufschlug. Es wäre nicht das erste Handy, das zu Bruch ging, weil Dad seine Emotionen nicht im Griff hatte. Ein bitteres Lächeln kroch auf meine Lippen. Ich kannte niemanden, der so gefühlskalt war wie mein Vater. Nur, wenn etwas nicht so lief, wie er wollte, konnte er richtig emotional werden. Seine Wut war oscarreif. Aber eines musste man ihm lassen, er hatte noch nie die Hand gegen jemanden erhoben. Vermutlich wäre das dann doch schon wieder zu viel Emotion gewesen.
Ich klopfte und wartete sein Herein ab. Missmutig sah er mir entgegen.
»Hallo Dad. Ich habe Grandpas Sachen abgeholt, wie du es mir aufgetragen hast. Aber kannst du mir mal verraten, warum du mich dahin schickst, wenn du selbst schon da warst? Und was um alles in der Welt hast du mit seinem Zimmer gemacht? Das sah ja aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen.«
»Ich habe etwas gesucht«, erwiderte er knapp.
»Aha. Und was?«
»Nichts, was dich etwas angeht. Es war sowieso verschwendete Zeit. Bloß weil der Notar deines Großvaters seinen Job nicht beherrscht.«
Ich räusperte mich und nahm all meinen Mut zusammen.
»Dad, meinst du nicht, wir sollten mit dem Wald noch warten? Er war Grandpa wichtig und ich dachte, so als Geste des Respekts …
»Jetzt werde du nicht auch noch so sentimental wie dieser senile, alte Mann«, fiel Dad mir ins Wort. »Es wird höchste Zeit, dass wir das Holz verkaufen. Wir hätten diesen Wald schon vor Jahren roden müssen. Weiß der Geier, was Robert darin gesehen hat. Die Maschinen rücken in ein paar Tagen an und damit basta. Mach deine Arbeit und überlass die Entscheidungen mir.«
Ich hatte selten gehört, dass Dad Vater zu Grandpa gesagt hätte. Immer nur Robert. Ihr Verhältnis war angespannt, so lange ich denken konnte, weil Dad sich nur für die Gewinne der Firma interessierte, Grandpa hingegen auf ein Gleichgewicht von Geben und Nehmen bedacht war. Vor allem nach Großmutters Tod war ihm das wichtiger erschienen als große Gewinne. Marktwirtschaftlich sicherlich fatal, doch er hatte die Firma auch auf diese Weise am Laufen gehalten. Natürlich war sie ertragreicher, seit Dad sie übernommen hatte, aber war das zwangsläufig besser?
»Der Wald war Grandpa so wichtig. Vielleicht könnten wir ihn als eine Art Andenken …«
»Jetzt hab ich aber genug«, brüllte Dad und schlug mit der Hand auf den Tisch. »Verschon mich mit deiner Rührseligkeit. Erst macht mir dieser alte Sturkopf das Leben schwer und jetzt glaubst du, sein Erbe antreten zu müssen? Es reicht mit diesen Flausen.«
Geschockt taumelte ich mehrere Schritte rückwärts. »So denkst du über Grandpa? Und über mich?«
»Ja, so denke ich und zwar mit Recht. Herrgott, womit habe ich das verdient? Was habe ich in deiner Erziehung bloß falsch gemacht? Demnächst kommst du noch auf die Idee, doch Bücher zu schreiben. Werd endlich erwachsen.«
Längst liefen mir Tränen über die Wangen, aber alles, was ich damit erreichte, war noch mehr Abscheu in den Augen meines Vaters. Ich hielt es nicht mehr aus. Die Trauer um Grandpa, dieser verwirrende Tag und jetzt auch noch Dads Spott, das war einfach zu viel. Ich stürmte aus dem Haus, wollte einfach nur noch so weit weg wie möglich.
~*~*~*~
Ich fuhr hinaus in den Wald. Der einzige Ort, der mir jetzt Trost spenden konnte. Ich wollte mich dort unter einen Baum setzen, an Grandpa denken und meinem Kummer freien Lauf lassen. Das Kästchen mit der Panflöte nahm ich mit. Alles, was mir von ihm geblieben war.
An eine alte Eiche gelehnt, barg ich das Gesicht in meinen Händen und schluchzte hemmungslos. Es tat so weh in meinem Inneren. Einfach alles. Ich hatte viel mehr verloren, als nur meinen Großvater.
»Nicolas?«
Die Stimme ließ mich aufschrecken. Unter hunderten hätte ich sie erkannt. Selbst nach dieser kurzen Zeit.
»Darf ich mich zu dir setzen?«, fragte Peter. Er trug andere Kleidung als am Tag. Enge Hosen aus Wildleder, die an den Seiten verschnürt waren. Dazu ein grünes Hemd, das die Farbe seiner Augen perfekt widerspiegelte, und derbe Stiefel.
Ich schluckte hart und nickte. Komischerweise war es mir nicht einmal peinlich, dass er mich so sah. Irgendwie wusste ich, dass er es verstehen konnte.
Ohne ein weiteres Wort nahm er neben mir Platz, holte die Panflöte hervor und begann zu spielen. Es war nicht die Melodie, die er den Tieren vorgespielt hatte, obwohl auch diese hier sanft und beruhigend klang. Aber sie sprach mehr von Trauer und Verzweiflung, Liebe und Hoffnung. Seltsam, dass ein Lied ohne Worte all das auszudrücken vermochte. Es spiegelte mein Innenleben wider. Oder vielleicht wollte ich mich einfach darin wiederfinden – und verlieren. Wie selbstverständlich lehnte ich mich an Peters Schulter und ließ meinen Tränen weiter freien Lauf. Er ließ es zu, ohne sein Spiel zu unterbrechen, und nach und nach wurde ich ruhiger, bis der Schmerz in meinem Inneren zu einem dumpfen Pochen geschrumpft war.
»Das war sehr schön«, flüsterte ich, nachdem der letzte Ton verklungen war.
»Freut mich. Geht es dir jetzt besser?«
Ich nickte vorsichtig und schielte zu ihm hoch, nun doch ein wenig verlegen. »Ein bisschen.«
»Das ist gut. Musik ist heilsam. Vor allem für die Seele. Genau wie die Natur.« Er lächelte zufrieden. »Ich hatte gehofft, dass du wiederkommen würdest«, sagte er zu meiner Überraschung.
»Ähm, echt? Warum?«
Sein Lächeln wurde breiter, zauberte goldene Funken in seine Augen.
»Ich habe nachgedacht. Und ich glaube, Bob würde wollen, dass wir miteinander reden. Einen Weg finden.«
Einen Weg finden? Ich ahnte, was er meinte und es machte mich traurig, dass es diesen Weg nicht geben würde. Das war mir nun endgültig klar. Darum wollte ich auch nicht über den Wald reden.
»Grandpa hat mir eine Panflöte vererbt«, erzählte ich Peter stattdessen.
»Oh. Ich denke, es wird die sein, die ich ihm gegeben habe. In einer grünen Schachtel?«
Ich nickte.
»Es freut mich, dass sie nicht in einem Mülleimer landet. Wenn du magst, bring ich dir bei, sie zu spielen.«
»Ja, das wäre schön. Irgendwann. Und ich habe das hier bei Grandpas Sachen gefunden.« Ich zog die Zeichnung hervor und hielt sie ihm hin. Er nahm sie und betrachtete sein Konterfei eine Weile schweigend.
»Ich erinnere mich gut daran. Es kommt mir vor, als wäre es gestern gewesen, dabei ist es eine halbe Ewigkeit her«, antwortete er, wobei seine Stimme wehmütig klang.
»Na ja, so lange kann es nun auch wieder nicht her sein. Du siehst praktisch keinen Tag älter aus als auf dem Bild.«
Er lächelte wieder, sagte aber nichts dazu, sondern gab mir das Bild zurück. Als er sich wortlos erhob und ging, blieb ich verdattert zurück und sah ihm hinterher, unschlüssig, was ich jetzt tun oder sagen sollte, bis er schließlich stehenblieb und grinsend über die Schulter zu mir zurückblickte. »Komm mit, Nicolas. Ich lade dich ein.«
»Einladen?« Ich runzelte die Stirn, stand zögernd auf. »Wohin? Zu was?«
»Komm einfach mit. Ich denke, es wird dir gefallen.«
Ich tat es, obwohl ich ihn ja kaum kannte. Im Prinzip hätte er mich irgendwohin locken und umbringen können, doch der Gedanken erschien mir völlig absurd. Wozu die Mühe, wir waren ja eh allein hier im Wald. Außerdem, warum hätte er mich dann vorher noch trösten sollen?
Wir schritten eine ganze Weile schweigend nebeneinander her, die Sonne ging langsam unter und im Wald wurde es rasch dunkler. Mit einem Mal vernahm ich Trommeln, dann Flöten und Schellen und schließlich sah ich einen Lichtschein, wie von zuckenden Flammen. Peter ging direkt darauf zu und als ich ihm folgte, fand ich mich inmitten feiernder und tanzender und musizierender Menschen wieder.
»Was ist das hier?«, fragte ich. Abgesehen davon, dass es verboten und gefährlich war. Offenes Feuer mitten im Wald. Auf fremdem Grund und Boden.
»Heute ist Herbst-Tag- und Nachtgleiche«, erklärte Peter. »Wir danken Mutter Erde für all die Gaben, die sie uns schenkt. Und heute gedenken wir dabei auch Robert.«
»Aber das ist gefährlich. Wenn sich das Feuer ausbreitet …«
»Wird es nicht«, versicherte er mir.
Zweifelnd blickte ich mich um. Für jemanden, der so viel Wert auf den Schutz des Waldes legte, ging er in meinen Augen ziemlich unverantwortlich damit um.
Als hätte Peter meine Gedanken gelesen, trat er plötzlich nah an mich heran, legte eine Hand auf meine Wange und gab mir einen Kuss, was mich völlig überrumpelte.
»Mach dir keine Sorgen. Die meisten hier gehören zu uns. Und die wenigen Gäste respektieren die Natur. Morgen früh wirst du kaum noch eine Spur von dem hier finden. Hab Vertrauen. Lass dich treiben. So soll es sein.«
Ohne ein weiteres Wort fasste er mich an der Hand und zog mich in den Kreis der Tanzenden. Ich konnte gar nicht anders, als mich dem Reigen anzuschließen. Der Rhythmus der Flöten und Trommeln ging mir direkt ins Blut. Meine Beine bewegten sich wie von allein und mein Herz fand rasch den Takt der Trommelschläge. Peter ließ mich nicht los, während wir ums Feuer tanzen. Mit der freien Hand hielt er seine Flöte an die Lippen und spielte. Nicht sanft und melancholisch diesmal, sondern fröhlich und wild. Ich hatte nicht gewusst, dass eine Panflöte so unterschiedlich klingen konnte. Dabei ruhte sein Blick unablässig auf mir, kribbelte auf meiner Haut und bis tief in mein Innerstes hinein.
Später aßen wir Brot, das frisch in der Glut gebacken zu sein schien, und Früchte. Es wurden Krüge mit Honigwein, Apfelsaft und frischem Quellwasser herumgereicht. Ich fühlte mich wohl, vergaß, was mich bedrückte und genoss diese skurrile Gesellschaft. Vor allem aber genoss ich Peters Nähe. Es war wie ein Traum. Wie eine meiner Geschichten, die ich im Kopf ersonnen, aber nie zu Papier gebracht hatte. Viele der Anwesenden kannten meinen Grandpa und wie es schien, hatte jeder von ihnen ihn sehr gemocht. Als das Feuer allmählich niedergebrannt war und sich alle auf Decken und Isomatten zum Schlafen legten, folgte ich Peter zu einem Platz abseits des Kreises, an dem wir ungestört waren, aber noch immer das Feuer im Auge behalten konnten. Es lagen bereits Decken dort. Er streifte seine Kleidung ab, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt, und ich tat es ihm gleich, ohne darüber nachzudenken.
Dann aber wurde meine Kehle trocken, wie wir so nackt voreinander standen. Mein ganzer Körper glühte, teils aus Scham, teils vor Erwartung. Was passierte hier eigentlich? Ich war nicht der Typ, der mit einem Wildfremden ins Bett ging. Aber beabsichtigte er das überhaupt? Oder schlief er einfach nur eben immer nackt – selbst hier im Wald – und ich interpretierte zuviel hinein? Genaugenommen war das hier auch kein Bett. Und Peter war kein Fremder. Ich konnte es nicht erklären, ich wusste nur, es war okay, ganz egal, was passierte, und das lag nicht am Honigwein, denn betrunken war ich nicht.
»Komm her zu mir«, forderte Peter mit heiserer Stimme und ich zögerte keine Sekunde. Seine Arme umfingen mich kräftig und warm. Sein fester Körper an meinem fühlte sich so gut an, bot eine tröstliche Zuflucht, in die ich mich nur zu gern schmiegte und einfach fallen ließ.
»Du bist wunderschön, weißt du das?« Sacht streiften seine Lippen über meinen Mund, hauchten Küsse auf meine Mundwinkel, mein Kinn und entlang meines Kiefers. Warmer Atem streifte die empfindsame Stelle hinter meinem Ohr. Bei der Berührung von Peters Zunge an meinem Ohrläppchen erschauerte ich.
Bedächtig ließ er seine Hände über meinen Rücken gleiten. Ganz ohne Eile. Er legte seine Handflächen auf meinen Po, massierte meine Backen und zog mich näher an sich heran, sodass ich seine wachsende Erektion fühlen konnte, die sich an meine eigene schmiegte. Das war nun definitiv nicht mehr fehlzuinterpretieren, und verlegen gestand ich mir ein, dass ich froh darüber war. Ich wollte das hier. Ich wollte ihn.
Peter war pure Kraft, gegen ihn wirkte ich fast schmächtig, dabei war ich alles andere als ein Hänfling. Er war ein Mann, wie ich ihn mir perfekter nicht hätte erträumen können. Und er begehrte mich.
Inzwischen klopfte mir das Herz bis in meine Kehle hinein. Ich hätte nichts sagen können, selbst wenn mein Hirn noch irgendwelche Worte hervorgebracht hätte, was es allerdings ohnehin nicht tat. Ich fühlte nur noch, ließ mich treiben und allen Kummer hinter mir.
Das improvisierte Lager auf dem Waldboden war überraschend weich, als wir uns darauf niederlegten. Meine Haut kribbelte überall, wo Peter mich berührte. Ich wollte seinen Körper ebenso erkunden, wie er den meinen. Die kräftigen, festen Muskeln, die gebräunte Haut und das krause Haar auf seiner Brust, aber ich war nicht fähig, mich zu bewegen, konnte nur still daliegen und mich ihm hingeben. Doch zu viel Wein? Oder hatte er etwas hineingemischt? Erschreckenderweise wäre es mir egal gewesen. Es tat so gut, nicht nachzudenken. Die Gedanken einfach kommen und gehen zu lassen. Am besten gehen. Ich wollte einfach nur genießen, was gerade mit mir geschah. Hände, die mich mit kräftigen Strichen erkundeten. Lippen, die mich neckten und eine Zungenspitze, die jede sensible Stelle meines Körpers fand. Das hier war Verführung pur, wie ich sie nie zuvor erlebt hatte.
»Du kannst mir jederzeit Einhalt gebieten«, raunte Peter, ehe sein Mund sich wieder auf meinen legte und er mich endlich richtig küsste. Ich gab nur einen vagen Laut von mir. Das Letzte, was ich im Sinn hatte, war, ihn aufzuhalten. Stöhnend bog ich mich ihm entgegen, rieb mich an ihm, während er meinen Mund schonungslos mit seiner Zunge erforschte. Mich sein Geschmack mehr trunken machte, als es der Honigwein gekonnt hätte. Mir war durchaus bewusst, wie verrückt das hier war, wie leichtsinnig ich mich verhielt, weil ich gar nichts von Peter wusste, außer dass er wilde Tiere mit seinem Flötenspiel besänftigte und Großvater ein Bild von ihm gezeichnet hatte, weshalb er ihm wohl nahegestanden haben musste. Das genügte mir für den Moment.
»Bitte«, keuchte ich, als er meinen Mund freigab, damit wir kurz zu Atem kamen. »Ich will dich in mir spüren.«
Peter wollte es genauso wie ich, das war nicht zu übersehen. Dennoch zögerte er, wirkte unsicher, ob er diesen Schritt tatsächlich gehen sollte.
»Bist du dir wirklich sicher? Ich könnte dich auch auf andere Weise …«, begann er. Rasch verschloss ich seine Lippen mit einem Kuss und schüttelte sacht den Kopf. Noch immer waren mir Worte zu viel. Ich ließ lieber meinen Körper sprechen, indem ich meine Beine um ihn schlang und ihn näher zu mir zog. Dabei war ich mir vollkommen bewusst, gerade zu weit mehr meine Zustimmung zu geben, als dazu, dass er mit mir schlief.
~*~*~*~
Träge blinzelte ich dem Licht des neuen Morgens entgegen. Keine Ahnung, wann ich eingeschlafen war. Irgendwo zwischen Orgasmus und postkoitaler Erschöpfung vermutlich. Gott, ich konnte mich nicht erinnern, jemals so intensiven Sex gehabt zu haben wie mit Peter. Ich fühlte mich völlig entspannt, überließ mich der wohligen Schwere, die mich immer noch umfangen hielt, und spürte Peters Fingerspitzen nach, die Kreise auf meinen Rücken malten und mir damit ein wohliges Schnurren entlockten.
»Na, aufgewacht«, neckte er mich.
»Mhm«, machte ich, noch nicht bereit, die Traumwelt vollends zu verlassen. In der Realität warteten zu viele Probleme auf mich.
»Wir sollten aufstehen«, forderte mein Liebhaber allerdings und gab mir einen Klaps auf meinen Hintern. »Wir müssen nämlich reden.«
Ich wollte vieles, Reden gehörte allerdings nicht dazu, auch wenn ich Peter zustimmen musste. Es gab in der Tat viel zu besprechen. Über die Zukunft dieses Waldes – und über uns. Uns! Der Gedanke war verrückt, wir kannten uns ja kaum. Trotzdem zweifelte ich nicht eine Sekunde, dass es ein Uns gab. Und genau deshalb war Ehrlichkeit wichtig.
Nachdem ich mich angezogen hatte, folgte ich Peter zur Feuerstelle. Außer uns war niemand mehr hier.
»Ich hab dir doch gesagt, heute früh wird es keine Spuren mehr geben. Gerade Unseresgleichen zieht sich lieber rasch wieder zurück.«
Tatsächlich zeugte praktisch nur noch die Asche in der Feuerstelle von dem, was gestern hier geschehen war.
»Dafür musste gestern aber auch Holz herhalten«, konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen.
Statt sauer zu reagieren, zwinkerte Peter mir zu. »Ja, aber nur welches, das der Wald uns freiwillig gegeben hat. Tote, vertrocknete Äste, die wir gesammelt haben.«
Er reichte mir ein paar Früchte und ein Stück Brot. Ein bisschen Wasser war auch noch übrig.
»Nicolas, es gibt da etwas, das du wissen musst«, begann Peter und der Unterton in seiner Stimme ließ mich aufhorchen. Das schien kompliziert zu werden. Besser also, ich brachte meinen Teil der Ehrlichkeit vorher hinter mich, ehe mich der Mut verließ.
»Ich muss dir auch was sagen«, wandte ich daher ein. »Ich weiß, dieser Wald ist dir wichtig und ich verstehe das. Wirklich. Mir ist er auch wichtig. Aber er gehört meinem Vater und der ist nicht davon abzubringen, ihn abzuholzen. Glaub mir, ich hab’s versucht. Aber keine Chance.«
Nervös nagte ich an meiner Unterlippe, während ich auf Peters Reaktion wartete. Der stockte zwar kurz, doch zu meiner Verwunderung kam kein Widerspruch von ihm.
»Das dachte ich mir schon. Es macht mich traurig, aber dafür kannst du nichts.«
»Macht es denn wirklich so einen Unterschied?«, fragte ich zögernd. »Ich meine … es ist nur ein kleines Stück Wald. Nichts Großes.«
Langsam hob Peter den Kopf und sah mich an. »Es macht immer einen Unterschied, Nicolas«, sagte er eindringlich, aber ohne Vorwurf. »Für jedes Tier, das hier lebt, jeden Baum, jeden Strauch. Und auch wenn es nur ein kleiner Flecken ist, bedenke, dass es weitere wie ihn gibt. Und je mehr wir davon erhalten, umso größer wird das Ganze. Dann macht es auch für die Menschen einen Unterschied.«
Ich runzelte die Stirn. »Für die Menschen? Du sagst das so, als würdest du nicht dazugehören.«
Er hob herausfordernd die Brauen, ging aber nicht näher auf meine Bemerkung ein. »Siehst du, ohne die Bäume habt ihr irgendwann keine Luft mehr zum Atmen. Ohne sauberes Wasser weder Essen noch Trinken. Alles greift ineinander. Alles ist abhängig voneinander. Darum ist jedes Fleckchen Natur, das bewahrt wird, kostbar. Es verschafft euch Zeit. Und irgendwann vielleicht auch Einsicht.«
Seine Worte verwirrten mich immer mehr. »Du redest, als wärst du selbst kein Mensch, sondern ein … Waldgott oder so was, der uns vor uns selbst retten muss.« Ich lachte nervös, er hingegen blieb ernst.
»Nein. Ich bin gewiss kein Gott. Wäre ich einer, hätte ich wohl die Macht, den Wald auf andere Weise zu schützen. Aber ich bin nur … ein Satyr.«
Mir verschlug es die Sprache. Das mit dem Waldgott war eher ein Scherz gewesen.
»Ein Satyr?!«, wiederholte ich daher wenig eloquent, was er mit langsamem Nicken bestätigte.
»Das klingt verrückt, nicht wahr? Aber ich lüge dich nicht an. Und damit komme ich zu dem Punkt, über den ich eigentlich mit dir reden wollte. Mein Name ist nicht Peter, aber dein Grandpa nannte mich so, weil er meinen wirklichen Namen kaum aussprechen konnte. Er brauchte auch eine Weile, um zu glauben, was ich bin, aber dann fand er Peter passend in Anspielung auf Peter Pan. Seine Art von Humor. Weil wir Satyre der Legende nach Söhne des Waldgottes Pan sein sollen. Und wir verkörpern durchaus seine Mystik. Wir sprechen die Sprache der Tiere und Pflanzen, sind Hüter von Flora und Fauna, Sinnbild für Freiheit, Wildnis und … Leidenschaft.«
Das letzte Wort sprach er zögerlich aus und ich brauchte eine Weile, bis mir ein Licht aufging, warum. Mit großen Augen starrte ich ihn an.
»Du und … Grandpa?«
»Bitte sei nicht geschockt.«
Das war ich nicht. Oder doch, klar war ich es. Aber nicht aus den Gründen, die er vielleicht vermutete. Natürlich war die Vorstellung seltsam, mit demselben Mann geschlafen zu haben, mit dem auch Grandpa einmal zusammen gewesen war. Das war schräg. Aber ich hätte nie gedacht, dass Grandpa auch auf Männer stand.. Es hatte keine Anzeichen dafür gegeben. Selbst bei meinem Outing hatte er kein Wort darüber verloren. Allerdings war er der Einzige gewesen, der von Anfang an kein Problem damit gehabt hatte, während meine Eltern sich erst daran gewöhnen mussten.
»Wann?«, war die erste Frage, die mir in den Sinn kam. »Nach Grandmas Tod? Ich meine … ich hab kein Problem mit Kinks, aber … war er nicht ein bisschen zu alt für dich?«
Ein leises Lachen entwich Peter. »Lass dich nicht vom Äußeren täuschen. Wir Satyre sind zwar nicht unsterblich, aber wir altern extrem langsam.«
»Oh. Und das heißt?« Irgendwie wusste ich nicht, worüber ich mich mehr wundern sollte. Die Story war vollkommen verrückt, trotzdem glaubte ich Peter, weil etwas tief in mir sagte, dass es keine Lüge war.
»Bob und ich sind uns auf ähnliche Weise begegnet, wie wir beide gestern. Aber das liegt jetzt weit mehr als ein halbes Jahrhundert zurück. Er und du, ihr habt das gleiche Herz. Ihr versteht. Ihr könnt ein Bindeglied zwischen unserer und eurer Welt sein. Ich habe es bei unserem Aufeinandertreffen sofort gespürt, aber dann war ich so wütend über das, was du gesagt hast. Erst später wurde mir klar, dass du die Antwort bist.«
»Die Antwort? Worauf?«
Peter biss sich auf die Unterlippe, was ich trotz meiner Verwirrung schon wieder ziemlich sexy fand. »Damals war das alles noch nicht so einfach«, begann er. »Gleichgeschlechtliche Liebe wurde in eurer Gesellschaft nicht akzeptiert. Bob hatte große Angst und ich hätte ihn nie zu irgendetwas gedrängt. Ich konnte nicht mit ihm in seiner Welt leben, aber er eben auch nicht mit mir in der meinen. Dann lernte er deine Großmutter kennen und verlor sein Herz an sie. Es war leichter für ihn, sie zu heiraten, doch ich wusste, solange wir uns weiterhin sahen, würde er nie wirklich glücklich mit ihr werden.« Sein Blick wanderte zu meiner Hosentasche, in der ich die Zeichnung von ihm verstaut hatte. »Der Tag, an dem dieses Bild entstand, war der Tag, an dem ich unsere Verbindung löste. Damit er frei war.«
»Was meinst du mit frei? Ich meine, er hätte doch auch vorher jederzeit gehen können, oder nicht?«
Peters Blick zeigte deutlich, wie sehr die Erinnerung ihn noch immer schmerzte. »So einfach ist das nicht, Nicolas. Wie ich schon sagte, Menschen wie du und dein Großvater können ein Bindeglied sein. Doch das Band, das zwischen eurer und unserer Welt geknüpft wird, ist sehr stark. Darum ist es wichtig, dass beide es wollen, damit es niemandem schadet. Das Band zwischen Bob und mir stand seinem Glück im Weg. Ich musste ihn gehen lassen, auch wenn es bedeutete, dass er sich dem Wald dann nicht länger verpflichtet fühlte. Er versprach mir, ihn weiter zu beschützen, und ich glaubte ihm. Wir haben einander danach nie wieder gesehen. Ich habe ihn nur noch aus der Ferne betrachtet, wenn er herkam. Manchmal brachte er einen kleinen Jungen mit, ich denke, das warst du.«
Ich nickte gedankenverloren. »Ja, vermutlich. Ich glaube nicht, dass mein Vater ihn jemals hierher begleitet hat.«
»Als du herkamst, mir gesagt hast, dass du von seinem Blut bist und ich spürte, wie du auf mich reagierst, habe ich es als ein Zeichen gesehen.« Bei seinen Worten schoss mir schon wieder Röte ins Gesicht. »Ich war mir sicher, dass du das Versprechen übernehmen würdest. Darum konnte ich nicht verstehen, warum du den Wald dennoch zerstören willst. Das passte nicht zusammen.«
Ich schluckte. Das Geständnis fiel mir nicht leicht, aber es erschien mir mit einem Mal wichtig, Peter wissen zu lassen, dass Grandpa sein Versprechen nicht absichtlich gebrochen hatte.
»Er hat mir diese Aufgabe tatsächlich übertragen. Auf seinem Sterbebett sozusagen. Aber er hat dabei nicht bedacht, dass ich dazu nicht in der Lage sein würde, weil Vater alles erbt. Vermutlich war Grandpa einfach schon zu verwirrt, um daran zu denken.«
»Das ist nicht deine Schuld, Nicolas. Und auch nicht seine. Irgendein Weg wird sich finden. Die Natur findet immer einen, weißt du. Und ich werde da sein, wenn es so weit ist. Wenn du willst, mit dir.«
Und ob ich wollte. Vor allem aber wollte ich ihm gern glauben, dass es noch eine Chance gab. Doch es gelang mir nicht. Wie ein Versager kam ich mir vor. Weil ich Grandpas letzten Willen nicht erfüllen und meinen Vater nicht aufhalten konnte. Das hatte ich nie gekonnt.
»Nimm die Flöte«, bat Peter sanft. »Bob konnte wunderbar spielen. Ich bin mir sicher, er würde sich freuen, wenn du es lernst. Dafür hat er sie dir schließlich hinterlassen.«
Echt jetzt? Seine Heimat stand auf dem Spiel und Peter wollte mir Flötespielen beibringen? Meinen skeptischen Blick beantwortete er mit einem aufmunternden Nicken. Also holte ich tatsächlich die Flöte hervor und setzte sie an die Lippen.
»Autsch!« Ich zuckte zurück. Irgendetwas hatte mich geschnitten. Ich schmeckte Blut.
»Lass mal sehen«, bat Peter und nahm mir die Flöte aus den Händen. Erst schaute er sich meine Lippe an und hauchte einen Kuss auf die schmerzende Stelle. Dann sah er sich das Instrument genauer an. »Hier steckt irgendwas in einem der Röhrchen«, stellte er fest und knibbelte mit den Fingernägeln daran herum. Es schien ein Stück Papier zu sein, fest zusammengerollt, das in dem dünnen Röhrchen steckte. Nach ein paar erfolglosen Versuchen gelang es ihm schließlich, es herauszuziehen. Er gab es an mich weiter. Ich rollte es auseinander und begann zu lesen. Mit jedem Wort wuchs meine Fassungslosigkeit – und ein eisiger Klumpen aus Wut, der sich in meinem Magen bildete. »Das glaube ich jetzt nicht.«
»Was?«, fragte Peter angespannt. »Was ist es?«
»Ein … ein Testament. Grandpas Testament. Laut Datum hat er es geschrieben, kurz nachdem er ins Seniorenheim kam.«
»Und das bedeutet?«
Ich hob den Blick und sah Peter entschlossen in die wunderschönen grünen Augen.
»Es bedeutet, dass du recht hattest. Es gibt einen Weg, und Grandpa hat dafür gesorgt, dass ich ihn finde.«
~*~*~*~
Mit einem lauten Knall warf ich die Tür hinter mir ins Schloss und stürmte ohne anzuklopfen in Dads Büro. Der Zorn war auch auf der Fahrt nach Hause nicht weniger geworden und ließ mich immer noch Beben und Frösteln, obwohl ich eigentlich Grund zur Freude hatte. Aber die menschliche Enttäuschung überwog einfach.
»Du wusstest davon, oder?«, herrschte ich meinen Vater an und hielt ihm das handschriftliche Testament unter die Nase, mit dem Grandpa mir Peters Wald und eine nicht unbeträchtliche Summe in Wertpapieren hinterließ. »Danach hast du doch gesucht, als du Grandpas Sachen durchwühlt hast, oder?«
Alle Farbe wich aus Dads Gesicht, als er auf den Zettel starrte und begriff, was ich da in den Händen hielt. Er stritt meinen Vorwurf weder ab, noch bestätigte er ihn, aber der harte Zug um seinen Mund sprach Bände.
»Warum, Dad? Sogar den Notar wolltest du anlügen. Danach hat er gefragt, nicht wahr? Als du mit ihm am Telefon gestritten hast. Er wusste davon und wollte deshalb keinen Erbschein ausstellen. Und du hast behauptet, es würde nicht existieren. Was hättest du getan, wenn du es gefunden hättest? Es vernichtet? Mir mein Erbe vorenthalten? Bloß, um diesen Wald abzuholzen? Warum?«
Abfällig stieß mein Vater den Atem aus und wandte sich von mir ab. »Ach, du hast doch keine Ahnung.«
»Wovon habe ich keine Ahnung? Das hier ist Grandpas letzter Wille. Er vermacht mir einen Teil seines Besitzes und du wolltest das unterschlagen. Dazu hattest du kein Recht. Weißt du, was das bedeutet? Was es Grandpa bedeutet hat?«
»Dein Großvater war ein Narr!«, schrie mein Vater mich an. »Ein seniler, sentimentaler Idiot, der in einer anderen Welt lebte. In der Vergangenheit. Er und seine romantischen Träume von diesem Wald und seiner … Magie. Pah! Also ob ein vernünftiger Mensch an so etwas glauben könnte.«
Ich schüttelte den Kopf, fühlte die Tränen, die mir über die Wangen liefen und schämte mich zum ersten Mal in meinem Leben nicht dafür, sondern war stolz, anders zu sein als mein Vater.
»Ich werde morgen damit zum Notar gehen«, sagte ich mit fester Stimme und war nicht einmal überrascht von dem Abscheu und der Wut, die mir aus Dads Augen entgegensprangen. Meine eigene Wut stand dem in nichts nach. Er würde mich nicht aufhalten. Er wusste, dass er in diesem Punkt verloren hatte.
»Dir ist klar, dass du damit alles ruinieren wirst, was wir aufgebaut haben«, sagte er lediglich. Als gäbe es noch eine Möglichkeit, mich zu überzeugen. Uns wieder miteinander auszusöhnen, wenn ich nur nachgab. Aber da war kein Vertrauen mehr zwischen uns. Nicht auf seiner und schon gar nicht auf meiner Seite.
»Du hast dir das hier aufgebaut, Dad. Ich wollte das nie. Und Grandpa auch nicht. Nicht so. Er hatte andere Ideale. Ich völlig andere Ziele im Leben. Denen werde ich jetzt folgen. Das ist es, was er mir hiermit ermöglicht, wofür ich ihm unendlich dankbar bin.«
»Und was hast du vor?«
Ich holte tief Luft. »Ich werde den Wald bewahren, so wie Grandpa wollte.«
Mehr gab es dazu nicht zu sagen. Mehr musste Dad nicht wissen. Wie ich mein Leben künftig gestaltete, ging ihn nichts mehr an, sobald ich dieses Haus verließ. Ich wusste noch nicht genau, wie ich mir meine Zukunft vorstellte, hatte nur eine vage Vorstellung, aber auf alle Fälle würde ich sie mit Peter verbringen. In unserem Wald. Dad würde es nicht verstehen. Nichts davon. Doch darauf kam es nicht mehr an.
»Du wirst es bereuen«, rief er mir nach, als ich bereits an der Tür war. Kurz blieb ich stehen, kamen die Zweifel noch einmal zurück. Dann aber sah ich Peters Gesicht vor mir, hörte sein Flötenspiel, fühlte die Vision meines Traumes in mir wachsen. Ich wusste ganz genau, was ich wollte und was ich zu tun hatte.
~*~*~*~
Zwei Jahre später
»Junge, Junge, das muss man aber auch erst mal finden hier draußen.«
Der Postbote kratzte sich ratlos am Kopf, während ich den Empfang des Paketes bestätigte.
»Wir bekommen nur selten Pakete«, beruhigte ich ihn. »Die Briefe holen wir im Postfach ab. Und das meiste läuft sowieso per E-Mail.«
»Sie haben hier draußen Internet?«
Ich schmunzelte. »Vieles ist möglich, dank moderner Technik.«
Er wirkte immer noch nicht überzeugt, zuckte aber schließlich mit den Schultern und grinste mich an. »Schön ist es auf alle Fälle. Würde mir auch irgendwie gefallen. Ist so ruhig hier und so friedlich.«
»Oh, ja, das ist es. Kommen Sie doch einfach hin und wieder mal für einen kleinen Spaziergang hierher. Sie werden sich wundern, wie gut das tut. Vor allem, wenn Sie Ihr Handy zu Hause lassen und für ein paar Stunden ganz und gar bei sich selbst sind.«
Im ersten Moment runzelte er verständnislos die Stirn, doch dann nickte er. »Klingt gut. Ich glaub, das mach ich mal.«
Damit stieg er wieder in seinen gelben Kastenwagen und fuhr davon. Gut, dass es die letzten drei Wochen nicht geregnet hatte, sonst wäre er womöglich irgendwo auf dem Waldweg steckengeblieben. Das war unser nächstes Projekt, was wir angehen wollten: Die Befestigung der Zufahrt zu unserer kleinen Hütte. Wobei Peter noch immer damit haderte, denn ihm war es lieber, wenn die Autos unten auf dem Parkplatz neben der Straßen geparkt wurden.
»Na, ist es endlich so weit?«, fragte er, als ich unsere gemütliche Wohnküche betrat und das Paket auf dem Tisch abstellte. Unser kleines Zuhause bestand genau genommen nur aus zwei Räumen und einem Bad. Unten Wohnen und Kochen, oben Schlafen und Arbeiten. Peter liebte es, mir vom Bett aus dabei zuzusehen, wie ich in meine Geschichten abtauchte und stundenlang in die Tasten meines Laptops hämmerte. Für mich war sein Anblick hingegen immer eine Inspiration. Und manchmal auch eine willkommene Ablenkung.
Meine Mom hatte uns ein paar Mal hier besucht. Sie mochte Peter, hatte aber natürlich keine Ahnung davon, was er war. Der Kontakt zu Dad hingegen war tot. Wir hatten kein Wort mehr miteinander gesprochen. Inzwischen hatte ich mich damit abgefunden. Es war besser so.
»Ich glaube, die Stunde der Wahrheit ist gekommen. Mein Gott, das Herz klopft mir bis zum Hals. Ich trau mich kaum, es aufzumachen.«
Lächelnd stellte er sich hinter mich, schlang die Arme um meine Taille und drückte einen Kuss in meinen Nacken, ehe er sein Kinn auf meiner Schulter ablegte. »Mach es auf. Ich weiß, es ist perfekt.«
Mit zitternden Fingern schnitt ich das Paketband auf, klappte den Deckel auseinander und holte das erste Exemplar meines Debütromans hervor. Schon das Cover war atemberaubend. Kein Wunder, zeigte es doch den Mann, den ich liebte, in seinem ureigensten Element. Bei Feuerschein zwischen uralten Bäumen.
»Das Lied des Waldes«, raunte er mir ins Ohr. »Ich liebe es jetzt schon. Und den Lesern da draußen wird es genauso gehen.«
»Wenn du das sagst.« Noch war ich nicht überzeugt davon, dass diese Geschichte, die mehr Wahrheit enthielt, als die Welt sich vorstellen konnte, tatsächlich in die Bestsellerlisten einsteigen würde. Aber der Verlag war davon überzeugt und Peter war es auch. Da würde es mir wohl auch noch gelingen, meine Zweifel abzulegen. Und vielleicht würden dann auch irgendwann Menschen wie mein Vater begreifen, was wirklich wichtig war im Leben und dass wir alle ein Teil des großen Ganzen waren.