Herzschlag
MO KAST
Nur zufällig fiel mir dieser Typ auf. Er stand am Rande des Moshpits. Mit dem abgetragenen Bandshirt von »The Ocean Collective«, seinen Tattoos, den Piercings und dem Sidecut fügte er sich so gut in die Menge ein, wie ich es mit meinem Vollbart und den schweren Stiefeln tat. Allerdings lag ein konzentrierter Ausdruck in seinem Gesicht, der nicht zu einem Metalkonzert passte. Er sah aus, als würde er einem Opernkonzert lauschen und nicht inmitten einer grölenden Menge betrunkener Metalheads stehen. Ich versuchte, noch herauszufinden, was ihn so faszinierte, bevor ich von einem Ellenbogen an der Schläfe getroffen wurde und ich mich zurück in den Moshpit warf. Wäre ich umgefallen, hätte man mir sicher aufgeholfen. Ich stand aber noch und wollte Spaß! Es sah zwar nicht so aus, jedoch ging es beim Moshen nicht darum, anderen weh zu tun, sondern sich zu fühlen. Wenn jemand an meinem T-Shirt riss, wir zur Musik sprangen, rempelten, Schultern gegeneinander rammten, schrien, waren wir eine Masse, die aus purem Leben bestand. Alles andere war dann egal. Nur noch sein. Die blauen Flecken danach fühlten sich wie Auszeichnungen an!
Trotzdem ging mein Blick immer wieder in die Richtung des Kerls. Mochte er »The Ocean Collective« nicht, oder warum bewegte er sich nicht zur Musik? Es war immerhin ein verdammtes Livekonzert und die waren absolut hardcore! Aber würde er ein Bandshirt von ihnen tragen, wenn er sie nicht mochte? War er allein hier? Ich konnte niemanden entdecken, der bei ihm stand. Ich ging nie allein auf Konzerte, ich hatte immer meine Kumpels dabei. Dieses Mal war ich der Fahrer. Was okay war, ich trank eh keinen Alkohol und die Stimmung berauschte mich normal genug. Warum nur konnte ich mich jetzt nicht einfach auf das Konzert konzentrieren?
Sein Gesicht gefiel mir, stellte ich fest. Ich zwang mich, wieder von ihm wegzusehen.
Es ging nicht lange gut. Als mein Blick zu ihm zurückwanderte, bemerkte ich nicht den Kerl, der sich mit voller Wucht gegen mich warf und mir die Luft aus der Lunge trieb. Etwas knackste. Fuck, tat das weh! Ich ächzte gequält und sackte ein Stück zusammen. Sofort packte mich Eugen unter dem Arm, zog mich wieder hoch. Fragend und leicht besorgt sah er mich an. Ich klopfte ihm auf die Schulter. Das war unser Zeichen, wenn man kurz eine Pause wollte. Es würde wohl eher eine lange Pause für mich werden. Der Schmerz ließ zwar wieder nach, während ich mich zum Rand der Menge kämpfte, aber auf noch einen Treffer hatte ich keine Lust.
Ob es Zufall war, dass ich nun direkt neben dem Kerl mit dem hübschen Gesicht stand? Nein. Definitiv nicht. Trotzdem zögerte ich einen Moment, ihn anzusprechen. Aber wir waren hier auf einem Konzert. Vielleicht lag es an der Stimmung oder die Musik machte mich mutig, jedenfalls beugte ich mich in seine Richtung.
»Bist du alleine hier?«, brüllte ich in sein Ohr. Es kam allerdings keine Reaktion. Hatte er mich nicht gehört? Die Band war schon ziemlich laut. Kurz überlegte ich, ob ich mit meiner Hand vor seinem Gesicht wedeln sollte. Aber das galt vermutlich als schlechte Flirt-Netiquette. Nicht, dass ich viel Erfahrung damit hätte. So richtig geoutet war ich nämlich nicht. Eugen wusste Bescheid. Ich hatte es ihm im Vollsuff erzählt und im Anschluss versucht, ihn zu küssen. Seitdem rührte ich keinen Alk mehr an und Eugen ... Der hatte jetzt eine Freundin und wir sprachen nicht mehr darüber. Für ein Outing bei Andy und Petros hatte mein Mut danach nicht mehr gereicht. Es war ja auch nicht so wichtig. Bisher hatte ich keinen Typ, der mir gefiel und der mich mochte und warum sich unnötig Stress machen?
Erst jetzt entdeckte ich bei dem Kerl einen dünnen, silbernen Ring im rechten Nasenflügel. Das Schmuckstück sah irgendwie feminin aus? Er war so fein. Ich runzelte die Stirn. Gab es unter Schwulen nicht ein Erkennungszeichen mit Piercings? Ich dachte, ich hätte bei meiner Recherche mal gelesen, dass sie Ohrpiercings auf der rechten Seite trugen. Das tat er auch. Genau genommen hatte er auf der Seite einen Tunnel und mehrere Ringe. Ich beugte mich etwas hinter ihn, um zu sehen, wie sein anderes Ohr aussah. Vielleicht mochte er einfach Piercings. Was ich verstehen konnte, sie standen ihm gut. Ich selbst hatte mal überlegt, mir ein Septum stechen zu lassen, aber als Eugen meinte, damit sähe man aus wie ein Rindvieh, hatte ich es gelassen. Links trug der Typ ein Industrial und ebenso mehrere Ringe, stellte ich fest. Ich hatte auch mal gegoogelt, ob es in der Metalszene Erkennungsmerkmale für Schwule gab. Keine Ahnung, was ich mir dabei gedacht hatte. Das Ergebnis war ernüchternd gewesen: Es gab natürlich auch in unserer Szene queere Menschen, aber die meisten gingen wohl nicht sehr offen damit um. Da könnte man mich wahrscheinlich als Beweisstück A anführen.
»Bist du alleine hier?«, versuchte es trotzdem noch mal, lehnte mich diesmal näher zu ihm.
Er zuckte erschrocken zusammen und sah mit gerunzelter Stirn zu mir, als hätte er mich jetzt erst bemerkt.
»Meinst du mich?«, schrie er zurück, deutete auf sich. Ich nickte. Er blickte mich noch immer irritiert an.
»Magst du die Band?«, fragte ich in Ermangelung jeglicher Flirtexpertise.
Er zog eine Augenbraue hoch, deutete an sich herab. Stimmt, das T-Shirt. Ich Vollidiot. Ohne es zu wollen, fuhr ich mir mit meiner Hand übers Gesicht. Vielleicht sollte ich doch wieder mit Alkohol anfangen.
»Tut es weh?«, kam jetzt von ihm.
Ich ließ die Hand sinken. Was meinte er? War das ein komischer Anmachspruch wie »Tat es weh, als du vom Himmel gefallen bist«? Ich hätte nichts dagegen, aber ehrlich gesagt, machte er nicht den Eindruck, als ob er mit mir flirten würde.
»Was?«, rief ich zurück.
Er deutete auf seinen Rippenbogen. Ach, das meinte er.
»Oh, das hast du gesehen?« Ich hätte nicht erwartet, dass man in einem Moshpit viel erkennen konnte. Ob er mich beobachtet hatte? Allein bei dem Gedanken stellten sich meine Nackenhaare auf. Im positiven Sinne.
Er zuckte mit den Schultern und nickte so halb. Sehr aufschlussreich. Also gar nicht. Ich setzte dazu an, wieder etwas zu sagen. Allerdings begann gerade das Schlagzeugsolo von Paul Seidel und der war nicht ohne Grund einer der besten deutschen Drummer. Zumindest sagte das Eugen. Ich selbst kannte mich mit Schlagzeug nicht aus. Ich hörte nur gerne Musik. Der Typ wandte sich wieder ganz der Bühne zu und hatte diesen konzentrierten Ausdruck im Gesicht. Ich folgte seinem Blick. Von hier sah man überraschend gut auf die Bühne. Was am Moshpit lag. Dadurch das er ständig in Bewegung war, konnte man gut zwischen den Menschen vorbeisehen.
Als ich wieder zu ihm schaute, entdeckte ich nun ein zufriedenes Lächeln. Stand er etwa auf Schlagzeugsolos? Welcher Mensch konnte sich dafür begeistern? Sein Lächeln war aber ein hübscher Anblick. Ich merkte, wie sich bei mir automatisch die Mundwinkel hochzogen.
»Wie heißt du?«, rief er mir unvermittelt zu. Seine Augen waren jedoch immer noch nach vorne gerichtet.
»Birdo!«, antwortete ich, so laut ich konnte. Eigentlich hieß ich Simon, aber so nannte mich seit Jahren keiner mehr.
»Horse the band?« Jetzt schaute er mich doch an. Ich spürte, wie ich unter seinem Blick rot wurde. Hoffentlich verdeckte mein Bart das!
»Du kennst sie?« Ich war überrascht. Die Nintendocore-Band war eigentlich nie jemandem ein Begriff. Eugen hatte aber mal gemeint, ich würde aussehen, wie der Kerl aus dem Birdo-Video und seitdem hieß ich so.
»Leider«, sagte er mit einem Lachen. »Ich bin übrigens Lukas.«
»Freut mich!«, antwortete ich aus Reflex. Es gab aber kein Händeschütteln. Wäre auch komisch gewesen, so mitten auf einem Konzert.
»Hast du Signal?«, fragte er weiter.
Ich nickte und merkte, wie mein Herz dabei höherschlug. Wollte er etwa meine Nummer haben? So wie »Eine Nummer, um in Kontakt zu bleiben«? In Kontakt mit mir. Weil ... weil ... Mir fiel ehrlich gesagt kein Grund ein, warum er meine Nummer haben wollte. Ich würde sie ihm trotzdem geben! Aber so was von! Ich zog hastig das Smartphone aus der Hosentasche und schmiss es dabei fast auf den Boden, so nervös war ich. Mich hatte noch nie jemand nach meiner Nummer gefragt. Kein Mädchen und schon gar kein gutaussehender Kerl auf einem Metalkonzert.
Er nahm mir das Handy ab und ich hätte schwören können, dass sich dabei unsere Fingerspitzen berührten. Unsere Fingerspitzen! Seine Fingerspitzen auf meinen! Körperkontakt! Der Moshpit fühlte sich im Vergleich wie eine sanfte Brise an. Er tippte seine Nummer ein. Und ganz eventuell forcierte ich noch ein bisschen mehr Körperkontakt, als ich ihm das Smartphone wieder abnahm. Jetzt hatte mein kleiner Finger sicher seinen gestreift! Ich hoffe nur, dass ich ihn nicht so dümmlich angrinste, wie es sich im Moment anfühlte.
Er wackelte mit der Gestik für Handy vor seinem Ohr herum. Ich sollte anrufen. Und wie ich das würde! Ich starrte den Kontakt an: Lukas Helwig. Dann drückte ich auf das Telefonsymbol. Er zog sein Smartphone heraus, tippte kurz darauf herum und hielt mir das Display hin. Er hatte mich als »Birdo Ocean« eingespeichert. Das klang ziemlich extravagant. Möglicherweise grinste ich nun noch bescheuerter.
~*~*~*~
»Ich ... uhm ... trinke nicht«, erklärte ich schließlich. Lukas hatte mich gleich am nächsten Morgen nach dem Konzert gefragt, ob wir uns abends im ›Subculture‹ treffen wollten. Ohne darüber nachzudenken, hatte ich ihm zugesagt. Und jetzt saßen wir hier: in einer verrauchten Bar an einem kleinen, runden Tisch in die hinterste Ecke gedrängt. Der Laden war bis zum Brechen gefüllt und machte mit den Gästen seinem Namen alle Ehre. Hier gab es gefühlt alles an Leuten: Punks, Rocker, Hipster, mich ... Ich war mir immer noch nicht sicher, wo ich Lukas einordnen sollte.
»Straight Edge?«, fragte Lukas nun, musterte mich dabei von oben bis unten, als würde er etwas suchen. Ich wusste allerdings nicht was, und was er von einer ehrlichen Antwort hielt. Meistens machten sich die Leute darüber lustig, dass ich nicht trank.
Deshalb wackelte ich nur etwas vage mit dem Kopf. »Sozusagen«
»Sehr cool, ich auch.« Er hielt mir seinen Handrücken entgegen. Ein schwarzes X war darauf zu sehen. Neben seinen ganzen Tattoos war es mir tatsächlich nicht aufgefallen. Ob die anderen Tätowierungen auch ›versteckte‹ Hinweise waren? Ich erwischte mich dabei, wie ich seine Arme absuchte. Sie waren leider die einzigen Stellen, die nicht mit Stoff bedeckt waren. Wer allerdings so tätowierte Arme hatte, hatte sicher noch mehr unter seinen Klamotten. Ich konnte ihn nur schlecht danach fragen, ob er sich für mich auszog, damit ich seinen Körper nach schwulen Symbolen absuchen konnte. Das wäre ... Nein, das ging einfach nicht. Die Arme mussten reichen. Auf dem linken Oberarm war eine Krake zu sehen, die ihre Tentakel um seinen Arm schlang. Es erinnerte an die japanischen Yakuza-Tätowierungen und sah ziemlich edel aus. Die anderen Tattoos waren alle abstrakter. Irgendwelche Noten und musikalischen Symbole. Vielleicht spielte er ein Instrument? Es gab auch Kreise und Linien, die sich zu geometrischen Formen verbanden und zum Teil mit einem Aquarelleffekt unterlegt waren. Sie könnten so etwas wie Sternzeichen sein, damit kannte ich mich aber nicht aus. Eine Verbindung bildete auf jeden Fall ein Dreieck. Als er sich die längeren Haare des Sidecuts nach hinten strich, entdeckte ich ein Lambda am Handgelenk. Wie seltsam. Warum ließ sich jemand ein griechisches L tätowieren? Ich kannte das Symbol nur aus meinen Mathevorlesungen. Was es allerdings nicht gab, waren irgendwelche Worte oder Zahlen. Wirklich nur Symbole. Was hatte ich mir auch erhofft? Ein ›I am gay as fuck‹-Schriftzug?
»Gefallen dir die Tattoos?«, fragte er plötzlich.
Ich schreckte zusammen, fühlte mich ertappt. »Äh ja, sehen gut aus.« Jetzt wäre eine klasse Gelegenheit nach möglichen Bedeutungen zu fragen. Allein bei dem Gedanken bekam ich allerdings Herzrasen und schweißnasse Hände.
»Hast du auch welche?« Sein Blick ging wieder über mich, suchte meine Haut ab. Ich schüttelte jedoch nur den Kopf.
»Nee, keine Tattoos, keine Piercings. Ich bin ein weißes Blatt Papier.« So langweilig wie eben nur möglich. Das Spannendste an mir war vermutlich mein Musikgeschmack, der ... na ja, viel mit meinen Freunden zu tun hatte.
»Oder du trägst deine Geheimnisse lieber nicht offen zur Schau.« Bei dem Satz sah er mich direkt an. Wusste er es? Kannte er mein Geheimnis? Aber woher? Ich gab mir große Mühe, dass man mir nicht meine ... Präferenzen ansah.
Ich wollte mich nicht erklären müssen oder dass meine Freunde mich anders behandelten oder nichts mehr mit mir zu tun haben wollten. Ein Geheimnis zu haben, fühlte sich eben leichter an, als alles auf links zu drehen. Vor allem, wenn man nichts hatte, wofür es sich lohnen würde. Schließlich brach ich den Blickkontakt mit Lukas ab, räusperte mich.
»Vielleicht.« Ich rieb mir kurz die Schulter, in der Hoffnung, dass sich die Spannung damit etwas löste, die ich schon die ganze Zeit spürte, seit ich mit Lukas hier in der Bar saß.
Er lachte leise, schüttelte kurz den Kopf. Amüsierte er sich über mich? Es wirkte eigentlich nicht so. Seine Augen strahlten nach wie vor Freundlichkeit aus und nur ein bisschen Belustigung.
»Welche Geheimnisse ... uhm ...« Ich unterbrach mich wieder. Was zur Hölle hatte ich hier gerade vorgehabt? Ich konnte ihn doch nicht so offensiv danach fragen. Etwas frustriert von mir selbst, schloss ich die Augen. Eigentlich hatte ich bei unserem Treffen cool und souverän wirken wollen. Wie jemand, mit dem man eine gute Zeit haben konnte, so platonisch gesehen. Ich dachte immer, ich konnte das gut. Meine Kumpels verbrachten immerhin gern Zeit mit mir. Wir kannten uns alle allerdings schon aus der Schulzeit. Eventuell hatten sie sich auch einfach nur an mich gewöhnt ...
»Das hier zum Beispiel.« Lukas deutete wieder auf das X auf seinem Handrücken. »Es erinnert mich daran, nie wieder Alkohol oder so was anzurühren. Ich hätte mich im Suff, und vielleicht etwas bekifft, beinahe mal umgebracht.«
»Okay?« Das warf viel mehr Fragen auf, als es beantwortete. War er suizidgefährdet? Hatte er betrunken einen krassen Unfall gehabt? Ich mochte, ehrlich gesagt, keine Leute, die sich unter Alkoholeinfluss hinters Steuer setzen. Egal, wie viel man gesoffen hatte, das sollte man immer richtig einschätzen können.
Ich sah, wie er sein Gesicht verzog, als hätte er etwas Dummes gesagt.
»Okay, das kam komisch rüber. Es ist weniger dramatisch, als du denkst. Aber ich dachte als Teenager mal, im Februar betrunken in einen kalten See zu springen, um dort eine Runde zu schwimmen, wäre voll die geile Idee. Zum Glück hat mich ein Kumpel rauszogen und gleich nach Hause gebracht. Ich weiß gar nicht ... Es war einfach nur bescheuert gewesen. Mir, und auch meinem Kumpel, hätte sonst was passieren können und ... Ich will das nie wieder.« Er rieb sich über das Tattoo. »Und bei dir?«
»Was?«, fragte ich etwas tonlos. Ich war noch dabei, das Gesagte zu verarbeiten.
»Warum bist du Straight Edge?« Sein Blick war so offen, dass ich kurz mit dem Gedanken spielte, ihm die Wahrheit zu sagen.
»Ich will lieber nicht darüber reden«, war trotzdem meine Antwort. Der Kuss mit Eugen wäre ein Geheimnis, das ich mit ins Grab nehmen würde.
»Fair enough.« Er setzte gerade dazu an, noch etwas zu sagen, als plötzlich ein Mädel an unseren Tisch herantrat. Sie hatte pinke Haare, war riesig und ihr Outfit zeigte viel tätowierte Haut.
»Skywalker, Gröninger hat Dünnpfiff. Kannst du für ihn einspringen?«, fragte sie mit einer überraschend dunklen Stimme.
»Jetzt? Ich ...« Er nickte in meine Richtung. Unter dem Blick des Mädchens wurde ich klein. Sie sah mich unendlich genervt an.
»Bitte, ich weiß nicht, wen ich sonst fragen soll. Sonst kennt niemand das Set«, wandte sie sich wieder an Lukas, der die Lippen zusammenpresste. Er schien mit sich zu hadern.
»Es ist schon okay, wenn es so dringend ist«, versuchte ich das einzige Richtige zu sagen. Ich hatte allerdings keine Ahnung, wofür Lukas einspringen sollte und hätte eigentlich nichts dagegen gehabt, mich noch länger mit ihm zu unterhalten – mehr von seinen Geheimnissen zu erfahren. Ich würde heute Nacht sicher einige Zeit totschlagen, um nach den unterschiedlichen Bedeutungen von Tätowierungen zu googeln. Aber ich wollte nicht bedürftig und aufdringlich wirken.
»Vielleicht gefällt es ihm ja«, sagte das Mädchen noch, wackelte dabei mit den Augenbrauen.
»Ich komm nicht für das ganze Set und du schuldest mir was!« Er hob mahnend den Finger, aber das breite Grinsen der jungen Frau machte klar, dass sie nur das Ja hörte und ihr der Rest egal war.
»Äh, es tut mir echt leid, aber vielleicht ... Also du magst ja Konzerte und wir machen nur eine Stunde, mehr kann Lea nicht von mir verlangen.« Lukas deutete in Richtung der kleinen Bühne, auf der bereits eine Gitarristin und ein Bassist standen und erwartungsvoll in unsere Richtung starrten.
Er machte also wirklich Musik! Zumindest dieses Geheimnis hatte ich aus seinen Tätowierungen gelesen. Ich wusste nur nicht welches Instrument. Dafür kannte ich mich mit Musik zu schlecht aus – ich hörte sie nämlich nur, war sonst aber so musikalisch wie ein Stein. Nicht mal tanzen konnte ich wirklich. Musste man bei Metal zum Glück auch nicht.
Bevor ich noch etwas sagen konnte, wurde Lukas bereits von der jungen Frau am Arm gepackt und auf die Bühne geschleift. Er winkte noch kurz in meine Richtung. Gebannt beobachtete ich, wie er sich hinters Schlagzeug setzte.
Damit hätte ich nicht gerechnet. Er sah mit seiner schlanken Statur gar nicht nach Drummer aus. Ich hätte bei ihm auf Gitarre oder Keyboard getippt, vielleicht sogar Sänger – wobei seine Stimme wahrscheinlich nicht tief genug war. Aber Schlagzeug? Dafür wirkte er eigentlich viel zu ... ruhig.
Lukas schob und schraubte noch ein bisschen an dem Schlagzeug herum, nickte dann aber der Pinkhaarigen zu, die am Mikro stand. Ich hätte erwartet, dass sie jetzt noch so etwas wie einen Soundcheck machen würden, stattdessen grölte die junge Frau: »Wir sind P-R-O-G«. Lukas zählte an, indem er seine Sticks gegeneinander schlug und dann ...
Ich hätte es gern beschrieben, aber ich konnte nicht. Mein Hirn wollte nicht so richtig verstehen, was es da hörte und schon gar nicht, dass es von den Leuten auf der Bühne kam. Nichts passte zusammen. Lea klang wie ein bärtiger Typ in seinen Vierzigern, der zu viel geraucht hatte. Die Gitarristin mied jeden Blickkontakt mit der Menge. Der Bassist ... war normal, vermutlich. Aber Lukas ... Er war definitiv das Epizentrum der Musik. Sein Blick war jedoch konzentriert – ähnlich wie auf dem Konzert gestern. Keine rauen Emotionen, wie man es so häufig bei Schlagzeugern sah, die wie irre auf das Instrument einschlugen. Auch das tat er nicht, seine Bewegungen waren nicht ausufernd und wild, sondern pure Präzession und Kontrolle. Trotzdem war die Musik, die er spielte, so schnell, energiegeladen und zu schwer zu fassen. Es war ... Ich war ... überwältigt. Ohne darüber nachzudenken, stand ich von meinem Platz auf und gesellte mich zu der Menge auf der Tanzfläche vor der Bühne. Ich wollte so nah dran sein wie möglich. Bisher hatte ich Schlagzeugern nie viel Beachtung geschenkt, aber wow. Er sah so wunderschön aus, während er Krach wie ein Biest machte.
Und ja, wüsste ich nicht schon lange, dass ich schwul war, hätte ich spätestens jetzt eine Epiphanie. Nur doof, dass ich keine Ahnung hatte, wie ich damit umgehen sollte. Schwule in Filmen und Serien waren immer alle so ... anders als ich. Die mochten Popmusik und Musicals, waren gut gekleidet, schön frisiert und hatten einen Gaydar, sodass sie immer wussten, wen sie anbaggern durften. Die küssten nicht betrunken ihren besten Freund, der absolut hetero war, oder umgaben sich mit Leuten, bei denen man sich nicht sicher war, ob man sich outen durfte. Allein bei dem Gedanken an ein Outing wurde mir der Hals eng.
Trotzdem musste ich Lukas weiterhin anstarren. Ich dachte daran, wie mir Eugen einmal erklärt hatte, dass das Schlagzeug der Herzschlag einer Band war. Und es war nicht zu leugnen: Lukas brachte mein Herz mühelos zum Schlagen. Plötzlich traf mich sein Blick über das Instrument hinweg – und gleichzeitig ein Ellenbogen in die Rippe.
~*~*~*~
Ich spürte ein Rumpeln unter mir und nur mühsam schaffte ich es, meine Augen zu öffnen. Grelles Licht blendete mich und gequält drehte ich den Kopf zur Seite. Ich spürte einen dumpfen Schmerz im Brustbereich, konnte ihn aber nicht zuordnen. Genauso wenig, wie das warme Gewicht auf meiner Hand. Oder wo ich war und warum sich alles zu bewegen schien.
»Er ist wach«, hörte ich Lukas’ Stimme. Nicht aufgeregt, aber trotzdem irgendwie besorgt. Jemand beugte sich über mich und leuchtete in meine Augen. Ein Sanitäter. Ich war in einem Krankenwagen. Und das Warme war Lukas’ Hand auf meiner. Was zur Hölle war passiert?
»Du bist einfach umgekippt«, erklärte mir Lukas freundlicherweise.
»Meine Rippe«, brachte ich noch hervor, deutete auf die entsprechende Stelle.
»Oh, shit, von gestern noch?«
»Denke schon.«
Während ich den Sanitätern den Fall des vergangenen Tages schilderte, behielt Lukas weiterhin seine Hand auf meiner und streichelte sanft mit dem Daumen über den Handrücken. Im Erste-Hilfe-Kurs wurde das empfohlen, um den Verletzten zu beruhigen. Mich machte es ehrlich gesagt nervös, wie sehr ich die Berührung genoss. Ich starrte deshalb verbissen auf das X darauf, ließ aber meinen Blick irgendwann nach oben wandern. Ein paar Kreise und Linien ergaben nun mehr Sinn, jetzt wo ich wusste, dass er Schlagzeuger war. Sie bildeten nämlich ein Schlagzeug. Ein sehr abstraktes.
»Hätte nicht gedacht, dass du Drummer bist«, sagte ich schließlich gedankenverloren.
»Hat dich offensichtlich aus den Latschen gehaut.« Er grinste, es sah aber ein wenig verunglückt aus.
»Offensichtlich.« Ich erwiderte das Grinsen und fühlte mich irgendwie ... gut. Ob ich wohl irgendwelche Schmerzmittel bekommen hatte, als ich bewusstlos war? Oder war es Lukas’ Anwesenheit?
~*~*~*~
Mein Aufenthalt in der Notaufnahme war bereits eine Woche her, seitdem hatten Lukas und ich uns hauptsächlich geschrieben. Heute hatte er allerdings gefragt, ob ich nicht Lust hatte, ihn einmal in seiner Wohnung zu besuchen. Ohne darüber nachzudenken, hatte ich ihm wieder zugesagt. Wie hätte ich auch Nein zu ihm sagen können?
»Ist das dein Proberaum?«, fragte ich, während ich mich in dem Kellerraum umsah. Die Wände waren mit grünen, genoppten Schaumstoffmatten gedämmt. Ein Schlagzeug stand in einer Ecke und nahm gefühlt den halben Raum ein. Auf den restlichen Platz quetschten sich eine kleine Kochnische, ein Bett und eine Kommode. Es war ziemlich aufgeräumt, aber irgendwie auch karg.
»Und meine Küche, mein Schlafzimmer und mein Lebensmittelpunkt, ja.« Lukas breitete seinen Arm aus, grinste schief dabei. Dabei bemerkte ich wieder das Lambda an seinem Handgelenk. Ich hatte mittlerweile nach der Bedeutung gegoogelt. Mir wurde der Mund trocken, wenn ich daran dachte. Deshalb ließ ich wieder meinen Blick durch den Raum schweifen.
»So hätte ich mir deine Wohnung nicht vorgestellt«, gestand ich. Ich hätte damit gerechnet, dass sie so geschmückt war wie seine Haut und sein Gesicht. Voller Charakter, schick, extravagant. Das einzige Highlight war wirklich das Schlagzeug.
»Was anderes kann ich mir als Student nicht leisten. Und mit dem Schlagzeug habe ich keine WG gefunden.« Er zuckte mit den Schultern. »Ist denen immer zu laut.«
»Dir ist das echt wichtig, oder?« Was ich bewundernswert fand. Spontan wäre mir nichts in meinem Leben eingefallen, für das ich große Kompromisse eingegangen wäre. Es war aber nie wirklich nötig gewesen. Ich lebte noch zu Hause, weil mein Elternhaus nicht weit von der Uni entfernt war, und studierte Biochemie, weil ich das schon an der Schule ganz interessant gefunden hatte. Richtige Hobbys hatte ich nicht, außer man zählte Konzert- und Festivalbesuche dazu.
»Schon ja. Ich will irgendwann davon leben können.« Bei den Worten ging sein Blick zu dem Instrument. Ein sanftes Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. »Aber bis dahin studiere ich Informatik.« Er zwinkerte mir zu und setzte sich schließlich auf sein Bett. Es war die einzige Sitzgelegenheit. Unbehaglich blieb ich stehen. Neben einem Typen auf einem Bett sitzen, war ... zu viel. Zumindest, wenn ich es nicht schaffte, meine Augen von ihm zu lassen. Und wenn ich ständig daran denken musste, was Google zur Lambda-Tätowierung ausgespuckt hatte.
»Willst du dich nicht setzen?« Sein Fuß tippte bei der Frage in einem steten, aber schnellen Rhythmus. War er nervös oder war das ein Schlagzeugerding? Auf jeden Fall hätte dieses Tippen auch mein Herzschlag sein können. Ich fühlte mich, als würde in meiner Brust ein einziges langes, nicht enden wollendes Schlagzeugsolo stattfinden. Unwillkürlich sah ich wieder zu seinem tätowierten Arm.
»Willst du noch mehr zu meinen Tattoos wissen?« Er lächelte sanft bei dem Satz. Ich nickte, brachte aber kein Wort heraus. Als hätte ich es geahnt, drehte er nun den Arm so, dass man das Lambda wieder sehen konnte. Er zeigte direkt darauf.
»Das ist eine Sache, die wir teilen«, sagte er, während er mir direkt in die Augen sah. Mir wurde schwindelig. Wie ...
»Du weißt davon?«, würgte ich hervor.
»Nun ... du hast dir die Rippe gebrochen, weil du so abgelenkt von mir warst. Und bist bei einem Konzert von mir ohnmächtig geworden.« Er presste die Lippen zusammen, zog die Augenbrauen bezeichnend hoch.
»Die Rippe ist nur angeknackst«, verteidigte ich mich.
»Ich habe aber trotzdem recht, oder?« Er ließ den Arm wieder sinken, fuhr wie beiläufig über die Tätowierung.
»Sag es niemandem, okay? Ich ... es weiß niemand und ...« Wie sollte ich mich erklären, ohne total armselig zu klingen? Wenn er ebenso schwul war und auch noch ein Zeichen auf der Haut trug, das genau das sagte ... was musste er dann von mir halten? Oder verstand er meine Heimlichtuerei? Er bewegte sich ja offensichtlich in ähnlichen Kreisen wie ich. Er mochte außerdem keine Popmusik und stand auf Piercings, Tattoos und Metal.
»Du, jeder wie er mag. Ich zwing dich sicher nicht zu einem Outing. Ich wollte dir nur sagen, dass du nicht allein bist.« Sein Fuß tippte immer noch auf den Boden. Eigentlich sollte es mich nervös machen, aber es fühlte sich mehr an, als würde er mich dadurch im Takt halten.
»Kennst du viele ...« Ich traute mich das Wort kaum auszusprechen, überwand mich schließlich doch: »Schwule Metaler?«
»Oh, klar. Ein paar auf jeden Fall. Du nicht?«
Ich schüttelte den Kopf. »Wikipedia meint, es ... ist eher selten, weil unsere Szene so ... maskulin ist.« Ich wollte nicht homophob sagen. Aber auf Wikipedia stand ziemlich deutlich homophob – und sexistisch. Kein gutes Genre also, um auf Männer zu stehen. Wobei ich gar nicht sicher war, ob das wirklich stimmte. Homosexualität war bisher einfach nie Thema in meinem Umfeld gewesen – auch, weil ich es nicht zur Sprache bringen wollte.
Jetzt fing er an zu lachen und ich war mir ziemlich sicher, es war auf meine Kosten. »Wikipedia hat nicht bei allem recht. Es hängt natürlich immer von den Kreisen ab, in denen man sich bewegt. Aber erinnerst du dich an die Sängerin von P-R-O-G? Trans. Und im ›Subculture‹ gibt es regelmäßig die ›Whatever floats your boat‹-Party. Und die hat nichts mit Booten zu tun.«
Ich fühlte mich ... verarscht. Nicht von Lukas, aber ein bisschen von den Informationen im Internet, jedoch am meisten von mir. Bei Lukas klang es so leicht, jemand Gleichgesinnten zu finden. Ich hatte aber nicht einmal richtig gesucht, oder? Ein Geheimnis war eben einfacher.
»Ist es schwer?«, fragte ich ihn jetzt. Lukas sah nicht aus, als wäre er ›out and proud‹ und trotzdem hatte er dieses Tattoo und ging auf diese Partys. Er sah allerdings auch nicht aus, als wäre er leidenschaftlicher Schlagzeuger. Dafür wirkte er viel zu ruhig.
Vielleicht lag das Problem bei mir? Womöglich sah ich Dinge viel zu schwarz und weiß, hatte zu klare Vorstellungen, wie etwas zu sein hatte. Eventuell war es mal an der Zeit, unter die Oberfläche zu schauen. Hatte Eugen eigentlich negativ reagiert, als ich ihn geküsst hatte? Gut, er hatte meine Gefühle nicht erwidert – und er hatte mich nie wieder darauf angesprochen. Trotzdem hatte er mich nicht angewidert weggestoßen, mich beschimpft oder fertiggemacht. Auch unsere Freundschaft war nicht daran zerbrochen. So gesehen, hätte es deutlich schlimmer laufen können. Außerdem hatte ich ihm zugegebenermaßen auch keine Chance gegeben, ernsthaft darüber zu reden. Ich hätte eine offene Ablehnung nicht ertragen. Aber was wäre, wenn er mich einfach so akzeptierte?
»Manchmal«, antwortete Lukas etwas verspätet. Seine Stimme war leise, dennoch ehrlich. Er tippte noch immer mit seinen Fuß auf dem Boden. Ich stand weiterhin vor seinem Bett und traute mich nicht, mich zu ihm zu setzen.
»Wann ist es schwer?«, hakte ich nach, da er nichts mehr weiter sagte.
»Wenn man zum Beispiel jemanden mag und man nicht weiß, ob er deine Gefühle erwidert.« Er sah mich direkt an. Sein Tippen konnte nicht mehr mit meinem Herzschlag mithalten. Er raste. Meinte Lukas mich? Konnte es sein, dass er ... Das wäre ... Ich schluckte, um das trockene Gefühl in meinem Hals loszuwerden. Öffnete meine Hände, schloss sie wieder, in der Hoffnung, dass sie sich weniger heiß und schwitzig anfühlen würden. Ich musste etwas sagen, nicht einfach wie ein Vollidiot da stehen und ihn anstarren.
»Gibt es dafür nicht ... äh ... den ... Gaydar?« Ich wurde immer leiser, kam mir schon dumm vor, bevor die Frage ganz ausgesprochen war.
Lukas grinste jetzt. »Hast du davon auch auf Wikipedia gelesen?«
Ich nickte, schüttelte aber sofort darauf den Kopf. »Nein, äh ... Aber wie hast du es bei mir gewusst? Und es war nicht die angeknackste Rippe!«
»Na ja, du hast mit mir ... geflirtet, oder nicht? Du weißt schon, dieses Anstarren und dann ›Bist du alleine hier?‹ und wie du unbedingt meine Hand berühren wolltest. Ich weiß gar nicht, ob mich jemand schonmal so offensiv angebaggert hat.«
»Ich war subtil!«, widersprach ich mit hochrotem Kopf. War das wirklich so ein Desaster gewesen? Ich hatte mich ... Ich fand, ich hatte das sehr ... Okay, so rückblickend betrachtet ...
»Warst du nicht.«
»Nein, war ich nicht.« Jetzt wusste ich allerdings nicht weiter. Immerhin hatte ich gerade zugegeben, dass ich auf Lukas stand. Und Lukas stand prinzipiell ja auch auf Kerle und ich war ein Kerl. Mit Bart und haariger Brust und ohne Sixpack. Standen Schwule auf solche Männer? Waren diese Gedanken schuld, warum ich mich nicht traute, mich zu outen?
»Ich mag dich übrigens auch.« Lukas lächelte mich zurückhaltend an. Er hatte mit dem Tippen aufgehört. Auch mein Herz setzte für einen Moment aus.
»Oh, echt?« Dann spürte ich, wie sich meine Mundwinkel nach oben zogen. Er mag mich auch! Lukas mag mich! Mich! Lukas! Wir beide! Ohne weiter darüber nachzudenken, ließ ich mich neben ihm auf das Bett fallen. Als sich seine Hand auf meine Wange legte, klang mein Herz verdächtig, als würde Lukas Schlagzeug spielen: schnell, energiegeladen und zu schwer zu fassen. Als er mich küsste, war ich völlig verloren in unserem gemeinsamen Rhythmus. Er war mein Herzschlag.