Die Nacht, die alles veränderte
SARA PEARSON
Vier Jahre.
Silvesterabend. Auf den Tag genau war es heute vier Jahre her, dass ein Unfall mein Leben verändert hatte. Seitdem fehlte meinem Sein der Sinn – zumindest in meinen Augen.
Doch ausgerechnet heute zog es mich genau zu dem, wovon ich dachte, man hätte es mir für immer genommen. Denn mich quälte seit einiger Zeit die Frage, ob es stimmte.
Hatte man mir tatsächlich alles weggenommen oder hatte ich einfach nur zu schnell aufgegeben?
Hätte man mir vor dem Vorfall gesagt, dass ich einmal meine Musik aufgeben würde, hätte ich denjenigen ausgelacht und für verrückt erklärt. Aufgeben wäre nie für mich in Frage gekommen. Gerade dann nicht, wenn es um meine Musik ging. Ich schnaubte bei dem Gedanken und schüttelte den Kopf.
Mein Blick glitt zu den zahlreichen Trophäen verschiedenster Wettbewerbe. Ich war so stolz auf mich und meinen Erfolg gewesen, dass ich sogar die Unterschrift meines ersten Konzertvertrages aufgehängt hatte.
Direkt daneben hing ein Zeitungsartikel über mein erstes größeres Konzert.
Avram Leljak – ein Ausnahmetalent und Virtuose!
Seufzend richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf den Flügel. Zärtlich strich ich mit den Fingerspitzen über den Korpus. Kein Staubkorn war darauf zu sehen. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte man meinen können, ich würde ihn noch regelmäßig benutzen.
Dabei wusste ich, dass Nenad den Flügel abstaubte. Er tat es heimlich.
Nachdem ich ihn einmal dabei gesehen und ihn in meiner Verzweiflung und Wut angeschrien hatte, er solle das Ding einfach verbrennen, tat er es zu Zeiten, wenn ich es nicht mitbekam. Wahrscheinlich hatte ich meinem Partner Angst eingejagt, als ich das Zimmer verwüstet und mir die Seele aus dem Leib geschrien hatte.
Es hatte mich innerlich gequält, nie wieder spielen zu können. Nicht so, wie es davor der Fall gewesen war. Wie es nie wieder sein würde.
Doch Nenad weigerte sich, meinem Wunsch nachzukommen. Er hielt an dem Flügel fest und war der Überzeugung, dass ich irgendwann wieder spielen würde.
Meine Mundwinkel zuckten nach oben. Beinahe hätte man es ein Lächeln nennen können. Das erste Mal seit dem Unfall war mir nach Lächeln zumute. Und das nur, weil sich Nenads Vermutung zu bestätigen schien.
Langsam umrundete ich den Flügel.
Lang verdrängte Gedanken des schicksalhaften Abends stahlen sich in meine Erinnerung.
Stimmengewirr drang an meine Ohren und Nenad war die ganze Zeit an meiner Seite. Sein Lächeln strahlte mit seinen Augen um die Wette. Er war so wunderschön. Ob ich ihm das jemals gesagt hatte?
Ich ließ mich auf dem Hocker nieder, schloss die Augen, holte zitternd tief Luft und ließ zu, dass mich weitere Erinnerungen überrollten.
Bis zu dem Zeitpunkt war alles perfekt verlaufen. Ich war gerade dabei, mir einen Namen als Pianist zu machen und Nenad hatte mich immer gefördert und unterstützt, auf mich geachtet, wenn ich es mal wieder vergaß. An besagtem Abend hatte ich ein Silvesterkonzert gegeben und war danach in meiner Euphorie in Feierlaune gewesen.
Alles schien so perfekt.
Bis das Feuerwerk gezündet wurde.
Wäre ich doch nur mit Nenad nach Hause gegangen, wie er mich nach dem Konzert darum gebeten hatte.
Meine Finger waren schwitzig, legten sich jedoch auf die Klaviertasten. Kühl und glatt fühlten sie sich an. So fremd und doch so vertraut.
Schmerzlich wurde mir bewusst, wie sehr ich das Spielen vermisste.
Wann immer ich mich an den Flügel gesetzt hatte, gab es nichts anderes mehr. Die Melodie nahm mich gefangen, sobald der erste Ton erklang, und ließ mich erst nach Verklingen des letzten Tons, langsam wieder in die Gegenwart zurückkehren.
Egal wie beschissen es mir ging, beim Spielen fühlte ich mich immer gut.
Seufzend drückte ich eine Taste und verzog das Gesicht. Seit ich nicht mehr spielte, wurde der Flügel nicht mehr gestimmt. Es klang grausig. Zumindest das, was ich hören konnte. Daraus konnte ich aber niemandem einen Vorwurf machen.
Nur mir selbst.
Ich versuchte, mich nicht auf den schrecklich hohen Ton in meinem Gehörgang zu konzentrieren. Es gab Tage, da ertrug ich es kaum. Das ständige leise Piepen in meinen Ohren würde mich für immer an den Unfall erinnern. Ein Tinnitus als Folge des Knalltraumas, hatten die Ärzte gesagt. Wenn das doch nur mein einziges Problem wäre.
Während ich an dem schicksalhaften Abend ganz vorne dabei war, als das Feuerwerk gezündet wurde, hatte Nenad sich weiter im Hintergrund gehalten.
Ihm war die Aufmerksamkeit, wenn er mit mir irgendwo gesehen wurde, zu viel und ich konnte es verstehen. Nenad mochte die Ruhe und hatte mir gern beim Spielen gelauscht.
Vor allem nachdem wir gerade unsere erste gemeinsame Wohnung bezogen hatten, saß er immer in meinem Musikzimmer, wenn es seine Zeit erlaubte.
Einzig zu diesem Zweck standen in der Ecke gegenüber meines Flügels ein großer Ohrensessel und ein paar Pflanzen.
Mir zuliebe hatte Nenad mich öfter auf Partys begleitet. Er hatte mich nie darum gebeten, seinetwillen zu Hause zu bleiben oder auf etwas zu verzichten.
Hatte ich ihm je genug dafür gedankt?
Betroffen senkte ich den Blick. Tränen sammelten sich in meinen Augen, die ich mühsam herunterschluckte. Mein Gesicht spiegelte sich in dem weißen Klavierlack des Flügels. Selbst hier konnte mein Spiegelbild nicht verstecken, wie tief meine Augenringe geworden waren.
Ich schlief schlecht, ging oft erst spät ins Bett und blieb noch lange dort liegen, obwohl ich schon seit Ewigkeiten wach war.
Depressionen hatte mein Arzt es genannt. Mir war es egal gewesen. Denn was auch immer ich tun würde, es würde mir mein früheres Leben nicht zurückgeben. Nichts würde helfen.
Ein Feuerwerkskörper, der direkt neben meinem Ohr fehlgezündet war, hatte mir nicht nur den Tinnitus beschert, sondern mir einen großen Teil meines Hörvermögens genommen. Dass ich überhaupt noch etwas hören konnte, grenzte an ein Wunder. Jeder hatte sich darüber gefreut, dass nicht mehr passiert war.
Jeder außer mir.
Innerhalb eines Abends hatte man mir meine ganze Zukunft zerstört. Meine Wut auf mich selbst hatte sich irgendwann auf die ganze Welt ausgeweitet.
Aus Trotz hatte ich mich lange Zeit geweigert, die Gebärdensprache zu lernen und hatte Nenad gesagt, dass er es auch lassen sollte. So oft hatte ich ihn angeschrien, den Mist sein zu lassen.
Natürlich hatte er es nicht getan. Eigentlich war er der Stärkere von uns, auch wenn er es immer anders gesehen hatte.
Wusste er überhaupt, was er in den letzten Jahren alles gestemmt hatte?
Ich vergrub das Gesicht in den Händen und holte tief Luft. Es war beschämend, dass ich jetzt erst wieder zur Vernunft kam.
Mittlerweile konnte ich mir denken, dass mein Partner nur so stur geblieben war, um mich zu unterstützen. Aber ich hatte es nicht sehen wollen.
So oft hatten wir uns gestritten, weil ich mich geweigert hatte, irgendeine Form der Hilfe anzunehmen. Doch irgendwann hatte ich mich nicht mehr dagegen wehren können und die Gebärdensprache gelernt.
Mir war klar geworden, dass ich lernen musste, mit meinem Handicap umzugehen, wenn ich in der Welt klarkommen und nicht immer auf andere angewiesen sein wollte.
Trotzdem verließ ich kaum das Haus.
In den letzten Wochen überkamen mich jedoch immer wieder Gedanken daran, was so schlimm daran wäre, noch mal von vorne anzufangen. Ich war kein Idiot. Ich müsste mich nur endlich darauf einlassen, das Klavierspielen noch einmal neu zu entdecken. War es nicht gut, dass ich die Töne leise wahrnehmen konnte? Wieso konnte ich mich nicht an dieser Kleinigkeit erfreuen?
Ein blinkendes Licht zog meine Aufmerksamkeit auf sich und ich hob den Kopf.
Noch so etwas, was Nenad für mich getan hatte: Wenn es klingelte oder die Haustür geöffnet wurde, blinkte eine Lichtleiste an der Wand. Und das in jedem Zimmer, in jeder Blickrichtung.
Ich erhob mich von meinem Hocker und stand dann unschlüssig im Flur herum. Mein Blick richtete sich auf die Bilder. Bilder von Konzerten, aber auch von Nenad und mir aus glücklicheren Zeiten.
Mir wurde das Herz schwer und ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Mit einem Mal wurde mir bewusst, wie sehr mir mein Partner fehlte.
Ich beobachtete Nenad vom Flur aus dabei, wie er Tüten in der Küche auf der Anrichte abstellte und alles wegräumte. Geübte Handgriffe. Wo es wirkte, als würde er einfach hierhergehören, fühlte ich mich fremd in meinem eigenen Haus. Seit dem Unfall hatte ich mich nicht mehr am hiesigen Leben beteiligt.
Kurzerhand entschloss ich mich, zu meinem Partner zu gehen. An Tagen wie heute, die es leider nicht oft gab, fragte ich mich, womit ich ihn überhaupt verdient hatte. So oft hatte ich ihn von mir gestoßen und zum Teufel gejagt. Hatte mich komplett von ihm zurückgezogen, obwohl wir früher über alle Sorgen und Gedanken hatten sprechen können, war ich heute verschlossen.
Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt und mein Puls raste. Ich hatte Angst.
Angst, dass wir uns schon zu weit voneinander entfernt hatten, um jetzt noch aufeinander zugehen zu können.
Angst, dass Nenad nur bei mir geblieben war, weil er sich schuldig fühlte. Und weil er wusste, dass ich sonst niemanden hatte.
Angst, endgültig alles verloren zu haben. Sogar das, was mir vor dem Unfall eben so wichtig wie das Klavierspielen gewesen war.
Nenad.
Als er sich herumdrehte und mich entdeckte, erschrak er sich kurz. Mir war, als würde mein Herz für einige Millisekunden aussetzen, bevor es umso heftiger in meiner Brust schlug. Ein irritierter Blick traf mich und es tat weh, dass ihn meine Anwesenheit überraschte.
Fragend sah ich auf die Tüte in seinen Händen.
»Ich habe uns was vom Takeaway geholt. Heute habe ich absolut keine Lust zu kochen. Du kannst es dir ja später wieder warm machen.«
Die Worte drangen nur verschwommen zu mir durch. Doch wie er es sich in den letzten Jahren angeeignet hatte, sprach er gleichzeitig in Gebärdensprache mit mir.
Ich nickte. Es war Ewigkeiten her, dass wir gemeinsam an einem Tisch gesessen und gegessen hatten.
Doch ich hatte vor, das zu ändern. Es musste sich endlich etwas tun und ich wusste, dass ich den ersten Schritt in diese Richtung wagen musste.
»Ist schon okay, Nene.« Seinen Kosenamen gebärdete ich nicht, sondern sprach ihn nur aus. Die beiden Silben glitten mir erstaunlich leicht über die Zunge. Durch ihre Einfachheit erschien mir ihr Klang vertraut, nicht so verschwommen, wie komplexere Worte oder gar ganze Sätze. »Du musst nicht immer kochen.«
Der Duft von Zwiebeln und Knoblauch stieg mir in die Nase und erinnerte mich daran, dass ich heute kaum etwas zu mir genommen hatte.
»Du ... du hast mich schon ewig nicht mehr Nene genannt. Ist alles in Ordnung?«
»Was?« Irritiert sah ich Nenad an und zog die Augenbrauen zusammen. »Ja, es ist alles gut.«
Wir setzten uns an den Tisch, während mir der köstliche Essensduft in die Nase stieg.
Griechisch.
»Wieso sollte irgendwas sein?«, hakte ich nach, da es mir keine Ruhe ließ, was er gebärdet hatte.
»Ach, egal«, winkte er ab und aß eine seiner Pommes. »Ich hätte nichts sagen sollen.«
Mit einem Mal wurde mir bewusst, wie lange unser Schweigen schon unsere Beziehung belastete und welchen Schaden der Unfall nicht nur bei meinem Gehör verursacht hatte. Wir hatten uns früher sehr viel unterhalten, egal über welches Thema.
Doch was erwartete ich? Dass mir Nenad freudestrahlend um den Hals fiel, weil ich heute gute Laune hatte? Oder mit einem Mal alles wieder war wie früher?
Erneut kroch mir Angst den Nacken hoch, alles zerstört zu haben, was wir einmal gehabt hatten.
Verstohlen betrachtete ich Nenad.
Er sah müde und abgespannt aus. Die Falten um seine Augen wirkten tief und er hatte einige graue Haar bekommen.
War das meine Schuld? Hatte ich ihm zu viel zugemutet? Gab es Probleme, die ihn quälten?
Mit Erschrecken stellte ich fest, dass ich gar keine Ahnung hatte, was im Leben meines Partners los war. Hatte er Stress auf der Arbeit? Was hatte er nach der Arbeit noch gemacht? Es war immerhin schon ziemlich spät.
Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter, als mir der Gedanke kam, Nenad könnte vielleicht jemanden kennengelernt haben. Es jedoch nicht übers Herz bringen, mich zu verlassen?
Ich schob meinen Teller von mir, denn der Appetit war mir vergangen. Mein Kopf wollte nicht aufhören, sich auszumalen, wie Nenad mit einem anderen das Bett teilte. Mit einem anderen über alles sprach, was ihn bewegte oder ihm sein umwerfendes Lächeln schenkte.
Sobald Nenad seine Box geleert hatte, kümmerte ich mich ums Abräumen und erntete einen fragenden Blick von ihm. Doch er sagte nichts, sondern zog sich ins Wohnzimmer zurück, setzte sich auf die Couch und legte die Füße hoch.
Als ich zu ihm stieß, rieb er sich die Stirn und hatte die Augen geschlossen. Er wirkte so unglaublich müde.
»Hast du Kopfschmerzen?«, fragte ich ihn und benutzte das erste Mal seit Langem wieder meine Stimme für einen vollständigen Satz. Es war ein komisches Gefühl und ich spürte das Kratzen im Hals.
Ich ließ mich neben ihm nieder und strich ihm die Haare aus der Stirn. Selbst nach der langen Zeit, in der wir nur nebeneinanderher gelebt hatten, fühlte ich das altbekannte Kribbeln und Flattern in der Magengegend.
Nenad öffnete die Augen und ich konnte nicht aufhören, ihn anzusehen. Das warme Braun seiner Iriden hatte mich schon immer in seinen Bann gezogen. Ich hatte niemals schönere Augen gesehen als Nenads.
Und ich war mir sicher, niemand hatte einen schöneren ersten Kuss als wir. Ich wusste noch genau, wie Nenad sich über die Lippen geleckt und dann die letzten Millimeter überbrückt hatte, um mich zu küssen. Der Moment war perfekt gewesen.
Ich hatte Nenad zu mir eingeladen, um ihm etwas vorzuspielen, und hatte darauf bestanden, dass er sich neben mich setzte. Schon vor sechs Jahren besaß er diese beruhigende Ausstrahlung auf mich. Ich war mir sicher, durch ihn zu einem besseren Pianisten geworden zu sein.
»Ja«, antwortete mir Nenad schließlich und riss mich so aus meinen Gedanken. Ein schwaches Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen, seine Gebärden wirkten schwerfällig. »Aber das ist okay. In den letzten Wochen sind sie mein ständiger Begleiter.«
Er wirkte so ausgelaugt, dass es mir leidtat, ihn zu belagern.
»Nene?«
»Ja, Avram?«
»Können wir reden?«, wollte ich von ihm wissen. Ich würde jetzt keinen Rückzieher machen. Damit war Schluss.
»Natürlich, Beba.«
Beba.
Es hatte einen Moment gedauert, bis mein Kosename richtig von mir verarbeitet werden konnte. Doch sobald mir klar war, wie er mich eben genannt hatte, konnte ich mir ein breites Grinsen nicht verkneifen. Ich hatte es vermisst, so von ihm genannt zu werden.
Mit dem Daumen strich ich über Nenads Kinn. Es machte mich traurig, dass er irgendwann aufgehört hatte, mich bei meinem Kosenamen zu nenne. Und es lag ganz sicher nicht nur daran, dass es keine Gebärde dafür gab. Das Schlimme daran war, dass es mir erst sehr spät aufgefallen war. Vielleicht sogar zu spät.
Aber hatte ich ihm einen Grund gegeben, mich weiterhin so zu bezeichnen?
»Ich will ... nein, ich muss mich bei dir entschuldigen«, begann ich schließlich. Meine Finger zitterten leicht bei den Gebärden.
»Aber wofür denn?« Er hatte sich mir zugewandt, damit er sich mit mir unterhalten konnte. Kleinigkeiten, die wichtig waren und die er immer berücksichtigte.
»Dafür, dass ich so ein schrecklicher Partner war. Nein, lass mich ausreden, bitte«, unterbrach ich ihn, noch bevor er etwas darauf erwidern konnte. Er ließ die Hände wieder sinken und ich schenkte ihm ein dankbares Lächeln.
Ich kannte Nenad. Er würde mir widersprechen, wenn ich ihn ließe. Obwohl wir beide wussten, dass ich recht hatte. Es ehrte ihn, aber wir mussten beide der Wahrheit ins Auge blicken.
»Ich ...« Mir fehlten die Worte, um das Gespräch richtig in Gang zu bringen. Ich atmete tief durch und beschloss, einfach alles zu sagen, was mir auf der Seele lastete. »Ich war heute das erste Mal wieder am Flügel.«
Nenads Augen weiteten sich und zum ersten Mal heute konnte sein Lächeln seine Augen erreichen.
»Wenn ich ehrlich bin, vermisse ich das Spielen, auch wenn ich es in den letzten Jahren nie zugeben konnte, weil der Schmerz einfach zu groß war.«
Ich dachte an das Gefühl der Klaviertasten unter meinen Fingerkuppen, als ich mich vorhin an den Flügel gesetzt hatte.
»Ich dachte, ich hätte alles verloren«, fuhr ich zaghaft fort. »In meinem Leben wollte ich nie mehr sein, als ein bekannter Pianist, und dann auf einmal kam ich mir vor, wie der größte Versager. Ich machte mir Vorwürfe, weil ich unbedingt auf diese Feier hatte gehen wollen. Nichts ergab mehr Sinn.« Entschuldigend sah ich Nenad an. Es durch gebärden deutlich zu machen und zusätzlich ein paar Worte zu krächzen, machte meine Fehler auch nicht ungeschehen. »Dabei habe ich vergessen, dass ich noch etwas habe, für das sich das Kämpfen lohnt.«
Ich legte meine Hand auf Nenads Wange. Seine Augen glänzten feucht. »In meiner Wut und Trauer über den Unfall, habe ich nicht nur mich, sondern auch dich vollkommen aus den Augen verloren.« Es war anstrengend zu sprechen und meine Stimme klang fremd in meinen eigenen Ohren. Doch ich wollte den Kontakt zu Nenad nicht lösen. Tränen lösten sich und rollten über seine Wangen. Mit dem Daumen strich ich sie fort. »Ich weiß nicht, wieso es mir ausgerechnet heute mit so einer Klarheit bewusst wurde, aber vielleicht war es ein Weckruf. Als es mich zum Flügel zog und ich das erste Mal seit vier Jahren daran gesessen und sogar die Tasten berührt habe, war es, als würde sich auf einmal so vieles in den Vordergrund schieben, was ich viel zu lange ignoriert hatte. Ich weiß, du würdest dich nicht beschweren. Nicht, nachdem ich so mit dir umgegangen bin. Ich war unfair zu dir, obwohl du immer nur mein Bestes wolltest.«
Schwer schluckend dachte ich daran, wie oft ich Nenad einfach angeschrien hatte, dass er mich in Ruhe lassen solle und es ihn nichts anginge, was ich jetzt mit meinem Leben anfangen wolle. Dass es ihm egal sein konnte, was ich tat. Wie sehr musste ich ihn mit meinem Verhalten verletzt haben? Wie allein und zurückgewiesen musste er sich gefühlt haben?
»Weißt du, was mir heute ebenfalls bewusstwurde?«
Nenad schüttelte den Kopf. Noch immer hatte er nichts gesagt, aber ich sah ihm an, dass er mit sich kämpfte, nicht hemmungslos zu weinen.
Er legte seine Hand auf meine, die noch immer an seiner Wange ruhte.
»Ich schäme mich, es auszusprechen«, gestand ich und schluckte abermals.
»Sag es mir. Bitte.«
»Ich habe absolut keine Ahnung, was bei dir in den letzten Jahren geschehen ist. Wie läuft die Arbeit? Was bedrückt dich? Gab es Erfolge, die du nicht mit mir teilen konntest, weil ich so egoistisch war, nur an mich und mein Leid zu denken? Oder ...« Das Nächste auszusprechen oder gar zu denken, fiel mir unglaublich schwer. »Oder hast du vielleicht schon jemand anderen kennengelernt und wirst mich verlassen? Wartest du vielleicht nur auf den richtigen Moment, um es mir zu sagen?«
Tränen traten mir in die Augen, liefen mir über die Wangen und es war, als würde mir jemand seine Faust in den Magen bohren. Ich hatte großen Schiss vor der Antwort.
»Beba, ich liebe dich. Egal was in den letzten Jahren war, es hat sich nichts an meinen Gefühlen für dich geändert.« Sanft strich er die Tränen von meinen Wangen. »Aber ich sollte so ehrlich zu dir sein und dir sagen, dass es nicht immer leicht für mich war.«
Für einen kurzen Moment schloss Nenad die Augen, bevor er weitersprach. Leider musste er die Hände von mir lösen, um gleichzeitig gebärden zu können.
»Im ersten Jahr nach dem Unfall wurde ich befördert und bekam eine Gehaltserhöhung. Es lief einfach perfekt im Job und am liebsten hätte ich es dir sofort erzählt. Doch ich kam mir schrecklich dabei vor, dir meinen beruflichen Erfolg unter die Nase zu reiben. Vor allem da ich wusste, dass du entweder sauer werden oder mir gar nicht zuhören würdest.« Ich wusste, dass er recht hatte. »Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, nicht öfter über eine Trennung nachgedacht zu haben«, sprach er das aus, was ich am meisten befürchtet hatte. »Wir haben die letzten Jahre nur nebeneinanderher gelebt. Und ich war mir nicht sicher, ob dir meine Abwesenheit überhaupt aufgefallen wäre.«
Es fiel mir unsagbar schwer, Nenads Bericht zu lauschen – nicht nur akustisch, sondern vor allem emotional. Ich war es ihm schuldig, ihm zuzuhören.
»Natürlich wäre es mir aufgefallen«, antwortete ich ihm und war froh, mit den Händen sprechen zu können. Ich hätte nämlich keinen ordentlichen Ton über die Lippen gebracht.
Nenad zuckte die Schultern. »Vielleicht, wir wissen es nicht. Aber weißt du, was noch mehr schmerzte?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Was, Nene?«
»Der Gedanke, gar nicht mehr bei dir zu sein, war schlimmer als alles, was in den letzten Jahren passiert ist. Ich konnte damit leben, dass wir wenig miteinander sprachen oder keinen Sex mehr hatten. Was mir jedoch sehr fehlte, waren unsere nächtelangen Gespräche. Du hast dich immer weiter zurückgezogen und hast mich ausgesperrt. Es tat scheiße noch mal weh.« Nenad wischte sich die Tränen von den Wangen. »Aber mich zu trennen, brachte ich nicht übers Herz. Mir war klar, dass ich alles mit dir durchstehen würde. Und ganz ehrlich? Irgendwann gewöhnt man sich an alles. Es war irgendwann normal, nach einem langen Arbeitstag nach Hause zu kommen und Essen zu machen. Allein zu essen und früh ins Bett zu gehen, ohne zu wissen, ob du dich in der Nacht neben mich legen würdest oder deine Bettseite kalt bleiben würde.«
Schulterzuckend sah er mich entschuldigend an. Doch es gab nichts, wofür er sich entschuldigen oder schlecht fühlen musste. Wer sich miserabel fühlen sollte, war ich. Und ich tat es. Es war aber gut, endlich über alles zu sprechen.
Hatte er recht? Gewöhnte man sich irgendwann an jeden Umstand, egal wie schlimm er schien?
»Du warst ziemlich überrascht, als ich dir heute Gesellschaft geleistet habe.«
»Na ja, die letzten Jahre habe ich allein am Tisch gesessen, gegessen und auf mein Handy geschaut oder mal etwas gelesen. Wenn wir ehrlich sind, warst du mir wirklich keine große Hilfe, Beba.« Als er alles so aussprach, stieg mir Hitze in die Wangen vor Scham. »Wenn ich zur Arbeit gegangen bin, hast du oft noch geschlafen oder bist gerade erst ins Bett gegangen, und wenn ich heimkam, lagst du immer noch im Bett oder auf dem Sofa. Zwischendurch habe ich mich um meine Mutter gekümmert, nachdem sie gestürzt und auf Hilfe angewiesen war.«
Jetzt verstand ich, weswegen er so erschöpft auf mich wirkte und erst so spät nach Hause gekommen war. Zumindest vermutete ich, dass das der Grund war.
»Und dann ... komme ich heute nach Hause und bin total erledigt von meinem Tag, da stehst du dann einfach da. Nennst mich Nene und setzt dich zu mir auf die Couch. Ich war überrascht und ich hätte nicht damit gerechnet, dass du auch noch mit mir reden würdest. Ich habe Angst, dass ich das gerade nur träume und morgen alles wieder ist wie vorher.« Tränen rannen ihm über die Wangen und ich wurde nicht müde, sie weg zu wischen. Schließlich zog ich ihn an mich und hielt ihn fest, bis er sich wieder beruhigt hatte. Es fühlte sich gut an, ihn im Arm zu halten und so nahe zu sein. Das Parfüm zu riechen, welches ich ihm einmal geschenkt hatte.
Seine Worte berührten mich und gaben mir zu denken. Das ich nicht der beste Partner gewesen war, war mir klar. Aber dass ich so miserabel war und scheinbar auf ganzer Linie versagt hatte, zog mir den Boden unter den Füßen weg.
»Wie geht es deiner Mutter denn?«, wollte ich wissen. Leider musste ich ihn wieder loslassen, damit ich gebärden konnte. Sofort vermisste ich die Nähe zu ihm.
»Wieder gut. Sie wird noch ein wenig Physiotherapie benötigen, bis sie den Arm wieder komplett benutzen kann. So lange werde ich weiterhin für sie den Haushalt schmeißen und einkaufen gehen.« Nenad schniefte und lächelte mich dann an. »Sie fragt immer nach dir und lässt Grüße ausrichten.«
»Aber ... du hast nie was zu mir gesagt.«
Er wirkte etwas hilflos, als er die Schultern langsam hochzog.
»Ich habe Mama immer gesagt, dass du sie zurückgrüßt. Bei allem, was ich zu tun hatte, hatte ich keine Lust ihr irgendwas zu erklären, weil sie sich dann nur Sorgen gemacht hätte.«
»Du hättest mir vor Jahren schon in den Arsch treten sollen. Dass du das überhaupt mitgemacht hast.«
»Vielleicht. Aber nach der Arbeit war ich oft so kaputt, dass ich einfach keine Lust hatte, mich noch mit dir anzulegen.« Er warf mir einen entschuldigenden Blick zu. »Mit dir reden konnte ich nicht, auch wenn ich es gerne getan hätte. Aber ich hatte es ehrlich gesagt schon aufgegeben. Weshalb ich ganz überrascht war, dass du auf mich zugekommen bist.«
»Beinahe hätte ich mich nicht getraut, da ich Angst vor deinen Antworten hatte.«
»Ich weiß«, stimmte er mir zu. »Ich bin sehr dankbar dafür, dass du den Schritt auf mich zugegangen bist.«
»Mach das nicht, Nene.«
»Was?« Irritiert sah er mich an und zog die Augenbrauen nachdenklich zusammen.
»Mich auch noch zum Guten ernennen. Nicht, nachdem ich mich so idiotisch und egoistisch verhalten habe.«
»Was hältst du denn davon, wenn wir versuchen, es ab jetzt besser zu machen?«, schlug Nenad vor und ich nickte.
»Das klingt gut. Aber eine Sache muss ich noch loswerden, Nene.«
»Was, Beba?«
Ein Kloß bildete sich in meinem Hals und verursachte mir große Mühe, die Tränen zurückzuhalten. »Ich bin unglaublich froh und dankbar dafür, dich an meiner Seite zu haben. Vor allem aber bin ich stolz, sagen zu dürfen, dass du mein Partner bist. Danke dafür, Nene. Ich habe zwar mein Gehör zu einem großen Teil verloren, doch ich will dich nicht auch noch verlieren.«
Tränen rannen unaufhörlich über seine Wangen, kaum dass ich ausgesprochen hatte. Fest schloss ich meine Arme um ihn und hielt ihn. Wiegte ihn, während er sich an mich klammerte. Es schien, als wolle er mich nie wieder loslassen.
Ich hoffte, er würde es nie tun.
Wie sehr musste er sich nach solchen Worten gesehnt haben? Wir oft hatte er wachgelegen und gehofft, dass ein Wunder geschehen würde?
Wann war der Punkt gekommen, an dem er die Hoffnung auf Besserung begraben hatte?
»Ich liebe dich.«
Fast gleichzeitig gebärdeten wir die Geste, als wir uns voneinander lösten, und mussten lachen. Es war befreiend.
Mit den Händen umfasste ich Nenads Gesicht, küsste erst seine Nase, dann seine Wangen, bevor ich meine Lippen auf seine legte und sie zärtlich mit meinen verschloss.
Ein Seufzen entkam mir.
Das hatte mir gefehlt. Er hatte mir so sehr gefehlt.
~*~*~*~
Fünf Uhr in der Früh.
Irgendwo war noch vereinzeltes Feuerwerk zu vernehmen und wenn ich den Kopf hob und aus dem Fenster sah, konnte ich in der Ferne dann und wann das wohlbekannte Leuchten sehen. Nenad schlief friedlich neben mir.
Schon wieder ein neues Jahr. Perfekt für einen Neuanfang.
Ich konnte wie so oft nicht mehr schlafen und das, obwohl ich sowieso kaum ein Auge zugetan hatte. Diesmal war ich jedoch froh, dass es einen erfreulichen Grund hatte.
Nenad und ich waren uns endlich wieder nähergekommen. Körperlich, aber vor allem auch emotional.
Wir hatten die halbe Nacht miteinander gesprochen und bei Weitem wusste ich sicherlich noch nicht über alles Bescheid, was in den letzten Jahren passiert war.
Geschockt hatte mich vor allem die Tatsache, dass mein Partner schon seit anderthalb Jahren gesundheitliche Probleme hatte und es mit sich selbst ausmachte. Sein Arzt hatte ihn ermahnt, einen Gang zurückzuschalten, da er sonst ein Burnout erleiden würde. Doch Nenad hatte weitergemacht. War bedingungslos für mich und seine Mutter da und ging seiner Arbeit nach. Hätte er doch nur etwas gesagt. Hätte ich doch nur mal danach gefragt.
Mein schlechtes Gewissen fraß mich förmlich auf.
Für Nenad war wichtig, dass wir uns wieder annäherten und noch nicht alles verloren war. Er klammerte sich nicht an die Vergangenheit, sondern richtete seinen Blick nach vorne.
Vorsichtig zog ich meinen Arm unter Nenads Kopf hervor und stand auf.
Wie automatisch zog es mich zu meinem Flügel und ich folgte dem stillen Ruf.
Wie schon am gestrigen Nachmittag, strich ich andächtig über den Korpus. Im hereinfallenden Mondlicht wirkte er gleich viel mystischer auf mich. Perfekt für meine Stimmung.
Als ich auf dem Hocker Platz nahm und die ersten Tasten drückte, war es mir egal, dass er erst noch gestimmt werden musste. Ich wollte spielen. Musste es sogar.
Ich versuchte es mit einem meiner Lieblingsstücke. River flows in you von Yiruma. Ein modernes Stück, das ich früher gerne angestimmt hatte, weil es mein Innerstes zu beruhigen schien.
Die ersten Töne erklangen, hallten wie durch nebel vage in meine Ohren und ich fühlte die altbekannte Energie, die mich beim Musizieren immer erfasste. Bemerkte, wie ich nach und nach in den tranceähnlichen Zustand verfiel, in dem es nur mich und die Musik gab.
Es war egal, dass ich die Töne nicht richtig hörte oder mich ab und zu im Takt vertat. Es ging nur ums Spielen. Und darum, endlich wieder zur Musik zu finden. Zu mir selbst zu finden.
Ein wenig war es wie Fahrradfahren. Anfangs holprig, doch mit jedem Ton, den ich dem Flügel entlockte, wurde ich sicherer. Spielte aus dem Gedächtnis heraus, schloss die Augen und ließ mich einfach leiten. Ich erinnerte mich an die Töne, die diesen Raum so oft erfüllt hatten. Beinahe war es so, als könnte ich sie wieder hören.
Ich dachte an Nenad. Ihn hatten meine Stücke genauso berührt wie mich. Jedes Mal hatte er so im Reinen mit sich gewirkt, wenn ich in meine Welt abtauchte und die Finger nur so über die Tasten flogen.
Manchmal hatte ich nur für ihn gespielt. Einfach weil er meine Welt war.
Weil ich durch die Musik besser ausdrücken konnte, was er mir bedeutete.
Weil Musik einfach alles besser machte.
Gerade als ich den letzten Ton angeschlagen hatte und die Augen öffnete, zuckte ich erschrocken zusammen und wäre beinahe vom Hocker gerutscht.
»Entschuldige«, konnte ich Nenad im schwachen Licht des Mondes gebärden erkennen.
Ich nahm die Hände von den Tasten und drehte mich vollständig zu Nenad herum, damit ich gebärden konnte. »Habe ich dich geweckt, Nene?«
»Ja, aber das ist okay. Ich habe dich spielen hören und musste einfach aufstehen.« Ich rückte zur Seite, damit er sich setzen konnte. »Es war wunderschön.«
»Ach was«, entgegnete ich ausweichend. Schon wieder stieg mir Hitze in die Wangen. »Der Flügel ist bestimmt total verstimmt und ich bin auch aus der Übung.«
»Hey, das ist vollkommen egal. Wichtig ist, dass du hier sitzt und spielst.« Zärtlich küsste er mich. »Wiederholst du es noch mal? Für mich?«
»Für dich immer, Nene.«
Wie könnte ich Nenad diesen Wunsch abschlagen?
Wenn es sein musste, würde ich bis an mein Lebensende nur noch für ihn spielen, nur um ihn glücklich zu machen.
Um uns glücklich zu machen.