Präludium 
NOA LIÀN
Der erste Auftritt
Das Geschäft war abgeschlossen, der Deal in der Tasche. Er sollte sich gut fühlen, doch Bartholomé lief nur weiter rastlos durch die dunklen, hektischen Straßen der Stadt, die immer nur ein Tempo kannten, immer forderten, nie zur Ruhe kamen.
Er wollte nach Hause, doch alles in ihm war aufgewühlt. Schon seit Monaten spürte er es. Seine innere Leere kam nicht gegen die Hektik um ihn herum an. Gegen seinen Willen trug sie ihn immer weiter, trieb ihn an, immer mehr zu arbeiten, zu verhandeln, alles zu geben, was er nicht einmal mehr hatte.
Er blieb stehen und sah sich um. Wo war er hingelaufen? Die Gegend kam ihm fremd und dunkler vor als die Hauptstraße, auf der er sich gerade noch befunden hatte. Kleinere Geschäfte reihten sich aneinander, aus denen ein beständiger Strom Menschen herausquoll. Und wieder hinein.
Ein paar Schritte weiter hing ein ausgefranstes hölzernes Schild von einer Eisenstange herab, nur noch gehalten von einem der zwei Ringe. War das ein Bierkrug, der dort vor langen Jahren hineingeschnitzt worden war?
Bartholomé ging näher heran. Wie an einem Galgen baumelte das Holz sachte im Wind, als könnte es jeden Moment herunterfallen. Sein Blick glitt über das blinde Fenster, auf dem wohl irgendwann einmal der Name des Etablissements gestanden haben musste. Doch die ehemals goldfarbenen Buchstaben waren so stark abgeblättert, dass sie nicht mehr lesbar waren.
Ein Mann trat an ihm vorbei, öffnete die ebenso ramponierte Tür und ließ für einen kurzen Moment Wärme und geschäftiges Murmeln in die Nacht entweichen. Doch dann ging er auch schon hinein und schloss Bartholomé von dem Treiben der Menschen dort drin aus. Nicht wirklich natürlich, denn er konnte einfach hineingehen. Wenn er sich traute.
Ein weiterer Mann ging an ihm vorbei zur Tür und öffnete sie. Und ohne weiter zu überlegen, trat Bartholomé nach ihm hinein.
Rauch vernebelte ihm die Sicht, nahm ihm die Möglichkeit, alles auf einmal zu erfassen. Nach und nach schälten sich die Konturen von kleinen Tischen und Stühlen heraus, und als er weiter hineinging, sah er zu seiner rechten Seite eine kleine Bar. Dort standen bereits einige Menschen, orderten Bier und Schnaps. Er ging zu ihnen hinüber und winkte dem Barmann, um sich ebenfalls ein Bier zu bestellen. Er war ja nun einmal hier, eingehüllt in Rauch und das monotone Brummen der Unterhaltungen um ihn herum. Nichts zu trinken, wäre seltsam gewesen, denn alle taten es.
Er setzte sich an die Theke, reichte das Geld und nahm stumm sein Bier entgegen. Dann versuchte er, in seiner Lage einen Sinn zu finden. Nun war es so weit, dass er einfach in eine Bar ging und unter der Woche trank. Fingen so alle Probleme an oder hatte er die wichtigen Probleme zu lange ignoriert?
Ein Schauer durchlief seinen Körper bei dem Gedanken, aussichtslos an einer Häuserwand zu sitzen, mit einer Flasche Bier in der Hand. Angst kribbelte durch seinen Körper, schüttelte ihn durch und ließ seinen Rücken kalt werden. Dabei hatte er nicht einmal seinen Mantel abgelegt. Er griff fester nach der Flasche, als könnte sie ihm Halt bieten.
Dann begriff er, dass seine Reaktion nicht nur ein Einfall seines Geistes war. Leise, doch deutlich klang im Hintergrund eine Melodie, die er kannte. Eine, die sein Herz schmerzen ließ, von einer vagen Sehnsucht erzählte, die nie gestillt werden konnte.
Er sah auf, durchsuchte den Nebel und die Menschen nach der Quelle der Melodie. Bis er sie fand.
Aus einer alten Anlage ertönte begleitende Musik, während auf einer Art Bühne ein junger Mann saß, der gedankenverloren seine Hände bewegte. Als würde er die Luft und den Rauch selbst dirigieren. Erst dann fiel Bartholomé auf, dass das nicht stimmen konnte. Er rückte seinen Barhocker zur Seite, um einen besseren Blick zur Bühne zu bekommen.
Die Melodie dieses Abends kam von einem Theremin. Schaurig und schön zugleich. Sehnsuchtsvoll und doch auch ängstigend. Bartholomés Blick wurde wieder von dem Mann eingefangen, der das Theremin erklingen ließ. Seine Augen hatte er geschlossen, seine Hände mochten genug sehen. Wie bei einem Magier, dem man sein Geheimnis entlocken wollte, betrachtete Bartholomé jede Bewegung dieser grazilen Finger. Das Spiel wurde schneller, ließ sein Herz stolpern und brachte sein Gemüt in Aufruhr. Dann wurde die Melodie ruhiger, fast besänftigend. Jede Note hielt der Mann fest, ließ sie erst gehen, nachdem ihr Klang bis in Bartholomés Herz vorgedrungen war.
Bedächtig und wohl überlegt erzählte der Musiker seine Geschichte. Ließ ihn teilhaben, bis Bartholomé in Erwartung des letzten Tons schon aufstehen wollte, um ihm noch näher zu sein, ihn ganz genau hören zu können, um nichts zu verpassen.
Wenn das Stück Sehnsucht hieße, würde er sich nicht wundern, denn diese weckte es in ihm. Als stünde er am Anfang eines Weges, den er nur bis zum Ende gehen musste, bis zum letzten Schritt, zum letzten Ton. Bis nach Hause.
Und dann war es vorüber, klang nur noch als ein Echo in ihm nach, erinnerte ihn daran, wo er am Anfang des Abends hatte sein wollen. An einem Ort, den er noch nicht gefunden hatte. Zuhause.
Langsam drangen die Geräusche der Bar an seine Ohren, zerrten ihn in die Realität zurück. Noch immer hielt er die Bierflasche, aus der er keinen einzigen Schluck getrunken hatte. Besorgt sah er sich um, ob jemand sein eigentümliches Verhalten bemerkt hatte, doch jeder schien hier nur seinen eigenen Gedanken oder denen des Tischnachbarn nachzuhängen. Niemand sah ihn.
Er musste zurück in seine Wohnung. Es war ohnehin schon zu spät gewesen, als er vorhin aus dem Büro aufgebrochen war. Dabei hatte er früher Feierabend machen wollen.
Schwerfällig stand er auf, schob sein Bier zurück auf den Tresen und zog den Kragen um seinen Hals fester. Einen letzten Blick riskierte er noch. Zurück zur Bühne, zu dem Musiker, der auf so magische Weise spielen konnte. Er hatte ein weiteres Stück begonnen, blieb dabei wieder in seiner eigenen Welt, die Augen geschlossen, während seine Hände für ihn sprachen, die Leere um sie herum mit Klang und Melodie erfüllten.
Das Ziehen in Bartholomés Bauch wurde stärker und ihn überkam das Gefühl, dass der junge Mann womöglich schon dort war, wo er selbst eigentlich sein wollte. 
~*~*~*~
Der zweite Auftritt
Er war wieder hierhergekommen. Natürlich. Nach den vielen Wochen, die er es nun schon tat, wunderte er sich nicht einmal selbst darüber. Es war gut, dass er hier war und Billie beim Spielen des Theremins zusah.
Billie. In seiner Wohnung hatte er den Namen mehrfach ausgesprochen, ihn unterschiedlich erklingen lassen, um sich einen Reim darauf zu machen, ob der Name zu dem jungen Musiker passte.
Der Barmann hatte Bartholomé gesagt, wie Billie hieß, da er nun doch bemerkt worden war. Aber es waren auch immer weniger Gäste hergekommen. Von Woche zu Woche lichteten sich die Tische, die auch im Verlauf eines ganzen Abends nicht mehr voll wurden.
Ein wenig fürchtete er sich. Was würde passieren, wenn nicht mehr genügend Gäste kamen, die Bar geschlossen wurde? Was wurde dann aus Billie? Was aus ihm selbst?
Doch als die Töne eines vertrauten Liedes an seine Ohren drangen, konnte er diese Gedanken wieder beiseiteschieben. Er hatte sich heute einen Kakao dazu bestellt. Tröstlich warm flossen die Musik und das Getränk in ihm zusammen, betteten ihn in diesen behaglichen Zustand, den er nur hier fand und nach dem er sich den ganzen Tag sehnte.
Hier fand er Ruhe und manchmal hatte er sogar das Gefühl, auch einen kleinen Teil von sich selbst wiederzufinden. Er hatte sich sogar an seine allerersten Klavierstunden erinnert, die er als Kind nicht einmal gemocht hatte. Und nun saß er hier, schmunzelte über seine eigenen Erinnerungen und sah Billie dabei zu, wie er am Theremin spielte.
Ein sonderbares Instrument war es. Die Präzision, mit der Billie seine Finger bewegen musste, damit jeder Ton richtig getroffen wurde, rang Bartholomé Respekt ab. Schon eine kleine Abweichung würde dafür sorgen, dass Billie eine falsche Note spielte. Er hatte nur sich und seinen Körper, um die Bewegungen der Hände in der Luft exakt einzuschätzen. Und es gelang ihm, jeden Abend aufs Neue. Auch wenn Bartholomé die Befürchtung hatte, dass es außer ihm nicht viele interessierte.
Zuweilen wirkte Billie so mit seiner Musik verwoben, dass es einem Außenstehenden nicht auffallen mochte, doch da war dieser Hauch Einsamkeit um den jungen Mann herum. Die Sehnsucht im Spiel – konnte Bartholomé sie nicht fühlen? Am liebsten hätte er Billie direkt gefragt, doch er wollte ihn nicht stören oder gar ganz unterbrechen.
Am heutigen Abend leerte sich die Bar noch früher als üblich, dabei war es noch gar nicht so spät. Bald schon saß Bartholomé allein in der Bar, an einem der kleinen Tische direkt vor der Bühne. Der Barmann brachte ihm nur ab und an einen Kakao, den er nicht einmal bezahlt haben wollte. Die Stimmung war seltsam aufgeräumt. Wie eine Vorahnung auf das, was unweigerlich kommen würde, einem Aufbruch gleich, obwohl sich nichts verändert zu haben schien.
Aber vielleicht stimmte das nicht, denn Bartholomé hatte in der letzten Woche häufiger das Gefühl gehabt, dass sich etwas geändert hatte. Waren es die kurzen Blicke von Billie gewesen, von denen er sich eingeredet hatte, dass sie ihm gegolten hatten? Zuweilen hatte er sogar das Gefühl gehabt, dass Billie für ihn gespielt hatte. Es konnte an der Tatsache liegen, dass er seit dem ersten Abend immer vorn an der Bühne gesessen hatte. Er konnte diese Blicke und die Richtung des Spiels verkannt haben. Aber all das war eigentlich nicht wichtig. Es reichte, dass er sich einreden konnte, diese Musik wäre für ihn. Teil eines Publikums, wenn auch eines kleinen, war er ja doch.
Und die Melodie des heutigen Abends war noch schöner als zuvor. Als würde Billie jede kleine Schwingung auskosten, jede Note mit seinem ganzen Körper spielen.
Ein anderes Bedürfnis drang an die Oberfläche, verschlug Bartholomé sogar den Atem. Diese schlanken Finger, er hätte sie gern einmal berührt. Überhaupt weckte dieses Musikspiel ohne Berührung seinen Wunsch, genau das Gegenteil zu tun. Mit seinen eigenen Fingern einmal, nur einmal ganz vorsichtig Billie zu berühren.
Es waren verbotene Gedanken, die zum Glück niemand je erfahren würde. Daher erlaubte er sich einen Blick zu den Lippen, auf denen dieses sanfte Lächeln lag, das Bartholomé so anziehend fand, das er gerne berührt … geküsst hätte. Wenn sie allein wären, keine Bar und keine Bühne sie trennen würde. Wenn Billie sich überhaupt berühren lassen wollte. Es zulassen würde, dass ihn jemand ganz sachte und vorsichtig erkundete. Mit genauso viel Gefühl, wie es das Theremin selbst brauchte.
Ein leichter Schauer durchlief Bartholomés Körper und die Härchen an seinem Arm stellten sich auf. Hatte ihn das Feld des Theremins berührt? Oder war es Billie, dessen Hingabe dieses eigentümliche Verlangen und Sehnen hervorrief?
Billie öffnete die Augen. Sein Blick in eine weite Ferne gerichtet, das Lächeln sogar noch vertieft. Wovon träumte er? Bartholomé war sich sicher, dass er weit mehr im Leben erreichen konnte, als in einer heruntergekommenen Bar seine Lieder zu spielen. Wurde er überhaupt bezahlt? Die Antworten auf diese Fragen erschienen dringend, der Geist des Aufbruchs erfasste ihn erneut und die Angst kehrte zurück; etwas zu verpassen, auf immer gefangen zu sein. Die Bar würde nicht ewig sein, erst recht nicht, wenn weniger Menschen sie besuchten. Aber schon viel früher konnte Billie einfach gehen, ihn verlassen.
Plötzlich sah Billie ihn. Natürlich sah er ihn, sie waren beinahe allein in der Bar, wen sollte er sonst ansehen? Und er lächelte noch immer. Wie von selbst hoben sich auch Bartholomés Mundwinkel, ließen Billie wissen, was er in Worten gerade nicht ausdrücken konnte.
Der Moment währte viel zu kurz und als Billie den Blick wieder senkte und sich erneut in einem Lied verlor, erschien es Bartholomé nicht abwegig, dass er trauern würde, wenn sich ihre Wege trennten. Obwohl sie sich nicht kannten, einander vollkommen fremd waren, würde es ein Verlust sein.
Er seufzte und legte einige Scheine auf den Tisch. Einfach so zu gehen, erschien ihm nicht richtig, denn er bekam hier sowieso schon mehr, als er bezahlen konnte. Für Geborgenheit gab es keinen Preis.
Ohne jede Hast trank er seinen letzten Schluck Kakao, bedankte sich beim Barmann und verließ mit den letzten Klängen des Theremins die Bar. Kalte Luft schlug ihm entgegen, klärte seinen Kopf und fegte die träumerischen Gedanken fort. Das war gut so, denn er musste sich wieder konzentrieren. Auf den neuen Tag, seine Aufgabe im Büro. Träume halfen dort nicht weiter. Erst, wenn er den Tag bewältigt hatte, würde er sich wieder erlauben, hierhin zurückzukehren. In seine Zuflucht. 
~*~*~*~
Klimax
Die Tür war zu. Einfach zu.
Nachdem Bartholomé seine Aufregung halbwegs wieder im Griff hatte, sah er sich genauer um. An der Fensterfront, der er schon lange keinen Blick mehr geschenkt hatte, immer nur darauf bedacht, so schnell wie möglich in die Bar zu kommen, hing ein kaum noch lesbarer Zettel.
Wir schließen.
Ihm drohte das Herz aus der Brust zu springen. Warum hatte er das nicht mitbekommen? Nicht einmal hinterfragt, obwohl nur noch so wenige Leute erschienen waren? Natürlich, diese wussten, dass die Bar schließen würde, hatten sich rechtzeitig nach einer anderen umgesehen. Doch er wollte nirgendwo sonst hin. Er wollte bei Billie sein. Den er nun nicht wiedersehen würde. Er hatte sich nicht einmal verabschieden können, dabei hätte er sogar die Gelegenheit gehabt.
»Hallo.«
Bartholomé zuckte zusammen und drehte sich um. Da war er, sein Billie.
»Du bist wieder hier.«
»Ja«, antwortete er schlicht, in der leisen Hoffnung, Billie würde wieder mit dieser melodischen Stimme das Wort an sich nehmen. Bartholomé wollte nicht reden, nur zuhören.
Billie tat ihm den Gefallen, ließ die Luft zwischen ihnen vibrieren. »Hast du nicht mitbekommen, dass die Bar schließt?«
»Nein, leider nicht. Sonst hätte ich mich verabschiedet.«
Da war es wieder, dieses sanfte Lächeln, das Billies Gesicht beim Spiel am Theremin zierte. Dann holte er einen Schlüssel heraus und schloss auf. »Komm mit.«
Einigermaßen erstaunt folgte er Billie, der erst hinter ihnen abschloss und dann durch die gesamte Bar zu einer Seitentür ging, hinter der eine Treppe verborgen lag. Sie stiegen die dunklen und knarrenden Holzstufen hinauf, bis zu einer weiteren Tür, die Billie für sie öffnete.
Das Theremin fiel ihm zuerst auf. Es stand auf einem kleinen Läufer neben einem durchgesessenen Sofa. Aber viel gab es darüber hinaus nicht zu sehen. Ein Bett mit einem Vorhang, ein Tisch, zwei Regale.
Und es gab Billie. Das hier war seine Wohnung und er hatte Bartholomé eingelassen. »Wirst du hierbleiben?«
»Nein, ich habe alles verkauft.«
»Dann ist das deine Bar gewesen?«
Abwägend schüttelte Billie den Kopf. »Nein, es ist die meiner Eltern. Auch wenn sie nach ihrem Tod an mich übergegangen ist.«
»Oh. Mein Beileid.«
Billie nickte und umarmte seinen schlanken Körper mit seinen Armen. »Ich dachte erst, dass ich die Bar behalten muss. Weil sie das Einzige ist, was mir von ihnen geblieben ist, aber … ich habe einen Platz in einem Orchester bekommen. Das habe ich immer gewollt. Mein ganzes Leben lang.«
»Dann war es eine kluge Entscheidung, die Bar zu verkaufen«, antwortete Bartholomé, allerdings mit einem Bedauern in der Stimme, das er nicht verbergen konnte. »Ziehst du von hier weg?«
»Ja. Sonst hätte ich die Bar vielleicht doch behalten, aber ich kann mich nicht um sie kümmern.«
Er würde ihn nicht wiedersehen und die Trauer, von der er geahnt hatte, dass sie ihn treffen würde, nahm ihn schon jetzt vollkommen ein.
Billie kam wieder auf ihn zu, löste seine eigene Umarmung und blieb ganz dicht vor ihm stehen. »Du hast mir gerne zugesehen.«
»Ja, das habe ich.« Leugnen brauchte er es nicht. Er konnte in Billies Blick erkennen, dass dieser ihn durchschaut hatte.
»Ich habe gerne für dich gespielt.« Er senkte den Kopf. »So viele haben mir hier auch nie zugehört. So ließ es sich aber gut üben. Ohne Druck und Erwartungen. Bis ich bemerkt habe, dass es doch einen gibt, der herkommt, um mich spielen zu hören.«
Billies gerötete Wangen luden dazu ein, sie zu streicheln, doch das wagte Bartholomé nicht. »Bald werden dir ganz viele zuhören.«
»Außer dir.«
»Außer mir, ja. Ich muss … hierbleiben. Vielleicht kann ich aber auch einmal vorbeikommen.«
Billie hob seinen Blick und nickte lächelnd. »Das fände ich schön.« Er verschränkte seine langen Finger miteinander, hob sie wie zu einem Gebet vor die Brust. »Bleibst du heute Nacht hier?«
»Ich … Möchtest du das?«
»Ja«, antwortete er und schluckte, trat dann wieder einen Schritt zurück. »Du hast mich … auf diese ganz bestimmte Art angesehen. Ich wollte dir nicht zu nahe treten, ich dachte nur, du würdest auch –«
»Ja«, beeilte sich Bartholomé zu sagen und trat einen Schritt vor.
Niemand sollte von seiner Neigung wissen, aber Billie würde danach sowieso wegziehen. Weg von ihm. Keiner würde es wissen außer ihnen beiden.
Billie ging rückwärts zu seinem Bett, knöpfte elegant das schlichte weiße Hemd auf und zog es aus. Dann streifte er sich die Schuhe von den Füßen, öffnete die Hose und gab seine langen Beine frei. Auch den Rest der Kleidung legte er ab, stand schließlich in all seiner Perfektion vor ihm. Und erst, als er sich ins Bett legte, wurde Bartholomé bewusst, dass er noch immer reglos verharrte, nach wie vor seinen schweren Mantel trug.
Eilig entledigte er sich nun seiner eigenen Kleidung, versuchte, nicht zu sehr über Billies Blicke nachzudenken, die ihn nun trafen. Dann ging er zu ihm, kniete sich auf den Bettrand.
Billie wirkte anders als sonst. Er atmete schneller und eine feine Gänsehaut überzog seinen Körper. Er war eindeutig aufgeregt. Wegen ihm. Bartholomé. Er streckte eine Hand aus. Fast hätte er Billies Bein berührt. Doch er tat es nicht. Hielt seine Hand nur ganz nahe über Billies Körper. Sah zu, wie sich die Härchen seiner Hand entgegenstreckten.
Bartholomé sah auf und suchte Billies Blick, der allerdings auf seine Hand fixiert war. Selbstvergessen biss er sich auf die Lippe, bemerkte anscheinend nicht einmal, dass Bartholomé innegehalten hatte. Er rückte weiter auf das Bett, legte sich seitlich neben Billie, der ihn nun endlich ansah. Mit einem sehnsuchtsvollen Funkeln in den Augen.
Doch noch immer wollte er ihn nicht einfach anfassen. Die Härchen an Billies Arm streckten sich ihm jedoch gierig entgegen, forderten die Berührung. Sie kitzelten und ließen sie beide zusammenzucken. War es sein eigenes Herz, das er so laut schlagen hörte? Oder hatten sie einen gemeinsamen Takt gefunden? Ein bisschen war es jedenfalls, als würden sie musizieren. Als wäre Billie heute selbst das Theremin und Bartholomé sein Musiker.
Billie ließ seinen Kopf in das Kissen sinken, schloss die Augen und gab sich ihm ganz hin. Und überall dort, wo Bartholomé die Härchen berührte, bekam er noch mehr Gänsehaut. Leise Laute entwichen Billies Kehle, entfachten seine eigene Leidenschaft.
Nun konnte er sich nicht mehr zurückhalten. Bartholomé legte seine Hand auf Billies Bauch, streichelte ihn sanft und beobachtete fasziniert, wie er sich ihm entgegenstreckte. Langsam ließ er seine Hand zwischen Billies Beine gleiten, erschrak beinahe, weil sich Billie so plötzlich zu ihm herumdrehte und ganz nahe an ihn heranrückte.
Bartholomé umfasste sie beide, während Billie ihn umarmte und festhielt, seinen Kopf an Bartholomés Schulter bettete.
Sein Herz raste. Wärme und Geborgenheit hatte er gesucht, verloren geglaubt, als er die verschlossene Tür gesehen hatte. Doch nun war er hier. Mit Billie, dessen Wärme ihn einhüllte, dessen Arme ihm Geborgenheit schenkten. Doch das würde nicht anhalten. Billie würde gehen, große und bessere Dinge in seinem Leben beginnen. Während Bartholomé zurückbleiben musste.
Er umfasste sie fester, rückte noch enger an Billie, drängte sich an ihn. Er wollte nicht denken. Nicht jetzt. Billie legte seinen Kopf in den Nacken, gab seinen Hals frei, den Bartholomé sofort mit seinem Mund erkunden wollte. Er leckte über den Adamsapfel, küsste die empfindliche Haut. Billie stieß in seine Hand und auch Bartholomé konnte sich nicht mehr zurückhalten.
Schwer atmend hielten sie sich aneinander fest, ließen ihre Körper miteinander spielen. Bis zum letzten Ton.
Bartholomé legte seine Stirn an Billies und schloss die Augen. Wagte nicht, sie zu öffnen, aus Angst, schon jetzt wieder der Realität begegnen zu müssen. Auch Billie schien keine Eile zu haben, streichelte nun Bartholomés Rücken und rieb ihre Nasen fast schon zärtlich aneinander.
Doch lange konnten sie nicht so liegen bleiben. Nachdem ihre Hitze abgekühlt war, fröstelte Billie in Bartholomés Armen. Nun sah er sich doch um, griff nach einer Decke, die am Fußende des Bettes lag. Gemeinsam deckten sie sich zu, wickelten sich in die Decke ein. Ganz eng.
Billies heller Blick aus wachen Augen traf ihn ganz unvermittelt. »Küss mich«, forderte er und legte eine Hand an Bartholomés Hinterkopf.
Mit seiner Hand wollte er Billies Lippen verschließen, zu groß war die Angst vor den Gefühlen, die danach kommen würden. Doch Billie küsste einfach seine Finger und lächelte beseelt.
Billie hatte recht. Sie sollten sich küssen. Es war nur richtig. Ein gutes Lied endete nicht mit einem Höhepunkt, sondern es erzählte seine Geschichte bis zum Ende. Und das hier war das Ende ihres gemeinsamen Liedes.
Bartholomé umfasste Billies Gesicht und näherte sich seinen Lippen, bis sie nur noch ihr Atem voneinander trennte.
Weich und herb. So schmeckte Billie. Und Bartholomé würde es nie vergessen. 
~*~*~*~
Der große Auftritt
Es würde noch einen Moment dauern, bis es begann. Bartholomé lehnte sich zurück und schloss die Augen. Er war wirklich erschöpft gewesen. Als er nun an den Moment in seinem Leben zurückdachte, an dem er in die Bar eines jungen Musikers gestolpert war, musste er wehmütig schmunzeln. Viele Jahre war das her und doch war ihm alles mit Billie so nahe, als wäre es erst am Vortag geschehen.
Auch der Schmerz ihrer Trennung, die eigentlich keine war, weil sie nur Fremde gewesen waren, die eine Nacht lang einander gebraucht hatten.
Das Murmeln der Menge wurde leiser, als das Licht im Saal gedimmt wurde. Alle sahen zur Bühne, in gespannter Erwartung auf die ersten Töne des Orchesters. Für Bartholomé waren es immer die wichtigsten. Sie entschieden darüber, ob er sich ganz auf das Stück einlassen konnte. Eine gute Geschichte brauchte einen großen Auftakt. Erwartungen wollten geweckt und im Verlauf des Konzerts erfüllt werden.
Ganz vorn im Orchester bereitete sich ein älterer Musiker an einem Theremin vor, ein ganzes Stück abseits vom Rest, damit niemand das Instrument stören konnte, das so sensibel auf jede kleine Bewegung reagierte.
Als es begann, war Bartholomé überzeugt. Es brauchte nicht mehr als diese ersten Töne, erzeugt von langen und grazilen Fingern, damit er sich in der Gewissheit einhüllen konnte, dass er einen schönen Abend haben würde. Von der Loge aus das geübte Spiel dieser Musiker beobachten zu dürfen, kam den Momenten gleich, in denen er in einer kleinen Bar auf einem altersschwachen Stuhl gesessen und Billie zugesehen hatte. Sie hatten eines gemeinsam: Die Momente fühlten sich bedeutungsvoll an, als wäre die Musik persönlich.
Dem Prélude in e-Moll von Chopin lauschen zu dürfen, war ohne Frage persönlich. Es hatte sich immer wie ein Weg für ihn angefühlt, einen, den er noch nicht gegangen war. Billie hatte damals erkannt, wie sehr Bartholomé das Stück mochte, hatte es Abend um Abend gespielt. Bis er sich selbst auf den Weg gemacht hatte.
Aber es war gut so gewesen. Gefangen in seinem Trott hätte sich Bartholomé nie ernstlich Gedanken darüber gemacht, ob es einen Weg hinaus gab. Er hatte sich treiben lassen, hatte sich gar nicht erst die Mühe gemacht, auszubrechen. Erst Billies Verlust hatte ihm gezeigt, wie wichtig sein eigenes Leben für ihn war. Wie wenig er daran gedacht hatte.
Die grazilen Finger wurden schneller, trieben die Gefühle vergangener Nächte höher, die Sehnsucht nach mehr, aber auch die Angst, alles zu verlieren. Das Theremin hatte immer auch diesen mahnenden Klang, der alles so viel näher an Bartholomés Herz brachte.
Es war gut, dass er hergekommen war. Er war sich unsicher gewesen, ob es eine gute Idee wäre, am Jahrestag seiner letzten Barnacht dieses Konzert zu besuchen. Er hätte einen ruhigen Abend haben können, doch William war der Meinung gewesen, dass ihm dieses Konzert guttun würde. Er hatte recht. Wie immer.
Die Klänge wurden wieder sanfter, versicherten Bartholomé, dass alles gut war, auch nach so vielen Jahren. Er hatte sich auf den Weg gemacht, war ihm gefolgt, durch einige Turbulenzen hindurch. Nie hatte der Weg ihn im Stich gelassen, hatte ihn beständig geführt. Und wenn er Angst bekommen hatte, dann hatte er nur zurückdenken müssen. An seine eigenen Gedanken vor nunmehr zwanzig Jahren. Ein Lied endete nicht mit dem Höhepunkt.
Und als dem Theremin für die letzten Noten mehr Raum gegeben wurde, als alle auf das letzte und bedeutende E warteten, sah der Musiker auf und nach oben in die Loge. Zu ihm .
Natürlich zu ihm. Er war zwar nur einer von vielen in diesem Konzert, doch wem dieser Mann seine letzte Note dieses Stücks schenkte, daran bestand kein Zweifel. Obwohl so weit voneinander entfernt, konnte Bartholomé noch immer das Funkeln in Williams Augen sehen, das ihm als junger Mann schon so gut zu Gesicht gestanden hatte. Das sanfte Lächeln würde er überall wiedererkennen können, denn es war seine Belohnung gewesen, nachdem er Billie gefolgt war.
Das letzte E . William hielt es für ihn fest, ließ es in Bartholomés Herzen erklingen. Wie damals in der Bar. Und damals wie heute versprach es Geborgenheit, Aufbruch und Ankunft. Ein Zuhause.
Nur war es heute ein sehr viel festeres Versprechen. Denn dorthin würden sie nachher gemeinsam aufbrechen. Nach Hause.