Unsere kleine Lisbeth ist ein Sonnenschein.

Ach, bevor ich weiterschreibe … Lisbeth ist die älteste Tochter meines Neffen Stefan. Stefan hat vor einigen Jahren, als ich schon dachte, ich muss langsam zu den Geburtstagen Tischdamen für ihn einladen, weil er keine Freundin findet, die Ariane kennengelernt. Ein nettes Mädchen aus gutem Haus, die Eltern wohnen in Leipzig und führen da ein Familienunternehmen in der Sanitärbrangsche. Nette Leute, da kann man nichts sagen. Na, jedenfalls ging es dann doch alles ganz ohne Hilfe von Tante Renate ab, mit Ariane fand der Junge das Glück. Es wurde geheiratet, und fast schon unanständig schnell wurde Ariane vom Storch gebissen und war schwanger.

Ich habe ja selbst keine Enkel, wissen Se. Eine Tochter, ja, aber die … Es ist alles in Ordnung, so wie es ist, wir sind im Reinen miteinander, und ich bin stolz auf sie. Meine Kirsten hat ursprünglich Krankenschwester gelernt und auch als solche gearbeitet und ist jetzt … Ach, ich will nicht groß darüber reden. Sie ist jetzt freiberuflich tätig, im weitesten Sinne auf dem Gebiet des Gesundheitswesens. Vielleicht kommen wir später noch zu ihr, erst mal will ich Ihnen von Ariane, Stefan und Lisbeth erzählen.

Der Stefan ist, wie ich bereits sagte, mein Neffe. Angeheiratete Verwandtschaft. Ein Großneffe meines ersten Mannes Otto.

Ich merke schon, es ist doch recht kompliziert, bei meiner Sippe den Überblick zu behalten. Wissen Se was? Ich mache Ihnen am Ende des Buches mal ein »Renate-Pedia«, eine Übersicht von A bis Z, wer und was in meinem Leben alles eine Rolle spielt. Schließlich will ich Ihnen von Lisbeth als Abc-Schützin berichten. ABC und A bis Z, na, wenn das nicht passt! Da können Se nachschlagen, wenn Sie an einer Stelle nicht wissen, von wem ich rede.


Ja, es ist in meinem Leben wie bei jedem anderen: Die Zeit vergeht! Und ich habe den Eindruck, sie vergeht immer schneller, je älter man wird. Das ist natürlich Quatsch, die Erde dreht sich im gleichen Tempo wie immer. Aber die Zeit, die ich noch habe, die wird weniger. Darüber denkt man natürlich nach. Wissen Se, wenn man 82 Jahre alt ist, freut man sich beim Anblick der ersten Krokusse …

Sagt man Krokusse? Ich glaube, es ist richtig. Kaktusse als Mehrzahl von Kaktus wäre falsch, da heißt es Kakteen. Aber bei Krokus? Heißt es Krokanten? Nee, ich glaube, Krokusse ist richtig.

Was wollte ich? Ach ja, im Frühling erfreue ich mich immer wieder aufs Neue am Anblick der ersten Krokusse, aber man fragt sich auch zwei Dinge. Erstens: Wie oft werde ich sie wohl noch der Frühlingssonne entgegensprießen sehen? Und zweitens: Wenn ich mich jetzt bücke, um an den Blüten zu schnuppern, komme ich wieder ohne Hilfe hoch?

Wie schnell die Zeit vergeht, sieht man auch an sich selbst. Beim Blick in den Spiegel denke ich so manchen Morgen, Oma Strelemann guckt mich an. Die Runzeln werden tiefer und mehr, die Haare werden weiß, und die Finger werden steif. Aber nicht nur an sich selbst spürt man, dass man älter wird und wie die Jahre verrinnen. Besonders die Kinder führen es uns täglich vor Augen. Eben noch plärren sie im Kinderwagen, weil die ersten Milchzähnchen schieben, und wenn man sie das nächste Mal trifft, haben sie schon eine Zahnlücke, und die Mutti erzählt was von Einschulung.

So war es bei unserer Lisbeth auch. Wie schnell ist das Mädchen groß geworden! Im Frühjahr kam Ariane zu mir und sagte: »Denk daran, Tante Renate, am letzten Augustsamstag ist Einschulung.«

Samstag, Ariane sagt immer Samstag zum Sonnabend. Das klingt ein bisschen etepetete, aber so sind se, die jungen Leute. Wollen immer modern sein.

»Ich sage das extra rechtzeitig, nicht, dass du da wieder mit deinen Rentnern was vorhast und umherfeckerst! Wir wollen nach der Feierstunde in den Zoo und danach den Tag schön ausklingen lassen, da gehen wir essen. Das hat sich Lisbeth so gewünscht. Es soll für sie ein schöner Tag werden, und deshalb machen wir das im kleinen Rahmen. Nur die Familie.«

»Also du und Stefan, die Kinder, Oma und Opa Leipzig …?«

Ich begann sofort zu planen und im Kopf durchzugehen, wie viel Kuchen wir wohl brauchen würden. Wissen Se, das steckt so drin bei mir. Wenn gefeiert wird, gehört doch Kuchen dazu! Eine schöne Buttercremetorte, ein paar Obstböden, drei, vier Blechkuchen und ein paar kleine Teilchen. Damit würden wir hinkommen. Ariane fuhr mir aber gleich in die Parade.

»Kein Kuchen, Tante Renate. Nein, auch nicht nur einen, nein, auch nicht ›zum Mitnehmen in den Zoo‹!«

Ich war traurig, sah aber sofort noch ein Hintertürchen für mich und meine Pläne um den Kuchen: Selbstredend würden sowohl Ariane als auch Stefan am Tag danach auf der Arbeit einen ausgeben müssen, und auch Oma und Opa Kloschüssel aus Leipzig würden sich freuen, wenn sie für die Rückfahrt einen Proviantkorb mit ein paar Stücken Bienenstich mitbekämen. Davon sagte ich aber erst mal nichts, denn Ariane war sehr bestimmt und hätte mir sofort einen Riegel vorgeschoben. Aber dass sie selbst nicht darauf gekommen war, zeigt Ihnen schon, wie Sie meine Schwiegerenkelnichte einzuschätzen haben, da muss ich gar nicht viel sagen.

Kein Kuchen zur Einschulung, pah!


Na, wie dem auch sei. Ein paar Wochen vor Lisbeths feierlicher Aufnahme in den Kreis der Schulkinder gingen Stefan und Ariane mit den Mädchen Schuhe und Kleidchen kaufen. Die Kleinen werden ja nicht nur älter, sie wachsen dabei auch so schnell, dass man kurzfristig kaufen muss, sonst drücken die Schuhe, wenn der Tag ran ist, oder das Kleid sitzt nicht richtig und zippelt. Sehr hübsch waren sie, Lisbeth, unsere kleine ADAC-Schützin … äh, Abc-Schützin, meine ich natürlich. Lisbeth, unsere kleine Abc-Schützin genauso wie Agneta, ihre jüngere Schwester. Da hat Ariane ja ein Händchen, wenn es darum geht, die beiden Mäuschen hübsch herauszuputzen. Sie hat Geschmack! Ganz bezaubernd sahen die Kleinen aus. Alles Ton in Ton, dezente Farben von Rosé bis Weinrot, die Strickjacke uni, der Rock hübsch gemustert und die Schuhe passend dazu. Richtig schick waren sie! Nicht wie andere Mädchen, die zurechtgemacht wurden wie für eine amerikanische Misswahl.

Die Feierstunde fand in der Aula der Schule statt. Für jedes Kind stand eine begrenzte Anzahl von Gästekarten zur Verfügung. Stefan sagte, es gebe überhaupt keine Diskussion: Lisbeth würde die Eltern, ihre kleine Schwester, Oma und Opa aus Leipzig und selbstverständlich »Oma Nate« mitnehmen.

Wissen Se, da fühlt man sich schon sehr gewertschätzt, wenn man als alter Mensch so ganz selbstverständlich dabei sein darf. Wie oft denken die jungen Leute: »Das ist nichts mehr für Oma, es reicht, wenn die hinterher kurz zum Kaffee kommt.« So ist Stefan nicht. Der Junge hat Achtung vor dem Alter und nimmt mich ernst. Darauf bin ich sehr stolz. Bei ihm haben wir in der Erziehung viel richtig gemacht.

Am Tag der Einschulung kamen Monika und Manfred auf den letzten Drücker angedüst aus ihrem Leipzig. Sie, die Monika, ist ja immer ein bisschen überdreht. Manfred ist ein ganz Netter, ein Mann, der so unter Monikas Pantoffel steht, dass er immer erst zu ihr rüberguckt und ihr Erlaubnisnicken abwartet, bevor er irgendwas sagt oder anfasst. Die beiden führen wie gesagt einen Sanitärhandel. Monika drückt sich immer sehr geschwollen aus, aber es ändert nichts an den Fakten. Lisbeth sagt zu mir »Oma Nate« und zu Monika »Oma Kloschüssel«. Stefan kam sein Bier durch die Nase, als er das das erste Mal hörte, und auch Ariane bemühte sich, ernst zu bleiben, als sie mit dem Kind schimpfte. Beide waren sich aber sehr einig, dass nur Tante Renate dem Kind so was eingeflüstert haben konnte. So eine Frechheit! Das war ich gar nicht! Gut, es kann sein, dass ich am Telefon zu Ilse leise so was habe fallen lassen und Lisbeth es aufgeschnappt hat, aber ich habe es dem Kind auf keinen Fall eingeredet und ihm solche Dummheiten in den Kopf gesetzt. Pff!

Sehr feierlich war die Veranstaltung. Die Kinder durften das erste Mal auf ihren Plätzen in den Schulbänken Platz nehmen, sie lernten ihre Klassenlehrerin Frau Drossel kennen. Frau Drossel ist eine engagierte, nicht mehr ganz junge Frau, die sehr langsam und überdeutlich spricht. Frau Drossel hieß eigentlich Frau Druss-Hell, aber das lernte ich erst sehr viel später. Gesprochen klang es immer und bei jedem wie »Drossel«, und es war keine Bosheit, dass Schüler, Lehrer und Eltern sie so nannten. Wenn ihr Name geschrieben irgendwo auftauchte, runzelten alle die Stirn und klatschten nach ein bisschen Kichern die Hand an selbige. Ja, Augen auf bei der Namenswahl! Frau Drossel sprach wie Schwester Sabine im »Haus Abendsonne«, wissen Se, die redet mit den alten Leuten da auch wie mit Debilen. Na, das würde Frau Drossel schon noch vergehen, wenn die Rasselbande erst mal aus der Anstandsstarre erwachte, dachte ich so bei mir. Die Schulleiterin sprach geschwollene und bedeutende Worte, und natürlich durfte Frau Schlode mit dem Chor der Schüler aus der zweiten Klasse nicht fehlen. Das ist an der Schule Tradition, dass die zweite Klasse, die nun schon zu den großen Schülern gehört, den Neuankömmlingen ein Kulturprogramm vorträgt.

Wissen Se, Frau Schlode … Frau Schlode ist eine sehr spezielle Person. Ein ganz feiner Mensch im Grunde, aber eine, die man nur in kleinen Dosen ertragen kann. Also, Dosen nicht im Sinne von Büchsen, nicht, dass Se jetzt denken, ich will sie zu Frühstücksfleisch verarbeiten, hihi! Nee, »Dosen« als Mehrzahl von »Dosis«.

Cornelia Schlode ist sehr für das Musische und singt, tanzt und dirigiert für ihr Leben gern. Mittlerweile weiß aber jeder im Kiez, dass sie dabei keine Grenzen kennt, und setzt ihr für die Auftritte der Kindersingetruppe, der Tanzgruppe oder des Männerchores ganz enge Schranken. »Bitte höchstens zwei Lieder, Frau Schlode!« ist dabei eine sehr ungenaue Regieanweisung, ein ganz schlimmer Fehler, der nur Anfängern unterläuft. Das lässt ihr nämlich Raum, die Lieder umzudichten, mit anderen zu vermischen und neue Strophen hinzuzuerfinden. Da kann ein einziges Lied schon mal zwanzig Minuten gehen, mit Triangel-Solo und Tanzeinlage. Der Kaffee wird schon kalt, da geht der Bi-Ba-Butzemann immer noch im Kreis herum! So ungeschickt war Frau Drossel nicht gewesen und hatte offenbar ganz klar gesagt: »Zwei Lieder, jedes nicht länger als drei Strophen und das ganze Programm allerhöchstens zehn Minuten.« Daran hielt sich Frau Schlode bei der Einschulungsfeier, und ich hoffte inständig, dass nach der Darbietung zwar anerkennend, aber auf gar keinen Fall begeistert geklatscht wurde. So was deutet sie nämlich gern als Aufforderung, eine Zugabe anzustimmen. Aber sowohl Frau Drossel als auch die Schulleiterin Frau Langhans erhoben sich sofort von ihren Plätzen in der ersten Reihe und wirkten beschwichtigend auf das Publikum ein, damit es ja nicht weiterapplaudierte.

Die Drossel malte dann noch ein bisschen an ihrer Tafel rum und demonstrierte schon mal, dass es noch genau wie zu meinen Schulzeiten fürchterlich quietscht, wenn ein kleines Steinchen in der Kreide ist und über die grüne Tafel schrammt. Ich kam mir fast vor wie früher, als ich noch ein kleines Mädchen war und mit Affenschaukeln frisiert in der Schulbank saß! Zu meiner Zeit war die Tafel noch schwarz und nicht grün, aber sonst hatte sich nicht viel geändert. Gut, die Schrift war nicht mehr Altdeutsch und auch nicht Sütterlin, sondern lateinische Schulausgangsschrift. Und die grüne Tafel hatte sich irgendwann mal ein Optiker ausgedacht, der herausgefunden hatte, dass der Kontrast zwischen Dunkelgrün und Weiß besser von den Augen wahrgenommen wird als der zwischen Schwarz und Weiß. Ob da was dran ist? Auf jeden Fall hängen nun grüne Tafeln in den Klassenräumen statt schwarze, und das schon seit vielen Jahren. An manchen Schulen sind sie nun auch schon weiter und schreiben mit bunten Faserstiften auf weißen Grund, und noch moderner haben einige sogar schon »Weitbord«. Das ist mit Strom und digital, ganz was Wildes. Da tippen dann die Lehrer auf dem Computer, und die Schrift erscheint wie durch Zauberhand an der Wand. Verrückt! Es ist wie ein großer Fernsehschirm. Aber wie alles im Leben hat das Vor- und Nachteile: So was muss nämlich auch funktionieren, und die Lehrerinnen und Lehrer müssen es bedienen können. Und wollen …

Na, wie dem auch sei, die Drossel kratzte noch ein Weilchen auf ihrer Tafel rum, malte eine Schultüte, die auf dem Kopf steht, zog einen Querstrich auf halber Höhe und freute sich wie eine Schneekönigin, dass sie ein A gemalt hatte. Alle Schüler mussten staunen und im Chor »A« brüllen, jedes Kind sollte es einzeln sagen, und sie drohte, dass ab morgen der Ernst des Lebens losgehe und sie noch viele weitere Buchstaben lernen würden.

Einer der kleinen Jungs weinte die ganze Zeit, weil er nicht neben seinem Freund sitzen durfte, und in den ersten Reihen der Eltern rutschten die Muttis und Vatis in Position, die scharf darauf waren, in den Elternbeirat gewählt zu werden. Die konnte man daran erkennen, dass sie mit ihren Blicken am Mund von Frau Drossel hingen und bei jedem Satz zustimmend nickten. Da wusste man jetzt schon, wer mal bei den Kindern auf Klassenreise mitfährt.

Die Kinder bekamen dann endlich ihre Zuckertüten überreicht. Na, das ist ja auch ein Thema gewesen, was die angehenden Schulkindeltern über Wochen beschäftigte. Damals, als meine Kirsten zur Schule kam, gab es nicht groß was auszusuchen. Es gab Tüten in klein, mittel und groß, und die großen gab es mit Eisenbahnen oder einer Hasenschule drauf, und fertig war die Laube. Damit war jeder zufrieden. In die Tüte kamen ein paar Süßigkeiten rein, ein Füllhalter, ein kleines Spielzeug und obenauf ein Teddybär oder eine Puppe. Heute ist das ja alles … meine Güte! Denken Se sich nur, beim Spielwarenhändler waren Geschenklisten ausgelegt, auf denen die Anverwandten sich aus den Wünschen der Kinder was aussuchen konnten, damit es kein Geplärre gibt, weil ein Dinosaurierbaukasten doppelt ausgewickelt wird. Eine Einschulung ist doch keine Hochzeit! Aber ich sagte nichts, mich ging das nichts an. Ich war hier nur als alte Tante eingeladen, beglückwünschte unser Schulkind Lisbeth und die Eltern und überreichte mein Geschenk: ein Buch, das sich die Kleine gewünscht hatte, dazu Häkelnadeln und etwas Garn, damit sie für den Handarbeitsunterricht gut ausgestattet war, und natürlich auch noch was Süßes. Aber nur eine Kleinigkeit, denn zu viel Süßes macht schlechte Zähne!

Als die Kinder ihre Schultüten überreicht bekamen, ging das Filmen und Fotografieren los. Heute hat ja keiner mehr eine Videokamera auf der Schulter, sondern es wird alles mit dem Händi geschossen. Ich mache das auch. Stefan sagt, ich soll einfach drauflosknipsen, der guckt dann hinterher nach, ob es was geworden ist. Das Entwickeln ist heute nicht mehr so teuer, sagt er, ich soll keine Hemmungen haben und einfach abdrücken, als hätte ich einen frischen 36er-Film drin. Man muss wirklich staunen: Ich knipse, wenn ich unterwegs bin, und abends drückt der Junge was, und husch!, ist das Bild schon auf dem Telefonapparat zu sehen. Was war das früher für ein Aufwand gewesen! Man musste einen Film für teures Geld kaufen und sich da schon entscheiden: Soll es Schwarz-Weiß sein, das kam billiger, oder Farbe? Oder wollte man lieber Dias haben? Das macht ja auch fast keiner mehr. Was haben wir früher für schöne Dia-Abende gemacht mit Ilse und Kurt! Ilse hat eine süffige Bowle angesetzt und Kurt den Dia-Apparat aufgebaut. Bis es losging, bis Kurt die richtige Einstellung gefunden hatte und die Gardinen so dicht zugezogen waren, dass es dunkel genug war, wirkte die Bowle meist schon, und ich schnobbelte weg im Sessel. Ich habe selten besser geschlafen als bei Kurts Dia-Vorträgen über Gläsers Wanderungen durch den Thüringer Wald. Meist wurde ich erst wach vom Gestank der Insekten, die im heiß gelaufenen Diaprojektor verschmorten. Ach, das waren schöne Zeiten!

Wie dem auch sei, heute kommt es nicht mehr drauf an, ob man einen Film für 12, 24 oder gar 36 Bilder nimmt, man kann mit dem Telefon fotografieren, als würde der Film nie voll.

Hier waren manche Eltern schon die ganze Feierstunde über am Knipsen. Sie animierten die Kinder, zu lächeln und mal hierhin und mal dahin zu gucken. Lediglich beim Kulturprogramm waren die Händis verschwunden, da guckten alle die Bilder durch, ob sie was geworden waren. Als die Schultüten überreicht wurden, brachen alle Dämme, da hielt es fast niemanden mehr auf den Sitzen. Es ging zu wie bei der Bambi-Verleihung auf dem roten Teppich, wenn die Preisträger kommen. Alle rannten wie wild geworden umher und zupften an ihren Kindern rum, dass auch ja der Pony gut sitzt und der Kragen nicht verknüddelt ist, und das alles mit den Händiapparaten vor der Nase. Frau Drossel hatte ein sehr festes Lächeln aufgesetzt, sie kannte das wohl schon und wollte nicht mit grimmiger Miene in den Fotoalben von zwei Dutzend Familien kleben.

Auch ein professioneller Fotograf war zugegen. Er machte nach der Einschulungsfeier Bilder von jedem Kind einzeln mit Ranzen und Schultüte, Gruppenfotos der ganzen Klasse mit und ohne Lehrerin und auf Wunsch auch Familienportraits mit Eltern, Geschwistern und Anverwandten. Ariane war schon schwer am Atmen, als der Herr Fotograf anfing, das Gruppenbild der ganzen Klasse zu arrangieren. Stefan bat mich flüsternd inständig: »Sag bitte nichts, Tante Renate. Sag nichts und frag nichts, Ariane explodiert sonst!«

Sein Flüstern war aber wohl nicht leise genug, denn Ariane hatte nur darauf gewartet, endlich Dampf ablassen zu können.

»Drei Wochen lang habe ich jeden Abend E-Mails zu dem Thema bekommen, in denen die ganzen Eltern hier das Für und Wider diskutierten. Ein paar von den Elsen wollten tatsächlich nicht, dass ihre Kinder auf ein Gruppenfoto gehen, wegen Datenschutz. Und ein paar wollten unbedingt, dass ihr Nachwuchs mittig und in der ersten Reihe steht. Das kann heiter werden, das sage ich euch jetzt schon. Es ist ein Wunder, dass ich noch nicht angefangen habe zu trinken!«

Ich überlegte kurz, ob ich ihr nicht einen Korn aus dem Flachmann in meiner Handtasche anbieten soll, entschied mich aber dagegen. Ariane hätte sich schließlich selbst einen mitbringen können! Ich würde meinen noch brauchen, schließlich gab es später zum Abendessen noch Hefeteigfladen mit Pilzen und Wurst.


Irgendwann waren wir endlich mit unserem Familienfoto dran. Ich stellte mich ganz zurückhaltend an den Rand und ließ der drängelnden Monika, also Arianes Mutter, den Vortritt. Manfred, Arianes Vater, war auch bescheiden und stellte sich neben mich. Das ging ja nun gar nicht! Das sah ja so aus, als wären er und ich … also, man hätte denken können, dass er mein fünfter Gatte ist! Oder noch schlimmer, man hätte ihn für meinen Pflegebegleiter halten können. Ich bestand darauf, dass umsortiert wird: Lisbeth und Agneta in die Mitte, links daneben Stefan, rechts daneben Ariane, und neben Ariane ihre Eltern und ich neben Stefan. So stand Monika zwar ganz am Rand, aber das gehörte sich eben so. Es ging bei dem Bild nicht nach den Launen dieser Dame!

Danach ging der ganze Zauber in der Schule langsam dem Ende zu. Die Kinder verabschiedeten sich von der Lehrerin und von ihren Mitschülern und gingen mit ihren Familien nach Hause zu den privaten Feierlichkeiten. Die übereifrigen Muttis legten ganz besonders viel Wert darauf, dass die Kinder sich von Frau Drossel mit Handgeben verabschiedeten und dokumentierten das auch noch mal mit dem Händitelefon.

Ariane hatte wochenlang rumtelefoniert, um einen Tisch in einer Gaststätte zu kriegen. So ein naives Ding! Die glaubte tatsächlich, kurzfristig vor der Einschulung noch was zu bekommen. Ich wusste schon, dass die Termine im Grunde gleich nach der Geburt des Kindes sechs Jahre im Voraus zu reservieren sind, wenn man gepflegt essen will. An den Einschulungswochenenden sind Tische in guten Restaurants länger im Voraus bestellt als an den Weihnachtstagen. Weihnachten hatten wir mal Glück, da sind wir über eine Warteliste beim Italiener »aufgerückt«, als Bessenscheidts wegen eines Trauerfalls absagen mussten. Fragen Se mich nicht, warum man am heiligen Fest nun Hefekuchen mit Gemüse und Käse drauf essen muss, aber Ariane und Stefan bestehen darauf. Es macht angeblich so viel Arbeit, selbst zu kochen, und an den Feiertagen möchte die feine Frau Winkler nicht in der Küche stehen.

Pah! Dabei macht sie eh nur Rotkohl aus dem Glas warm und kocht Kartoffeln, die Gans bereite ich zu. Aber wissen Se, wenn man alt wird, lernt man den Mund zu halten und fügt sich um des lieben Familienfriedens willen. Und besser als Arianes Büchsenrotkohl von Feinkost-Albrecht schmeckt es beim Herrn Luidschi allemal. Ich nehme immer was Teures von der Karte, nur um Ariane zu ärgern und zum Nachdenken zu bringen. Aber Pustekuchen, das stört die gar nicht! Es ist ihr egal. Jedes Jahr marschieren wir am zweiten Feiertag zu Luidschi und essen Pizza. Sie machen da immer zwei Fütterschichten: Die erste Brigade kommt um elf an die Tröge, die zweite Gruppe um halb zwei. Stefan wurde vor einigen Jahren am Heiligen Abend angerufen, dass wir um elf essen kommen dürften. Das ist zwar noch ein bisschen früh, aber in so einem Glücksfall fragt man nicht lange, sondern ergreift die Chance und Messer und Gabel. Wenn man einmal drin ist, ist man drin. Stefan ist bei diesem ersten Weihnachtsessen, noch bevor die Getränke serviert wurden, zum Chefluidschi an den Tresen gegangen und hat uns für das Jahr darauf wieder in das Reservierungsbuch eintragen lassen. Seitdem haben wir am zweiten Weihnachtsfeiertag ein Abo auf Käsefladen mit Tomate. Na bitte, von mir aus. Aber am Heiligen Abend und am ersten Feiertag gibt es klassisches Menü bei mir! Und es hat auch sein Gutes: Dadurch, dass wir in der ersten Schicht um elf sind, kommen gegen drei kaum Jammerklagen à la »Ich bin noch so satt, Tante Renate«, wenn ich den Kaffee brühe und den Frankfurter Kranz aufschneide. Da haben sie in der Regel schon so weit durchverdaut, dass wieder Platz ist im Magen.

Nun, bei der Einschulung, hatten wir durch das Weihnachtsabo schon ein Bein im Gasthaus, aber leider, leider war doch schon alles voll, hieß es erst. Die Leute hatten wie gesagt schon gleich nach der Taufe für die Einschulung reserviert, überlegen Se sich das mal. Und dabei herrscht gerade im Gastgewerbe ein Kommen und Gehen! Früher, ja, da gab es den Augustenhof mit Dampferanlegestelle an der Havel unten, der wurde über Generationen in der Familie weiterbetrieben. Da feierten wir alle Familienfeste, von Hochzeiten über runde Geburtstage bis hin zum Fellversaufen nach den Beerdigungen. Aber heute? Wo eben noch ein Grieche Lamm am Spieß kredenzt, ist nächste Woche schon ein Café drin, und sie malen einem Herzen aus Hafermilch auf den frisch gebrühten »Scheelchen Heeßen«, wie der Sachse sagt.

Nun hatten wir jedoch den doppelten Glücksfall, dass Borstelmanns ein halbes Jahr vor der Einschulung nach Bielefeld gezogen sind, weil Herr Borstelmann beruflich versetzt wurde. In der Aufregung des Umzugs hat natürlich niemand daran gedacht, bei Luidschi anzurufen und das Essen abzusagen, aber ein paar Wochen vor Schulbeginn machten die vom Restaurant ihre Kontrollanrufe, ob wohl alles dabei bleibt, wie es abgesprochen war, und da kam die Sache ans Licht. Nun erinnerte sich Luidschi an Arianes Anruf, und weil wir mittlerweile Weihnachtsstammkunden sind, traf uns die große Ehre, den Borstelmann’schen Tisch zur Einschulung übernehmen zu dürfen. Ja, das war fast wie ein Sechser im Lotto!

Ich hätte ja auch gekocht für die paar Hanseln, das ist ja kein Problem für eine erfahrene Köchin. Aber für Ariane und Stefan bedeutete es sehr viel, ins Restaurant zu gehen. Ich brachte es gar nicht erst zur Sprache, das hätte eh nur wieder Theater gegeben. Was macht man also als alte Tante? Man hält den Mund, trabt brav überallhin mit und tut so, als ob es einem schmeckt.


Aber vorher sind wir in den Tierpark gefahren. Es war eine lange Diskussion, ob wir in den Zoo oder in den Tierpark gehen, aber Lisbeth, das Einschulungskind, durfte bestimmen, und sie sagte ganz eindeutig: Pandabären hin oder her, sie will mal in den Tierpark. Wir haben ja in Berlin beides, den legendären Zoo im alten Westen und den Tierpark von Professor Dathe drüben in Lichtenberg. Rund um das wunderschöne Schloss Friedrichsfelde erstrecken sich auf weitläufigem Gelände ganz zauberhafte Gehege für Tiere aus aller Welt. Da kann man sehr nett promenieren, und es ist nicht zu überlaufen.

Dachten wir.

Genau wie wohl alle anderen Einschulungsfamilien von Berlin an diesem Sonnabend.

Was meinen Se, was da los war! Wie in Goethes Osterspaziergang schoben sich Scharen von herausgeputzten Menschen durch den Tierpark. Das war aber vor allem am Eingang so gedrängt, im Park verlief es sich dann. Ach, na, was soll ich Ihnen erzählen, es war eben ein Bummel entlang der Tiergehege, wie man ihn sich vorstellt. Die kleine Agneta plärrte nach ein paar Hundert Metern, weil die neuen Schuhe drückten, Manfred fotografierte lieber die Spatzen am Wegrand statt der Zebras, für die wir Eintritt bezahlt hatten, und Lisbeth fragte, was der Erpel, der die Ente bestiegen hatte, da macht. Stefan sagte, das soll sie die Mama fragen, Ariane schimpfte, dass er sich nicht wieder drücken soll, ob er nun Agneta auf den Schultern hat oder nicht. Da war der Erpel aber schon wieder runter von Frau Ente, und Lisbeth interessierte sich mehr für die Haufen, die der Elefant fallen ließ.

Als es auf halb vier ging, wurde es allmählich Zeit, die ganze Meute zu meiner Überraschung zu lotsen. »Guckt mal, ein Eichhörnchen!«, rief ich und zeigte in Richtung der Bänke. Da war gar kein Eichhörnchen, aber weil Monika natürlich ihre feinsten Pumps hatte anziehen müssen und nun schmerzverzerrt hinkte, steuerte sie bereitwillig in Richtung der Bänke, wo Ilse und Kurt warteten.

Ariane guckte erst ein bisschen verwirrt. Stefan hatte die Füße von Agneta vor den Augen und kriegte nichts mit.

»Wenn ich Kuchen gebacken hätte, hättest du dich fürchterlich aufgeregt, Kind«, sagte ich entschuldigend zu Ariane. »Dass Ilse nicht backen darf, hast du nicht gesagt!«

Ich lächelte und half Ilse beim Auspacken der Picknickkörbe. Streusel, Bienenstich, gedeckter Apfel, Kirsch-Streusel … jawoll, Ilse hatte an alles gedacht, sogar an die Buttercremetorte. Sie hatte auch große »Handwerkerstücke« geschnitten, die man gut auf der Hand essen konnte und von denen man auch satt wurde. Dazu schenkte Kurt Kaffee und Kakao aus zwei Pumpkannen in Henkelpötte aus. Nicht in Plastikbechern, pah! Unsere Generation hatte immer schon Henkelpötte aus Porzellan im Picknickkorb, selbst als man dafür noch als altmodisch belächelt wurde. Heute gilt man damit als »nachhaltig« und ist ganz vorne mit dabei. So ändern sich die Zeiten! Ariane schimpfte gar nicht, sondern schüttelte den Kopf und sagte, ich sei unverbesserlich und dass sie nicht wüsste, was sie ohne mich machen würde. Sie drückte mich sogar und bedankte sich auch bei Ilse und Kurt. Alle langten tüchtig zu, für die Spatzen blieben nur wenige Krümel vom Streuselkuchen, der Ilse wirklich ganz hervorragend gelungen war.

Wir kehrten dann zum frühen Abend beim Luidschi ein und nahmen unseren Glückstisch in Beschlag. Monika und Manfred nickten anerkennend. Sie waren beeindruckt. Ein Mann, der einen Tisch am Einschulungstag besorgen konnte, schien ihnen der Richtige für ihre Tochter zu sein. Sollte es nach nun bald sieben Jahren Ehe noch Zweifel gegeben haben, dass Stefan eine »gute Partie« war, waren die jetzt zerstreut. Eine Reservierung zur Einschulung beeindruckte die Leipziger Verwandtschaft mehr als ein Tisch im Käfers-Zelt auf dem Oktoberfest!

Wir aßen gut, nee, ich will nicht meckern. Ich mache da aus meinem Herzen keine Mördergrube und sage ganz offen, dass ich mir aus dem ganzen Kram mit Tomate und Oberschienen nichts mache, aber Stefan bestellte mir einen Auflauf, der wirklich schmeckte. Die Kinder zogen ihre Pizzastücken durch die Zähne und der warme Käse Fäden. Es schmeckte ihnen, obwohl von Ilses Streuselkuchen mehr gegessen wurde. Gut, die Kinder verfütterten die Kanten an die Hängebauchschweine, aber das macht Gertrud auch. Also, sie legt den Kanten Gunter auf den Teller. Dabei ist der Kanten eines guten Hefekuchens das Beste! Gunter und ich wissen das, und würde Gertrud nicht die billige Haftcreme kaufen, könnte sie es auch genießen.

Na, wie dem auch sei. Wir stießen noch auf das Schulkind an, wünschten beste Lernerfolge und ließen den Abend gemütlich bei einem Grappa ausklingen – das ist italienischer Korn –, während die Keramikdynastie zurück nach Leipzig düste.


Der Alltag begann und nahm seinen Lauf. Lisbeth war nun ein Schulkind, und das brachte gewisse Umstellungen im Familienleben mit sich. Da hielt ich mich in den ersten Wochen zurück und ließ die jungen Leute ihren Rhythmus finden. Es ist ja doch was anderes, wenn das Kind pünktlich zu einer bestimmten Zeit in der Schule sein muss. Im Kindergarten war es ganz egal, ob Stefan oder Ariane sie eine halbe Stunde früher oder später ablieferten, aber in der Schule gelten andere Regeln. Nicht umsonst heißt es: »Kind, nun beginnt der Ernst des Lebens!«

Ariane und Stefan hatten mit Lisbeth selbstverständlich in den Wochen vor der Einschulung den Schulweg geübt. Sie waren immer wieder mit ihr den Weg abgelaufen und auch geradelt. Lisbeth war ein pfiffiges und selbstständiges Mädchen, das anfangs noch bis zur großen Kreuzung von Mutti oder Vati begleitet wurde, dann aber recht bald den ganzen Weg allein ging. Andere Schüler wurden verhätschelt und in hochachsigen Geländekarren bis vor das Schultor kutschiert, weil es entweder nach Regen aussah, weil die Sonne so brannte oder weil der Verkehr zu gefährlich war. Dass es genau der Verkehr ist, den Leute wie sie selbst verursachen, so weit reichen die Gedanken dieser Menschen meist nicht. Ariane berichtete mir am Telefon amüsiert von »deinem Nachbarn, dem lustigen Wicht, der uns damals auf dem Campingplatz in die Lücke gewinkt hat, weißt du noch, Tante Renate?«.

Natürlich wusste ich. Günter Habicht. Die Wochen nach dem Schulbeginn sind für ihn, seit er Rentner ist, eine ganz besondere Zeit. Er ist ein bisschen schwierig, aber wie jeder Mensch hat auch er eine pflaumenweiche Stelle in seiner stählernen Brust. Sein schwacher Punkt sind Kinder. Habicht ist einer, der auch in der Steinzeit gut zurechtgekommen wäre. Damals gab es kein Internet, und es wurde jeden Tag Fleisch gegrillt – so was gefällt dem. Er spielt immer gern den Kiezpolizisten, als Schülerlotse darf er sich mit Mütze und Uniform kostümieren, stoppt mit Trillerpfeife die Autos und fuchtelt mit dem Verkehrsstab die Kinder über die Straße. Da geht er auf und hat seine Freude, genau wie seine Frau, die immer froh ist, wenn er eine Aufgabe hat und aus dem Haus ist.

Wie ich schon sagte, ich ließ die jungen Leute sich erst mal einfinden im neuen Alltag mit der kleinen Abc-Schützin. Nach ein paar Wochen schaute ich am Nachmittag aber doch mal vorbei. Wissen Se, die Ariane und Stefan sollten ja auch nicht denken, Tante Renate interessiert sich nicht für sie! Man wandelt da auf einem schmalen Grat, erst recht als alter Mensch. Erscheint man zu oft, rollen sie mit den Augen, aber lässt man sich gar nicht blicken, denken sie am Ende noch, man schert sich nicht oder wird tüddelig und hat sie vergessen. Man kann es im Grunde nur verkehrt machen.

Die Freude war jedoch groß, als ich bei den jungen Winklers erschien, und zwar sowohl bei Lisbeth als auch bei Ariane. Lisbeth zeigte mir stolz ihre Hausaufgaben, und ich betrachtete geduldig Marienkäfer, die nicht über den Rand der Flügel ausgemalt werden durften, und Basteleien mit Kartoffelstempeln.

»Das ist aber hübsch. Und was hast du schon gelernt, Lisbeth?«, fragte ich.

Das Kind guckt mich irritiert an.

»Hä, Oma Nate? Na hier, die Marienkäfer ausmalen!«

»Jaja. Das habt ihr im Zeichnen-Unterricht gemacht. Aber welche Zahlen habt ihr denn schon gelernt und welche Buchstaben? Kannst du schon O-M-A schreiben und M-A-M-A?«

»Schon lange, schon im Kindergarten. Das ist doch pipieinfach!«

Die Kleine lachte und wand sich kringelnd auf dem Stuhl.

Ich versuchte es anders.

»Was für Zensuren hast du denn schon bekommen?«

Lisbeth schlang ungelenk ihre Arme um den Kopf und beguckte mich verschämt durch den Schlitz ihrer Finger, die sie vor die Augen hielt.

»Was sind den Zensuren, Oma Nate?«

»Noten!«

»So was haben wir nicht!«

Ariane schaltete sich ein.

»Tante Renate, das ist alles nicht mehr wie früher. Die Kinder lernen heute anders. Nicht mehr jeden Tag einen neuen Buchstaben, sondern eher spielerisch. Denk nicht, dass mir das gefällt, aber das ist eben so.«

»Bist du dir sicher, dass ihr das Kind nicht versehentlich auf einer Waldorfschule angemeldet habt?«, flüsterte ich erschrocken.

Ariane lachte.

»Ja! Ja, ganz sicher! Mach dir mal keine Gedanken. Es ist eben alles … anders. Die Kinder kriegen in der ersten Zeit keine Zensuren und auch keine Punkte. Die Lehrerin will erst mal alle kennenlernen und das Leistungsniveau der Kinder einschätzen. Es geht wohl darum, dass man die Schwächeren nicht gleich verschreckt, indem man sie mit schlechten Noten niedermacht.«

»Mmmh. Aber den fleißigen Kindern kann man doch ein Bienchen als Lob ins Heft stempeln!«

»Das hatte ich auch gedacht. Aber da kriegen die schwächeren Schüler dann wieder einen Rückschlag und leiden, weil sie KEIN Bienchen bekommen haben.«

Ich konnte das gar nicht glauben.

»Dann geben die Schnarchnasen jetzt also das Tempo vor? Das ist ja wie in der Politik!«

»Tante Renate!«

Ariane musste ein bisschen lachen.

»Aber wenn die pfiffigen Schüler nicht gelobt und gefördert werden, lehnen die sich doch zurück! Die kriegen von Anfang an vorgelebt, dass es reicht, so viel zu tun wie die leistungsschwachen Schüler.«

»Es ist so gewollt, Tante Renate. Ich hatte schon ein Gespräch mit der Lehrerin, die mir bestätigt hat, dass Lisbeth ein kluges Mädchen ist. Oberes Leistungsdrittel in der Klasse. Sie hat mir versichert, dass sie das auf dem Schirm hat und dass von den Noten her alles im Bereich von Einsen und Zweien LÄGE, wenn es welche GÄBE. Das darf sie aber nur unter vier Augen sagen und auf keinen Fall irgendwo hinschreiben, weil wegen das ist eben so und darf nicht anders sein.«

Ariane hatte nach ein paar Wochen schon resigniert, weil sie an Frau Drossel verzweifelt war!


Wenig später war es dann so weit: Lisbeth hatte offiziell in der Schule ihre ersten Buchstaben gelernt! Ganz stolz präsentierte sie mir ein Blatt Papier, auf dem riesengroß O-M-A-R stand, und überreichte es mir.

Also, dafür dass sie O-M-A schon vor der Einschulung schreiben konnte, und zwar sogar richtig, fand ich das Ergebnis nun nicht so bejubelnswert. Zumal das R sogar noch falsch rum gepinselt war, also, der Strich, der nach rechts geht, ging bei Lisbeth nach links. »Ach du je«, dachte ich erschrocken, »was sagt man denn da?« Ich lächelte erst mal, strich Lisbeth über den Kopf und suchte hilflos den Blick von Ariane. Die hob gleich die Schultern und sagte: »Sie sollen so schreiben, wie sie es sprechen und hören. Rechtschreibung ist erst mal nicht so wichtig. Glaub nicht, dass mir das gefällt, aber Lisbeth wird reineweg fuchsig, wenn man sie korrigiert, und die Druss-Hell macht auch ein Donnerwetter!«

Die Kleine mischte sich ein.

»Ja! Ich weiß, dass das falsch ist, Oma Nate. Aber Frau Drossel hat gesagt, wir sollen schreiben, wie es der Banknachbar sagt, und Olivia sagt OMAR! Ich habe ihr dreimal gesagt, dass das ohne rrrrr hinten ist, aber sie wollte es nicht einsehen. Wenn ich es ohne rrrrr geschrieben hätte, hätte Frau Drossel geschimpft.«

Das Kind war reineweg traurig und verunsichert von diesem Quatsch. Ich hatte letztes Weihnachten schon ein Bild von ihr bekommen, auf dem O-M-A stand, ganz richtig geschrieben. Letztes Weihnachten! Da war das Kind gerade fünf und weiter als nach mehreren Wochen Unterricht. Ich hatte ja schon einiges über die Zustände heutzutage an den Schulen gehört, aber das ging nun doch zu weit. Dass die Bildungseinrichtungen jetzt unsre Kinder blöde machen, das konnte ja wohl nicht wahr sein! Ich dachte immer, die Kinder gehen zur Schule, um was dazuzulernen, und nicht, um sich Fehler anzueignen.

Ariane hatte derweil einen Kaffee für uns aufgesetzt. Mit der Maschine. Natürlich war es kein Vergleich zu Handgefiltertem, aber er schmeckte trotzdem ganz gut, und ich sagte ihr das auch.

»Tante Renate, es hat sich viel geändert in der Schule. Verglichen mit deinen Zeiten, aber selbst zu dem, was ich erlebt habe«, seufzte sie nach dem ersten Schluck.

»Das glaube ich dir gerne. Als Kirsten zur Schule kam, war auch nichts wie bei mir damals. Es gab Füllhalter statt Tintenfass auf den Bänken, und die Lehrer durften die Kinder nicht mehr mit dem Rohrstock züchtigen. Aber drei und drei war noch immer vier! Sechs, meine ich! Es wird sich schon alles zurechtruckeln. Auch für euch als Eltern ist es eine Umstellung. Wenn die Kinder zur Schule gehen, ist eben doch was anderes, als wenn ihr sie morgens in der Villa Wackelzahn abgebt!«

Villa Wackelzahn war der Name von Lisbeths Kindergarten. Die sind ja bei der Benennung von Kindergärten auch immer alberner, es ist schlimmer als bei den Friseurläden. Aber gut, wenn das Altenheim »Haus Abendsonne« heißt, soll der Kindergarten meinetwegen auch »Villa Wackelzahn« heißen.

»Nee, Tante Renate, das ist es nicht. Zwei und zwei ist vier, ja. Aber MAMA darf durchaus mit drei M geschrieben werden! Wir müssen noch froh sein, dass Lisbeth nicht neben Ronny sitzt. Der ist aus Zwickau zugezogen, und seine Mutter sagt zu seiner Jacke ›Anziehzeich‹, stell dir mal vor, wie der das ausspricht und schreibt!«

Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen.

»Die lassen den Kindern so viel Freiräume, dass dir die Ohren schlackern«, fuhr Ariane fort. »Wir haben Lisbeth so erzogen, dass sie still am Tisch sitzt, wenn gemalt wird, dass sie zuhört und einem nicht ins Wort fällt, und sie kann sich auch die Schnürsenkel alleine zubinden, seit sie vier ist. Und jetzt? Jetzt sitzt sie mit über zwanzig Kindern in einem Klassenraum, die können sich teilweise noch nicht mal den Hintern alleine abwischen. Da muss dann die Lehrerin mit. Manche sind es auch nicht gewohnt, ruhig zu sitzen, und fangen nach ein paar Minuten an, einfach durch die Klasse zu toben. Die Druss-Dings steht alleine mit den Kindern da und schafft es manchmal nicht mal, sie zu zählen, weil alle durcheinanderwuseln. Neulich wurde ein Junge erst zur zweiten Stunde gebracht, weil er seinen Trickfilm noch zu Ende gucken wollte. Das hatte die Drossel nicht mal gemerkt. Sie haben vier Kinder in der Klasse, die kein einziges Wort Deutsch verstehen, und ein Mädchen im Rollstuhl. Das ist alles prima und richtig so, versteh mich da nicht falsch. Aber es kann doch nicht sein, dass da keine weitere Hilfe geschickt wird. Es heißt: ›Wir haben keine Leute, die Stellen sind ausgeschrieben, und der Personalrat würde auch zustimmen, aber es bewirbt sich niemand.‹ Also bleibt alles an Frau Drossel hängen. Na, und während sie Juri und Murad mit viel Mühe beibringt, wie man ein R malt, verkeilt sich Melody-Cecilia mit ihrem Rolli unter der Bank, die dafür gar nicht gemacht ist. Ihre Lernbegleiterin kommt nur zweimal die Woche für eine Stunde, für mehr wird sie nicht bezahlt. Während Frau Drossel also noch mit dem kleinen Ukrainer mit Händen und Füßen diskutiert, dass das R mit Strich nach rechts gemalt wird, hat Lisbeth es schon falsch gesehen und nachgepinselt. Der Drossel kann man da keine Schuld geben, die reibt sich wirklich auf und schreibt jede Woche Beschwerden, dass endlich der behindertengerechte Tisch für Rolli-Melody geliefert wird.«

Sie holte tief Luft und nahm einen großen Schluck Kaffee.

Ich wusste gar nicht recht was zu antworten, aber das erwartete Ariane auch gar nicht von mir. Sie strich sich eine lose Haarsträhne aus der Stirn und machte sich weiter Luft:

»Es darf aber nicht sein, dass das Mädchen als Einzige einen behindertengerechten Tisch bekommt, weil das ausgrenzend wäre. Die Kinder sitzen ja nicht mehr mit festen Nachbarn in ihren Schulbänken, sondern in Arbeitsgruppen im Karree und werden immer neu gemischt. Deshalb müssen nun alle Tische behindertengerecht umgerüstet oder ausgetauscht werden. Das geht aber nicht voran, weil es erstens irre teuer ist und zweitens die Integrationstante Einspruch eingelegt hat gegen das Wort ›behindertengerecht‹. Das ist nämlich dis-kri-mi-nie-rend! Die sind alle bekloppt in dem Zirkus, sage ich dir, und greifen sich auch noch gegenseitig in die Speichen!«

Ja, das konnte ich mir gut vorstellen. Das hat man oft, wenn Leute nur befristet eingestellt sind. Dann wollen sie unbedingt auffallen und beweisen, dass sie unentbehrlich sind und dass ihre Stellen verlängert werden müssen, und dann machen die so einen Zinnober.

Ariane nahm einen weiteren Schluck Kaffee. Das Mädel musste aufpassen mit dem Blutdruck, wenn sie so viel Koffein zu sich nahm. Zweimal der Wert zu hoch, und schon schreibt Frau Doktor Bürgel ihr da eine Tablette auf, morgens und abends vor dem Essen.

»Ich weiß nicht, wie die Drossel das aushält. Die meiste Arbeit sieht man ja gar nicht. Einfach zu sagen, Lehrerinnen und Lehrer würden in der Woche nur 28 Stunden arbeiten, und noch dazu wären die Stunden nur 45 Minuten lang, ist genauso falsch, als würde man sagen, ein Fußballspieler arbeitet in der Woche nur 90 Minuten. An die Vorbereitung der Diktate denkt ja keiner und erst recht nicht an die vielen Konferenzen, und der Unterricht muss vorbereitet werden, und sie muss ständig Zettel kopieren und Klassenarbeiten korrigieren. Und was keiner bedenkt: Wie viele Stunden für WhatsApp mit den Eltern draufgehen! Sie hat ja nicht nur das Theater mit den Leuten in der Schule, mit ihren ganzen Helfern, die ihr versprochen werden und nicht kommen, und mit der Schulbehörde. Sie hat ja auch noch die ganzen bescheuerten Eltern am Hals!«

»ARIANE! Mäßige dich! Das Kind!«

»Jaja. Du hast ja recht. Aber die haben wirklich alle einen an der Klatsche, und das kann ich belegen. Die haben darauf bestanden, eine WhatsApp-Gruppe zu gründen. Dieselbe Irre, die das im Kindergarten schon mal gemacht hat. Da wurde dann stundenlang über das richtige Gemüse für die Frühstücksbüchse diskutiert, und ich bin einfach ausgetreten.«

Ich erinnerte mich mit Amüsement. Ariane hatte mich das damals lesen lassen, und es war wirklich schwer gewesen, zu glauben, dass das von erwachsenen Menschen geschrieben worden war.

Sie seufzte und holte ihr Händi aus der Tasche.

»769 neue Nachrichten in der Gruppe«, las sie vor und schielte zur Kaffeetasse. Sie merkte wohl aber selbst, dass noch ein Schluck keine Lösung war.

»Die Hälfte der Nachrichten ist wahrscheinlich wieder von Reinhold. Reinhold ist aus Versehen in die Gruppe geraten. Weißte, Tante Renate, den hat die Mutter von Donnie-Oleander vor ein paar Jahren bei Tinder aufgetan, der wohnt in Rosenheim, und seine Nummer … na ja. Jedenfalls versucht er seit Wochen flehentlich aus der Gruppe entlassen zu werden, aber irgendwie klicken alle, die ihn da entfernen könnten, ständig falsch. Stefan und ich lachen uns jeden Abend kringelig.«


Früher war Schule ganz anders. Man kann die Zeit nicht zurückdrehen, ich will es auch gar nicht. Es gab damals viel Blödsinn, genauso wie es heute viel unsinniges Zeug gibt. Die Zeit nimmt ihren Lauf, und alles verändert sich. Dass der Lehrer mit dem Rohrstock durch die Reihen geht und denen, die schwatzen, damit eins auf den nackten Hintern gibt, das war damals nicht in Ordnung und ist heute unvorstellbar. Niemand will das zurück. Aber ein bisschen mehr Ordnung, Respekt und Anstand bringt doch eine konzentriertere Atmosphäre zum Lernen. Wir Schüler durften nicht schwatzen, sondern nur reden, wenn wir gefragt wurden, und hatten uns zu melden und aufzustehen, wenn wir Antwort gaben. Damit ecke ich, die ich nie mit meinen Gedanken hinter dem Berg halte und rede, wie mir der Schnabel gewachsen ist, bestimmt an, aber das ist mir egal. Wie oft plapperte ich mich schon als Schulmädchen um Kopf und Kragen! Meine Mutter hat mich als kleines Kind immer wieder bremsen wollen und zischte mir oft »Nein, Renate!« zu. Auch der Herr Lehrer rief so oft »Nein, Renate!«, dass Ilse, die damals meine Banknachbarin war, zu Hause erzählte: »Schule ist prima und macht Spaß. Neben mir auf der Bank sitzt ein Mädchen, das heißt Neinrenate. Sie ist meine Freundin.« Ilses Mutter hat die Geschichte bei jeder Feier erzählt, ach, das war so spaßig! Ja. Nee.

Wo war ich?

Also, die Tragik ist, dass ich im Grunde genau weiß, wann ich besser den Mund halten sollte, aber während ich das noch denke, höre ich mich schon reden.

Auch das Geplemper mit der Tintenflasche war eine Schweinerei, die niemand mehr haben will. Das kennen Se bestimmt auch nicht mehr, oder? In jeder hölzernen Schulbank war eine kleine Ausfräsung, in der ein kleines Tintenfass eingelassen war. Wir schrieben erst noch mit Federkiel, später dann mit einer Metallfeder. Aber man musste immer »einstippen« ins Tintenfass, und zu den täglichen Diensten von uns Schülern zählte es, dass einer nach dem Unterricht mit der großen Tintenflasche rumging und nachfüllte, wo es nötig war. Das war eine der nicht so beliebten Aufgaben, weil immer die Gefahr bestand, sich zu bekleckern, und dann setzte es zu Hause was. Sicher, wir trugen in der Schule keine Sonntagskleider, aber trotzdem war Mutter böse. Tinte ging nicht gut raus, und das Kleid musste lange eingeweicht werden, bevor es in den Kessel zur Kochwäsche kam. Zu den beliebteren Diensten zählte es, die auf dem Anger hinter der Schule angebundenen Ziegen des Herrn Lehrer alle vier Stunden umzupflocken. Da durfte man nämlich außer der Reihe kurz raus aus der Klasse, auch wenn gar keine Pause war. Dem Herrn Lehrer waren seine Zicken und dass sie immer genug Grünes zu fressen hatten, sehr wichtig, und deshalb teilte er den Dienst auch gern zuverlässigen Schülern quasi als Belohnung zu. Wer welchen Wochendienst hatte, wurde immer auf der rechten Tafelseite notiert, die damals noch schwarz statt grün war. Die Diensteinteilung durfte auch die ganze Woche über nicht abgewischt werden, erst am Sonnabend nach der letzten Stunde. Ja, am Sonnabend, Sie haben richtig gelesen! Wir gingen auch am Sonnabend in die Schule, und keiner hat einen Schaden davongetragen. Nach der letzten Stunde vorm Wochenende hat der Tafeldienst richtig gründlich feucht gewischt, bis die Tafel tiefschwarz glänzte und das letzte Fitzelchen weißer Kreide runter war. Tafeldienst war ein eher wenig begehrter Dienst, denn man musste nicht nur am Sonnabend, wenn alle anderen Kinder schon nach Hause tobten, länger bleiben, sondern man musste auch den ekligen Tafelschwamm anfassen. Ich bezweifle ja bis heute, dass die Lepra tatsächlich in Deutschland schon ausgestorben war, ich bin mir sicher, dass in unserem Lappen noch ein Stamm jahrelang weiterexistiert hat. Hätte der Professor Drosten unseren Schwamm gesehen, er hätte ganz leuchtende Augen gekriegt.


Ich spazierte gerade zu Inge Bissbein, wissen Se, die hatte Geburtstag gehabt ein paar Tage vorher. Da wollte ich mich nachträglich zum Gratulieren blicken lassen, wenn ich schon am Ehrentag nicht da war. Aber das war Absicht, ich hatte es nicht vergessen! Ich will die Freundschaft zu ihr nicht zu eng werden lassen. Das ist so eine, die Sitzfleisch hat, die sich einem bei jedem Anlass auf die Küchenbank pflanzt und nicht wieder geht. Davon habe ich schon genug olle Elstern im Freundeskreis. Ich war also unterwegs mit einem Päckchen Weinbrandkirschen zur Bissbeinschen und ahnte nichts Schlimmes, da kam mir Frau Schlode auf dem Bürgersteig entgegen. Herrje, die fehlte mir noch! Frau Schlode ist eine wirklich nette Person mit herzensgutem Charakter, aber sie ist eben auch etwas aufdringlich und schwer zu bremsen. Sie singt und tanzt gern und lässt keine Gelegenheit aus, ihre … also, die rückt bei jedem Anlass mit dem Kinderchor, mit der Volkstanzgruppe, mit dem Männerchor oder seit Neuestem auch mit ihrer Frauenbläsergruppe an und führt ein Kulturprogramm auf. Das muss man mögen.

Es war schon zu spät, die Straßenseite zu wechseln, ohne dass sie es als Affront hätte deuten müssen, da half nur tapfer lächeln und Eile vortäuschen.

»Frau Bergmann!«, flötete sie mir entgegen, »wir haben uns ja lange nicht gesehen. Bei Ihrer Kleinen zur Einschulung, wenn ich mich recht erinnere. Geht’s gut, alles gesund?«

Bei Frau Schlode muss man jedes Wort überlegen. Mit jeder noch so unverfänglichen Frage entlockt die einem Informationen, die man lieber nicht preisgibt. Hätte ich jetzt geantwortet, dass ich unterwegs bin zu Inge, hätte sie kurzfristig eine Schar Kinder in ihr Auto geladen und wäre zum Singen dort vorgefahren. Hätte ich erzählt, dass Gertrud gestern Gallenpiksen hatte und sich auf der Couch langgemacht hat, wäre sie mit ihren Posaunenfrauen zum Krankenbesuchsblasen da hinmarschiert und hätte »Zwei kleine Italiener« vortragen lassen. Ganz egal, was man sagt, die Frau findet immer und überall einen Anlass, Musik zu machen. Deshalb habe ich es mir angewöhnt, gleich Gegenfragen zu stellen, um sie zu verwirren.

»Danke der Nachfrage, Frau Schlode. Mir geht es prima, ich hoffe, Ihnen auch? Sind Sie einkaufen, oder bummeln Sie nur ein bisschen durch die Gegend?«

»Ach, Frau Bergmann, wie gern würde ich mal wieder bummeln! Aber dafür habe ich gar keine Zeit.«

Jaja. Ich wusste Bescheid, wissen Se, Kurt singt bei ihr im Männerchor. Schon im Frühsommer malträtiert sie die Männer mit neuen Liedern für das Adventsrepertoire. Die Herren müssen ab Juli schon die Tonleitern für »Stille Nacht, heilige Nacht« üben. Ilse wird da immer fast wahnsinnig, wenn Kurt bei der Gartenarbeit seine Hausaufgaben singt. Die Schlode ist mit den Weihnachtsliedern noch früher dran als der Radiosender mit diesem »Last Christmas«.

Aber es war gar nicht der Männerchor, der Frau Schlode so auf Trab hielt.

»Jeden Tag Klassenarbeiten, Klausuren, Leistungskontrollen und Lehrerkonferenzen. Ich weiß gar nicht, wo mir der Kopf steht, Frau Bergmann!«

Ach, ich hatte ja ganz vergessen, dass Frau Schlode in den Schuldienst gewechselt war! Die nehmen ja jetzt jeden als Seiteneinsteiger. Manche sagen auch Quereinsteiger. Ich sage lieber Seiteneinsteiger als Quereinsteiger, wissen Se. Sonst kommt man noch durcheinander mit den Querdenkern, und damit will man als anständiger Mensch nichts zu tun haben. Das ist im Grunde eine prima Sache, dass in der Schule nun auch Nichtstudierte mithelfen können, aber für die Politiker auch sehr bequem. So müssen se sich nicht drum kümmern, dass mehr Studenten Lehrer werden und denen bessere Bedingungen schaffen. Sie sammeln einfach alle ein, die im Kindergarten, in der Berufsschule oder auch als Taxifahrer keine Lust mehr haben und lieber vor der Klasse unterrichten wollen. Ein paar Kurse zur Schnellbesohlung, und zack!, sind neue Lehrer fertig. Mittlerweile ist an den Grundschulen schon jeder fünfte Lehrer so ein von der Seite Reingehüpfter. Da fragt man sich doch, ob es gut ist, dass so viele Leute ohne Pädagogikkenntnisse auf die Kinder losgelassen werden, noch dazu jemand wie Frau Schlode. Aber ich bin ungerecht, sie ist eine liebe Person. Sie singt eben gern und oft so laut, dass mir das nicht gefällt, aber das ist meine persönliche Sache. Andere mögen es.

Jedenfalls hat es damals in den Conora-Lock-Lock-Zeiten Ärger gegeben, als ständig gelüftet werden musste. Das wissen Se bestimmt auch noch. Im Kindergarten, wo Cornelia Schlode bis dahin täglich »Zeigt her eure Füßchen« tanzte, musste alle paar Minuten das Fenster aufgerissen und gelüftet werden. Gegen die Kälte – es war ja Winter! – hat sie wohl hin und wieder ein paar kleine Spaßmacherfläschchen zum Aufwärmen gepichelt. Das hatte dann zur Folge, dass sie mit den Kleinen »Zehn nackte Friseusen« anstimmte und ihnen auch den Text beibrachte. Als ein paar Kinder das zu Hause am Abend erschreckend textsicher vortrugen, gab es ein bisschen Ärger, und man hatte ihr nahegelegt, sich erst mal ein paar Wochen krankschreiben zu lassen. Sie hat das dann zum Anlass genommen, in den Schuldienst zu wechseln. Wissen Se, ich glaube, das war auch die richtige Entscheidung. Die nehmen da tatsächlich fast jeden, der nicht gerade was im Vorstrafenregister stehen hat. Der Friseusenvorfall war nicht aktenkundig geworden, und deshalb hatte Frau Schlode freie Bahn. Mittlerweile können die Seiteneinsteiger ja sogar verbeamtet werden – na, besser kann sie es doch gar nicht haben! Sie war jedenfalls Feuer und Flamme und bei allem Stress wirklich begeistert von der neuen Arbeit, was mich freute. Nicht nur, weil sie terminbedingt vielleicht auf das eine oder andere Kulturprogramm verzichten musste und wir im Nachbarschaftstreff das Kuchenessen der Monatsgeburtstagkinder eventuell ohne Gesangsvortrag über die Bühne bringen könnten, sondern ich freute mich auch ganz persönlich für sie, dass es ihr so gut ging.

»Und der Klassenraum ist immer schön warm?«, fragte ich ganz unverfänglich, und Frau Schlode lachte neckisch. »Sie sind ein Schelm, Frau Bergmann! Es ist alles ganz prima, es macht große Freude. Wir sind nur viel zu wenig Personal. Wenn wir bloß Unterstützung hätten, von Lernhelfern zum Beispiel oder weiteren Seiteneinsteigern.«

Soweit ich weiß, sind für die Bildung und den ganzen Schulapparat die Bundesländer zuständig, und das verteidigen sie auch mit Zähnen und Klauen, wenn ihnen einer dranwill, genau wie Katerle sein Fresschen, wenn es »Menü mit Huhn« gibt. Was meinen Se, wie der fuchsig wird, wenn ich da drangehe, da muss ich damit rechnen, dass er mich kratzt. Der Bund, also die Regierung in Berlin, soll nur immer Geld für dies und für jenes geben, sich aber zum Teufel noch mal raushalten, wenn es ans Ausgeben geht. Ich kenne das ähnlich aus den Zeiten, als Stefan noch nicht verheiratet war. Da musste Tante Renate auch ständig einen Zehner oder einen Zwanziger geben, und wenn ich sagte: »Aber, Junge, davon kaufst du dir eine schöne warme Winterjacke!«, dann hat er nur unverständlich gemurmelt. Da wusste ich, dass der das wieder auf den Kopp haut für Pizza und Kola. Furchtbar! Dass der Junge nie Läuse im Bauch gekriegt hat, ist mir bis heute ein Rätsel.

So ähnlich ist das mit dem Geld, das der Bund den Ländern für die Bildung ständig geben muss: Erst plärren sie rum, und dann verballern sie es für Quatsch.

»Wir wollen neue Lehrer einstellen«, versprechen se. Ja, das klingt erst mal prima. Aber es ist Augenwischerei, denn es gibt keine Lehrer, die man einstellen könnte! Es studieren nämlich viel zu wenige, und von denen, die anfangen, hören viel zu viele ganz schnell wieder auf und studieren nicht fertig oder wechseln zu was anderem, wo man besser verdient und man sich nicht mit den unerzogenen Blagen wirklichkeitsfremder Eltern rumärgern muss. Wenn die in der Zeitung eine Annonce schalten, dass sie Lehrer einstellen, ist das genauso lächerlich, wie wenn sie Pflegeschwestern suchen. Da muss man noch mal einen Meter zurücktreten und gucken, was das wirkliche Problem ist: Dass es keine Leute gibt, die den Beruf lernen und dann auch in ihm arbeiten wollen. Und warum? Weil es nicht attraktiv ist, und da rede ich nun wahrlich nicht nur vom Geld. Da geht es noch um ganz andere Dinge! Arbeit bis spät in die Nacht und am Wochenende, Überlastung, quengelnde Eltern, Kinder, die frech und beleidigend werden, und all solche Sachen. Das kann man keinem verdenken, dass die Leute dann lieber einen Laden aufmachen und Kaffee mit Sojaschaumgemälde drauf verhökern. Da lebt man ruhiger und kann bei der Arbeit mit den Kunden hin und wieder noch ein Gläschen Sekt schnabulieren. Das ist in der Schule ja eher schwieriger.

»Gestern hatte ich sechs Stunden«, fuhr Frau Schlode fort, »und dazu noch die Bereitschaftsstunde in der achten, in der ich dann Frau Geigenfänger vertreten und in der zweiten Klasse Mathematik unterrichten musste, dann noch die Korrektur der Klassenarbeiten und abends Chorprobe. Aber bald sind ja Ferien. Ich muss nun auch weiter. Haben Sie einen schönen Tag, und bitte, grüßen Sie Frau Bissbein von mir! Ich habe es leider nicht mit den Kindern zum Singen geschafft, sie soll nicht böse sein. Aber es war ja kein runder Geburtstag. Bleiben Sie gesund, Frau Bergmann!«, rief sie noch im Gehen, und dann war sie auch schon weg.

Ich stand wie verdattert da.

Woher in drei Teufels Namen wusste die, dass ich zu Inge Bissbein wollte? Ich hatte ganz genau darauf geachtet, dass ich auch nicht im Ansatz was dazu sagte! Aber die Schlode ist gerissen, das sage ich ja immer. Bei der muss man immer auf der Hut sein. Eine Art »Miss Marples Tochter aus Spandau«. Sie hat alle Daten im Kopf, von sämtlichen Rentnern im Kiez, weil sie doch ganz dicke ist mit der Sibylle aus dem Einwohnermeldeamt, mit der tanzt sie in der Leinentanzgruppe. Leindänz. Ich glaube, die hält sich nur an die Sibylle, um an die Rentnergeburtstage zu kommen. Die kann ja im Amt alles nachgucken in ihrem Computer. Man darf Cornelia Schlode nie unterschätzen. Wenn es darum geht, einen Anlass für ein Kulturprogramm zu finden, kennt die Frau keine Grenzen. Offenbar hat sie bei aller Hektik aus der Größe des Blumenstraußes – fünf Nelken mit ein bisschen Grün von meiner kleinen Blumenfrau Marina am Markt, das reicht ja als Aufmerksamkeit –, dem Konfektkasten und meiner Gehrichtung messerscharf geschlussfolgert, dass ich zur Bissbein will. Wissen Se, sosehr sie mich nervte, ich bewunderte sie auch ein bisschen. Solche Fähigkeiten!

Ich beeilte mich, zu Inge zu kommen. Nicht, dass die Schlode ihre Lehrerkonferenz schwänzte und doch noch »Ein Männlein steht im Walde« aufführte!


Es fing dann ganz langsam an, kaum merklich. Ich konnte im Grunde gar nichts dagegen machen.

Jedenfalls war es nicht so, dass ich einfach in die Schule reinspaziert bin und angefangen habe zu unterrichten, nein, das dürfen Se nicht denken! Wenn ich mich recht erinnere, war es so, dass Frau Schlode mich gebeten hatte, ihr die Notenhefte in die Schule zu bringen, die die Klarinetten-Ingrid am Vortag im Seniorenverein hatte liegen lassen. Ich wollte die erst beiseitebringen, aber nützt ja doch nichts. Die kaufen neue Noten und pusten weiter in die Tubas, da kennen die kein Erbarmen. Jedenfalls habe ich die Frau Schlode am Abend gleich angerufen und ihr gesagt, dass ich die Noten gefunden und in Obhut genommen habe. Das gehört sich schließlich so. Sie reagierte mit lautem »Ahh!« und »Ohh!« und rief wohl ein gutes Dutzend Mal in den Hörer, wie nett das von mir ist. Dann zählte sie mir ihr ganzes Programm der nächsten Tage auf, wohl um zu verdeutlichen, dass sie keine Zeit hat, bei mir vorbeizukommen. Darauf legte ich auch wirklich keinen Wert, wissen Se, bevor mir die Pustetanten zum Dank hier noch »Der Puppenspieler von Mexiko« im Hausflur blasen, schlug ich vor, dass ich ihr die Noten auch in die Schule bringen könnte. Dem Vorschlag folgten dann noch mal fünf Minuten lang »Ahh!« und »Ohh« und »Ich weiß gar nicht, wie ich das jemals wiedergutmachen kann, Frau Bergmann!«, aber dann hatten wir es.

Am Tag drauf bin ich hin zur Schule, wo die Schlode Dienst tut. Es war gerade Pause, und auf dem Hof wuselten die Kinder rum. Die allermeisten starrten auf ihre Händis, aber einige tobten auch, spielten Fangen, und ein paar Mädels hatten sich sogar die Felder für einen Hickelkasten mit Kreide auf den Beton gemalt und hopsten durch Himmel, Post und Hölle. Ach, dass es so was noch gab! Mir huschte ein Lächeln über die Lippen, und fast hätte ich Rock und Unterrock gerafft und wäre mitgehopst. Aber ich ließ das lieber bleiben. Wissen Se, ich habe eine künstliche Hüfte, und ehe ich auf Feld drei bin, hopst mir der Hüftknochen aus der Pfanne. Das will man ja nicht. Ich bin dankbar, dass ich so gut zurechtkomme und ohne Stock gehen kann.

Ich bin dann rein in die Schule und guckte nach der Schlode. Da hat keiner gefragt, wo ich wohl hinwill und wer ich wohl bin. So was hätte es früher auch nicht gegeben! Da hatten wir einen Hausmeister, der morgens schon lange vor der ersten Stunde Feuer in den Kachelöfen der ganzen Klassenzimmer gemacht hat. Der ging mit Glut auf einer Kohlenschippe von Raum zu Raum, heizte die Öfen an und ließ erst mal ein paar schmale Scheite Holz anbrennen, bevor er eine Handvoll Kohlestücke anlegte. Erst als die Briketts in Glut standen, schippte er reichlich Kohle auf und drehte die Zugklappe zu. So war es schön warm, wenn wir um sieben zum Unterricht kamen.

Ja, um sieben!

Das ist ja heute auch gar nicht mehr vorstellbar, da haben Se dann ganze Heerscharen von Hubschraubereltern in der Versammlung sitzen, die einem Gutachten vorlegen, dass ihre Kinder vom frühen Aufstehen einen unheilbaren Schaden kriegen und dass es ihren Bio so aus dem Rhythmus bringt, dass sie nie wieder ohne Hilfe von Sozialarbeitern zur Schule gehen können.

Sei es, wie es sei, jedenfalls hatten wir einen Hausmeister, der nicht nur heizte, sondern auch guckte, dass die Bengels keine Dämlichkeiten machen, der lose Türklinken mal festschraubte, am Fahrradständer fegte und auch ein bisschen ein Auge darauf hatte, dass im Schulgebäude nicht gerannt wird. Schließlich war da gebohnert, und es war glatt! Der Hausmeister gab auch acht, dass kein Fremder einfach so in die Schule reinkam, der da nichts zu suchen hatte. Das wäre eine schöne Aufgabe für unseren Herrn Habicht, möchte ich am Rande mal anmerken.

Hier jedenfalls war es kein Problem, einfach reinzuspazieren. Es liefen so viele Erwachsene durch die Flure, dass ich mich schon fragte, ob ich wohl richtig bin in der Grundschule. Das konnten im Leben nicht alles Lehrer sein, wo doch Lehrermangel war? Ich überlegte kurz, ob ich mich wohl im Gebäude geirrt hatte und statt in der Schule im Bauamt gelandet war, aber nee. Ich war richtig.

Später, im Laufe der Zeit, lernte ich dann, wer das alles war. Lehrer sind ja in einer Schule heutzutage von der Anzahl her beinahe die wenigsten. Da rennen aber Lernhelfer, Schulbegleiter, Sozialarbeiter, zum Krisengespräch einbestellte Eltern, Mediatoren, Gastdozenten und was weiß ich nicht alles rum. Wenn man doch mal auf einen Lehrer traf, war der mit Sicherheit auf dem Weg zum Personalrat oder zur Gleichstellungsbeauftragten, um sich über irgendwas zu beschweren. Oder auf dem Weg zum Sekretariat, um Zettel zu kopieren.

Nach ein bisschen Suchen und Fragen fand ich Frau Schlode im Raum 102. Sie war noch mit einer Mutti im Gespräch, deutete mir aber freudig an, dass sie mich gesehen hatte und gleich käme.

Ja, und während ich wartete, sprach ich eben die Kinder auf der letzten Bank an und ließ mir zeigen, was sie da machten.

Sie hatten »Arbeitsblätter« und sollten was ankreuzen. Das ist auch so eine Sache! Warum geben se den Kindern kein Schulbuch? Immer nur einzelne Seiten, und die müssen dann bunt bemalt werden, und es gibt ständig ein riesiges Theater um die Herstellung dieser Zettel. Dafür müssen die Lehrerinnen und Lehrer nämlich an den Kopierer, und davon gibt es in der ganzen Schule nur einen. Der steht im Sekretariat, wo Frau Lossack Bindestrich Klauenseil ihn bewacht.

Nee, ohne Bindestrich.

Also, schon mit Bindestrich, aber nicht gesprochen. Lossack-Klauenseil heißt sie, Elvira Lossack-Klauenseil, die Schulsekretärin. Die lernte ich in den folgenden Wochen und Monaten als die wichtigste Person der ganzen Schule kennen, die war viel wichtiger als die Direktorin, die Frau Langhans. Letztere war fast nie da, weil sie entweder Konferenzen mit anderen Schulleiterinnen, Termine im Ministerium oder Untersuchungen wegen ihrer Magengeschwüre hatte. Aber Frau Lossack-Klauenseil hielt ihr den Rücken frei und die Zügel fest in der Hand. Bei ihr liefen alle Informationen zusammen, sie bewachte nicht nur den Kopierer, sondern auch das Büromaterial. Damit wurden die ja sehr knapp gehalten an der Schule, das war immer Mangelware. Um jeden Satz Arbeitsblattkopien musste man betteln, und es wurde von zwei Leuten nachgezählt, dass auch ja kein Zettel zu viel rausgegeben wurde. Fehlte nur noch die notarielle Aufsicht! Frau Schlode sagte: »Lehrer und Kindergärtner sind die einzigen Berufe, bei denen man Büromaterial zu Hause klaut und mit zur Arbeit bringt statt umgekehrt.« Die Lossack-Klauenseil war auch die zentrale Anlaufstelle für die telefonischen Krankmeldungen der Eltern für ihre Engelchen. Die gab sie weiter an die zuständigen Lehrer, und man musste wirklich staunen: Sie hatte die Namen alle im Kopf, sie wusste, welches Kind in welche Klasse ging und auch, welcher Lehrer zuständig war. Das klingt erst mal nicht schwierig, aber Sie müssen wissen, dass erstens die Kinder heute alle sehr kompliziert heißen, und zwar nicht nur vornerum. Oft sind die Eltern nicht verheiratet, und es kommt durchaus vor, dass ein Vater anruft, der ganz anders heißt als sein Kind. Zweitens gibt es Kurse, Jahrgangsstufen und so Zeug, so wie wir das kennen, mit Klassen, ist das in den höheren Jahrgangsstufen gar nicht mehr unbedingt verbreitet, und drittens ändern sich die Zuständigkeiten ja auch alle naselang! Mal, weil die Lehrer die Schule wechseln und jemand anders einspringen muss, mal, weil sie ein halbes Jahr wegen Börnaut ausfallen und in Kursen unter Anleitung von Therapeuten Eierwärmer filzen, um ihre Nerven wieder auf die Reihe zu kriegen. Die Sekretärin hatte hinter sich eine große Wand mit bunten Täfelchen aus Plastik, auf denen sie Nummern und Namen stehen hatte. Die klapperte sie ständig hin und her, und anders als ihr Computer, der sich immerzu aufhängte, wusste sie so stets und auf einen Blick, wer in welchem Raum welchen Unterricht hat, wo eine Freistunde war und auch, wer einspringen konnte.

Aber ich greife schon vor, denn das erfuhr ich alles erst im Laufe der Zeit. Eigentlich wollte ich an dem Nachmittag doch nur die Notenblätter bei Frau Schlode abgeben, aber während ich wartete, erklärte ich den drei Mädchen auf der letzten Bank die Aufgaben, mit denen sie sich quälten. Sie lauschten und guckten ein bisschen komisch, aber während ich der kleinen Leonie was auf die Finger gab, weil sie schon wieder abzählen wollte, was 7 + 4 ist, sagte die andere: »So wie die Oma es erklärt hat, ist doch ganz einfach, guck mal!« Sie nahm der Leonie das Blatt weg und trug alle Lösungen richtig ein, und das gerade in dem Moment, als Frau Schlode auf uns zukam. »Sie können aber gut mit Kindern, Frau Bergmann … das habe ich damals schon bemerkt, als Sie mit dem kleinen Jeremy-Elias das Weihnachtslied gesungen haben!«

Du liebe Zeit, ach, das war eine Schose! Das Krippenspiel und die Kinder … und die Schafe, die uns das ganze Kirchenschiff vollgekötelt hatten! Aber schön war es, und der kleine Berber hatte mit erst dünnem, aber dann immer kräftigerem Stimmchen »Stille Nacht, heilige Nacht« gesungen. Wirklich schön. Auch wenn die Kirche noch beim Ostergottesdienst nach Hammel müffelte.

Ich übergab Frau Schlode erst mal die Notenblätter und sagte mehrfach – unter Zeugen, die Kinder waren dabei! –, dass ein Dankkonzert der Bläsergruppe wirklich nicht nötig sei. Zu meiner Überraschung war das auch gar kein großes Thema für Cornelia Schlode. Stattdessen fing sie auf einmal an, mich ganz anders zu umgarnen.

»So gut wie Sie mit den Kleinen umgehen, sollten Sie öfter herkommen, Frau Bergmann! So eine prima Lernhelferin, wie Sie es sind … mit Ihrer Erfahrung können Sie den Kindern … ich glaub ja wohl, ich sehe nicht richtig!«, hörte sie mitten im Satz auf, riss das Fenster auf und brüllte in Richtung Sporthalle: »ABER RUNTER DA VOM MATTENWAGEN!«

Die Jungs, die sich schon zum Turnen umgezogen hatten und auf dem Mattenwagen vor der Sporthalle miteinander rangen, sprangen und rannten auseinander wie ein Schwarm Ameisen, in den man ein kleines Stöckchen geworfen hatte.

»Wo ist denn schon wieder die Hofaufsicht, meine Güte, ich werde noch verrückt hier!«

Sie griff zu ihrem Händi und bimmelte im Sekretariat an, bei besagter Klosack-Lauenseil. Lossack-Klauenseil. Hofaufsicht hatte ein gewisser Herr Beinert, aber der suchte den Herrn vom Hausmeistersörwiss, denn die Leiter war angeschlossen. Die brauchte er aber dringend, um den kleinen Benjamin aus der Lampe zu holen. Jemand hatte sich nämlich einen Scherz erlaubt und das große Absprungbrett vor den Sprungbock gelegt, und nun war der Benjamin drei Meter hochgeschossen und hatte sich vor Schreck an der Lampe festgehalten, statt über den Bock zu springen. Aus nachvollziehbaren Gründen traute er sich nicht wieder runter.

Eine Aufregung war das!

Mich erinnerte das an meine ganz persönliche Erfahrung mit dem ollen Turnbock. Ich fand Geräteturnen zu meiner Schulzeit schon fürchterlich und kann dem bis heute nichts abgewinnen. Formationstanzen gucke ich gern an im Fernsehen und auch Skispringen und Eiskunstlaufen sowieso, nur gegen Geräteturnen habe ich eine Abneigung. Wir hatten fast alles im Krieg verloren, aber ausgerechnet der olle Bocksprungbock hatte die Luftangriffe der Engländer überlebt, und so musste ich drüber. In anderen Schulen mussten nur die Knaben über den Bock, die Mädchen durften sich grazil auf dem Schwebebalken rekeln, aber leider hatten wir nur einen Bock und deshalb war meine Schule bei der Gleichberechtigung vorneweg: Die Mädchen hopsten auch über das Trumm. Gertrud sprang federnd wie ein Grashüpfer, für die war das gar kein Problem. Sogar Ilse schaffte es, nachdem sie ein paarmal gescheitert war, weil sie zu vorsichtig angelaufen war. Nur ich, ich versagte. Der Bock schien für mich unbezwingbar. Fräulein Lehnstedt, was unsere Turnlehrerin war, konnte es auch nicht verstehen. Ich war ein Wirbelwind und flink und gelenkig, wenn es um Völkerball oder Keulenschwingen ging, aber Bockspringen war meine Sache nicht. Selbst Mutter sagte: »Die Renate, steckt viel ein und kommt über alles hinweg. Die kam darüber hinweg, dass ihr Vater im Krieg geblieben ist, dass wir ihr Lieblingsschwein Bruni geschlachtet haben und auch, dass sie beim Murmelspiel die marmorierte Rote an ihre Freundin Ilse verloren hat. Nur über den Bock, über den kommt sie nicht weg.«

Aber einmal habe ich allen Mut und alle Kraft zusammengenommen. Wissen Se, wenn man etwas wirklich will, schafft man das auch. Ganz fest habe ich die Fäuste geballt und an die Tränen, die mir wegen der Angst vor dem Höllenbock über die Wangen kullerten, einfach gar nicht gedacht. Ich bin gelaufen und habe nicht gestoppt vor dem Sprungbrett, sondern bin mit ganzer Kraft abgesprungen. Fräulein Lehnstedt musste mich an den Füßen packen, sonst wäre ich damals auch an der Lampe unterm Turnhallendach gelandet wie jetzt der Benjamin. Sie selbst lag nach meiner Landung gekrümmt am Boden und hielt sich den Unterleib, aber nur kurz. Sie trank einen Eisenkrauttee und ruhte ein bisschen auf der Liege im Lehrerzimmer, dann ging es wieder. Ich entschuldigte mich, aber Fräulein Lehnstedt war gar nicht böse. Sie freute sich mit mir, dass ich den fiesen, ollen Bock bezwungen hatte. Das konnte mir niemand mehr nehmen! Nie wieder habe ich es versucht, es reichte mir, dass ich das einmal geschafft hatte. Wissen Se, es gibt so Sachen, die muss man nur einmal im Leben machen, für die Erfahrung und das Gefühl des Triumphes. Das würde der Benjamin auch so sehen, wenn er erst mal von der Lampe runter war, da war ich mir ganz sicher.

Die Schlode bot sich als Vertretung für die Hofaufsicht an, was die Schulsekretärin aufatmend zur Kenntnis nahm. »Frau Bergmann, Sie sehen ja, was hier los ist. Aber mein Angebot steht, wenn Ihnen danach ist, kommen Sie gern her! Wir können jede Hand brauchen. Es gibt Vorschriften und Gesetze, ich weiß das, aber ich sage Ihnen ganz ehrlich: Die können mich mal. Wenn man hier nicht schon ein bisschen verrückt ist, wird man es.« Sie ermutigte mich, während wir auf den Schulhof rausgingen, ruhig öfter reinzuschauen. Sie wäre meist in Raum 102, und wenn nicht, dann soll ich einfach sagen, ich wäre die Oma von Jonathan, dann würde mir nichts passieren.

Das wusste ich. Wissen Se, mit dem Trick hatten sich Gertrud und ich schon öfter in den Kindergarten geschlichen, wenn Oma-und-Opa-Tag war und sie gesundes Büfett mit Paprikastäbchen, Quarkspeise und Muffies-Kuchen hatten. Da isst man immer sehr gut, und wenn man sagt: »Ich bin die Oma vom Jonathan«, freuen sie sich. Einer ist immer dabei, der Jonathan heißt. Es geht auch mit Leonie, Laura, Mara, Noah, Matteo oder Finn. Die Muttis geben reichlich mit für das Frühstück, und die kleinen Krabben haben doch kaum Hunger. Die spielen lieber, als zu essen, da wird meine Tupperbüchse immer voll. Mütter wie die Berber, die nicht backen können, geben Muffies-Kuchen aus der Tüte mit. Backmischungen. Na, da weiß man dann schon Bescheid. Nur schnell eine Tüte aufreißen und bunte Creme drüberkleckern, sich damit aber dann noch beim Fäßbock dicketun, das sind mir die Richtigen. Aber ich schweife ab, ich wollte gar nicht vom Backen berichten, sondern darüber, wie ich in den Schuldienst rutschte.

Es hatte mir große Freude gemacht, mit den Mädchen zu üben, und so ging ich ein paar Tage später wieder hin. Frau Schlode war kaum wiederzukennen! Sie war freundlich und aufmerksam, in keinster Weise aufdringlich, drohte nicht mit Gesang und behandelte mich nach wenigen Tagen schon fast kollegial.

Na, und so schlich sich das nach und nach ein, dass ich erst zweimal die Woche, dann jeden zweiten Tag und später fast täglich in die Schule ging und Frau Schlode ein bisschen unterstützte. Erst gab ich selber gar keinen Unterricht, sondern ging nur ein bisschen durch die Reihen, schaute, wer schwatzte, ermahnte zum Aufmerken, kontrollierte die Arbeitsblätter und die Hefte und solche Sachen. Manch einer brauchte Hilfe beim Anspitzen vom Bleistift, es musste mal eine Füllerpatrone gewechselt oder was ausradiert werden. Ab und an erklärte ich auch, wenn was nicht verstanden worden war, und half ein bisschen auf die Sprünge, wenn die Kinder nicht von alleine mit den Aufgaben zurechtkamen. Ich hatte große Freude daran. Einmal ist mir kurz der Kragen geplatzt, und obwohl ich eigentlich nicht richtig unterrichten sollte, ging ich nach vorn und rief: »So. Kinder, jetzt hört mir mal … Ruhe bitte! Jetzt hört mir bitte mal einen Moment zu. Ich bin eben durch die Reihen gegangen und habe in die Hefte geguckt und bei vielen Kindern die immer gleichen Fehler gesehen. Ihr sprecht so schludrig, dass ihr die Fehler dann auch im Schriftlichen macht. Viele Wörter enden auf -er und nicht auf -a! Es heißt also richtig Fehler, Finger und Messer und nicht Fehla, Finga und Messa! Bitte achtet doch darauf und sagt euch das Wort leise selbst vor, wenn ihr euch unsicher seid!«

Frau Schlode bremste mich nicht, sondern guckte nur erstaunt. Ich bin dann gleich wieder »zurück ins Glied« getreten und habe den Kindern über die Schultern in die Hefte geluchst: Tatsächlich sah ich »Messer« und »Becher« meist richtig geschrieben! Bis ich zu Pernilla-Petunia kam. Bei ihr stand: »Mama setzte sich auf das Sofer«.

Es gibt eben keine Wunder, von einmal Erklären jedenfalls nicht. Aber wenn man sieht, wie die Arbeit Früchte trägt, macht einen das glücklich. Der kleine Oskar hatte keinen Schimmer von Grammatik, und Frau Schlode sah schon schwarz für die Klassenarbeit. Was meinen Se, wie der sich gefreut hat, als er dann mit »Gut« zensiert wurde, und vor allem, wie auch ich stolz auf den Jungen war! Wir hatten stundenlang »DEM« und »DEN« geübt, und fast habe ich ein stolzes Tränchen verdrücken müssen, so schön war das, als er seine Note bekam.

Ab und an guckte jemand komisch, wenn er oder sie mich sah. Frau Schlode sagte, ich solle mir keine Gedanken machen. »Das ist meine Mutter, die hat mir nur meine Unterlagen gebracht, die geht gleich wieder«, erklärte sie meine Anwesenheit, wenn eine Kollegin zu neugierig guckte. Nur die Sekretärin, die blieb misstrauisch. Das war die Blickigste in der ganzen Schule, das hatte ich gleich gemerkt, der konnte man nichts vormachen. »Warum siezt du denn deine Mutter, Cornelia?«, fragte sie bohrend nach, als die Schlode ihr mal wieder die Erklärung vom Lieb-Mütterlein präsentieren wollte. »Weil wir hier in der Schule einen professionellen Umgang haben? Die Kinder sollen doch auch Respekt lernen, und das leben wir eben vor! Die kommen doch ganz durcheinander und fangen dann auch an, mich zu duzen, wenn sie es von anderen hören! Und ›Tante Conny‹ will ich hier nicht sein! Hast du eigentlich deine Tonleitern geübt, Evelyn? Dein A hat ganz schön gewackelt neulich bei der Probe. Das geht besser! Blas lieber in die Posaune, als mir hier nachzuschnüffeln! Und nun komm, Mama!« Sie nahm mich an der Hand wie Kirsten, und ich musste mir ganz schön das Lachen verkneifen.

»Frau Schlode, der haben Sie es aber gegeben!«

»Die hat es nicht anders verdient. Olle Schnüfflerin!«

Na, war ich nicht ganz einverstanden. Wenn Frau Lossack-Klauenseil nicht wäre, liefe der ganze Betrieb nicht.

Nach ein paar Wochen, als sich die ganze Schulgesellschaft an mich gewöhnt hatte, erzählte Frau Schlode dann hier und da, dass der Senat ein neues Pilotprojekt aufgesetzt hat und jetzt Pensionäre als Lernunterstützung in die Schulen kommen. Es wäre erst mal auf ein Schuljahr befristet, die EU hinge da mit Fördergeld drin und auch der Bezirk, und sie wäre die Patin für mich. Wenn einer was will, soll er sich an sie wenden.

Da die »von oben« so oft so viel Quatsch und Blödsinn vorgesetzt kriegen, hatte niemand auch nur die allergeringsten Zweifel daran, dass das stimmte. Von dem Tag an war ich ins Kollegium aufgenommen, und sogar das bauchfreie Knödelmädchen, eine gewisse Frau Westermann, grüßte mich. Das hatte die vorher nie getan!

Die Lossack-Klauenseil bastelte sich Plastikschildchen mit meinem Namen und hängte mich mit an ihre Wand mit dem Raum- und Vertretungsplan. Wenn man da hängt, ist man dabei. Das ist das »führende System«, das einzig verlässliche, das immer funktioniert und auf das alle in der Schule vertrauen. Auf die Sekretärin war mehr Verlass als auf die Computer. Niemand glaubte, was der Computer ausspuckte, alle riefen erst im Schulsekretariat an und fragten, ob Mathe in der 4b wirklich heute in Raum 206 ist, und oft genug lachte die Lossack-Klauenseil und sagte: »Nein, das ist Quatsch, in 206 ist Musik mit der 2a, Mathe der 4b ist in 103.«

Ja, und weil das führende System mich als Lehrkraft auswies, der Computer mich aber nicht kannte, sprach mich Frau Lossack-Klauenseil an und meinte, wir müssten das korrigieren. Das ginge ja so nicht weiter. Ich sollte einen Personalbogen ausfüllen, sie würde sich um alles kümmern, vom Personalrat über die Direktorin bis hin zur Abrechnungsstelle. Da erschrak ich ein bisschen, das muss ich Ihnen ganz offen sagen. »Wenn ich jetzt nicht aufpasse, verbeamten die mich noch, und ich muss Latein geben, was ich doch gar nicht spreche!«, dachte ich bei mir!


Gertrud lag mir derweil schon seit Wochen mit einer für sie ungewöhnlichen Idee in den Ohren: Sie wollte unbedingt ein Klassentreffen organisieren.

Ein Klassentreffen. Pah! Ich ahnte gleich, dass das nichts wird, als sie mit dem Vorschlag kam. Wissen Se, Ilse, Gertrud und ich sind 82 Jahre alt. Von unserer Klasse ist doch kaum noch einer da, da muss man sich gar nichts vormachen. Gertrud bestand jedoch darauf, und so setzten wir uns eines Abends bei Ilse in die nicht ganz so gute Stube und überlegten, wer denn damals eigentlich bei uns in der Klasse war, trugen zusammen, von welchen wir wussten, dass sie schon gestorben waren, und wen von den Übriggebliebenen wir überhaupt noch ausfindig machen konnten. Na, das war ein Durcheinander, kann ich Ihnen sagen! Wissen Se, wir drei alten Schachteln entsinnen uns manchmal auf Dinge, die so gar nicht passiert sind. »Die Erinnerung malt mit goldenem Pinsel«, heißt es so schön, und so behauptete Ilse, dass Kurt bei uns in der Klasse war und neben ihr auf der Bank saß.

»Kurt ist fünf Jahre älter, Ilse. Du spinnst! So oft kann der gar nicht sitzengeblieben sein, dass er neben dir auf der Bank saß. Das war die Bank hinter dem Anger, auf der ihr beide Händchen gehalten habt!«, fuhr ich ihr gleich in die Parade.

Man muss bei Ilse aufpassen wie ein Fuchs. Ich kenne sie, die schummelt beim Rommé und beim Würfeln, und sie will zu keiner Feier ohne ihren Kurt. Sie lässt ihn ungern allein, weil er dann wieder nur Dämlichkeiten macht. Kurt repariert gern, aber er darf nur unter Ilses Aufsicht Sachen mit Strom anfassen. Deshalb lässt sie ihn nur im Notfall aus den Augen. Wir denken alle noch mit Schrecken an den Vorfall, als Kurt mit der Bohrmaschine die Hauptleitung getroffen hat. Es ist ja mit Männern immer das Gleiche, wenn sie beim Handwerken schimpfen, fluchen und schmutzige Worte rufen, ist alles in Ordnung. Aber wehe sie sind ganz still. Dann brennt der Hut! Bei Gläsers brannte es nicht, aber es gab einen Kurzschluss, und sie saßen drei Tage ohne Strom. Ich kann das gut verstehen, dass Ilse so was nicht wieder haben will, aber da muss sie sich was anderes überlegen. Wenn es Babysitter gibt, muss es doch auch so was wie Aufpasser für ältere Männer geben. Kurzzeitpflege oder so was. Schließlich muss Ilse auch mal allein aus dem Haus und kann Kurt nicht zum Klassentreffen mitbringen. So geht das einfach nicht! Es gibt schließlich Regeln. Sie darf auch nicht mit zum Kaffeetrinken im Witwenclub, jedenfalls vorläufig. Wer weiß, was Kurt als Nächstes mit der Bohrmaschine anstellt.

Nee, da muss man aufpassen, Ilse mogelt gern. Aber nicht mit Renate Bergmann! Ilse ist auf keinen Fall so plemplem, dass sie sich in so einer Angelegenheit falsch erinnert. Die wollte Gertrud und mich nur austricksen! Aber ein Klassentreffen mit Ehepartnern macht keinen Spaß, erst recht nicht, wenn es schon so viele Lücken an der Tafel gibt. Da kommt nur Neid auf.

Wir guckten an diesem Abend unser altes, vergilbtes und an den Ecken schon sehr geschundenes Klassenfoto an und schwelgten in Erinnerungen. Gertrud hat für so was keinen Sinn. Die erkannte sich ja nicht mal selbst! Sie zeigte auf Elfie Schuster und behauptete, das wäre sie. Ilse und ich schüttelten nur den Kopf. So ging das den ganzen Abend, die eine beharrte darauf, dass Kurt in unserer Klasse gewesen war, und die andere gab sich keine Mühe, sich zu erinnern. So konnte das nichts werden! Wir entsannen uns noch auf diesen oder jenen, aber tatsächlich wussten wir nur bei denen, die wir schon begraben mussten, was aus ihnen geworden war. Das nützte uns aber nichts, denn die konnten wir ja schlecht zum Klassentreffen einladen. Wissen Se, wir haben aber eben auch in bewegten Zeiten gelebt: In den schweren Jahren nach dem Krieg hatte keiner Zeit, sich um den Tausch von Adressen und Telefonnummern mit Klassenkameraden zu kümmern, da hatten wir andere Sorgen. Später kam die Mauer, manche von uns gingen in den Westen, andere blieben im Osten, aber es gab kein Händi und keinen Fäßbock, um rauszufinden, wer wo abgeblieben war. Heute gibt man den Namen ein im Interwebs und gurgelt, und ruck, zuck hat man einen Anhaltspunkt. Aber »olle Lüt« wie wir treiben sich da eben nicht so häufig rum.

Bei manchen Kindern auf dem Foto waren wir uns sofort einig, wer es war. Von Arnold Knorrich wussten wir, dass er später Helga Schlurre vom Annenhof geheiratet hat. Wir dachten ja alle, dass er ein Auge auf Trudi, ihre ältere Schwester, geworfen hatte, aber Helga war wie die Sissi, sie hat die Bluse aufgeknöpft und sich der angebahnten Verbindung der eigenen Schwester in den Weg geworfen. Sie hatte mehr Ausschnitt zu bieten, da konnte Trudi nichts machen. Es ging aber alles ohne großes Zerwürfnis ab, denn Trudi heiratete den Bauern vom Bröselhof. Helga und Arnold übernahmen den Annenhof und hatten danach drei Kinder, wobei Ilse sich sicher war, dass es drei Mädchen waren, ich mich jedoch genau erinnerte, dass auf jeden Fall auch ein Jochen dabei war. Gertrud interessierte sich für Ilses und meine kleine Wandelei auf den Spuren der Erinnerungen gar nicht und knurrte uns an: »Ist das hier ein Ohnsorg-Stück, oder kommen wir mal weiter mit unserer Liste?«

Wir kamen nicht weiter. Wir schrieben die Namen unserer Mitschülerinnen und Mitschüler, die wir noch zusammenbekamen, auf ein Blatt Papier und machten ein Kreuz hinter die, die Gevatter Tod schon geholt hatte. Da blieb schon nur noch die Hälfte übrig. Bei den meisten anderen konnten wir uns nicht mal einigen, wie sie genau hießen, und wussten leider in den seltensten Fällen, was aus ihnen geworden war.

Ich hatte noch eine letzte Idee: Ich holte mein kleines schwarzes Adressbüchlein raus und las die Namen vor, bei denen ich beim besten Willen nicht wusste, wer das war. Wissen Se, wenn man über 60 Jahre alle Adressen und Telefonnummern einschreibt, vergisst man manchmal, warum man das notiert hat. Ich las also vor, aber das brachte auch keine weiteren Ermittlungsergebnisse. Fast hätte ich mich verplappert und die Telefonnummer von Udo Jürgens vorgelesen, der seinerzeit bei mir im D-Zug gefahren ist und mit dem ich … Gerade noch rechtzeitig biss ich mir auf die Lippen und schwieg. Eine Renate Bergmann kann schweigen!

Auch Ilse und Gertrud gingen ihre Adressbüchlein durch, aber wir kamen nicht weiter und verwarfen die Idee eines Klassentreffens endgültig.

Kurt hatte derweil in der kalten guten Stube Fußball geguckt und kam, als das Spiel aus war, zu uns rüber. »Na, meine drei knackigen Mädchen«, sagte er und grinste schelmisch, »kommt ihr gut voran? Ihr hättet euch eine Feuerzangenbowle ansetzen sollen!«

Das mit den knackigen Mädchen ist sein Lieblingswitz, den macht er immer, und wir taten ihm die Freude und kicherten ein bisschen. Es ist ja auch die Wahrheit, irgendwas knackt bei jeder von uns, entweder die Hüfte, das Knie oder der Rücken. Gertrud kann sogar mit dem Kiefer knacken. Das haben wir ihr aber verboten, weil dabei die Zähne ins Rutschen geraten und unter Umständen auf der Torte landen, wie neulich auf Lotte Lautenschlägers Geburtstag. Es wollte danach keiner mehr mit rechtem Appetit von der Schwarzwälder Kirschtorte essen.

»Ach Kurt«, sagte Ilse, »wir kommen hier nicht so recht vorwärts. Es ist einfach zu lange her! Die Herren in dem Film mit der Feuerzangenbowle waren fünfzig Jahre früher dran, als sie sich an die Schulzeiten erinnerten. Außer dass Arnold Knorrich mir den Zopf in das Tintenfass getaucht hat, fällt uns nicht mehr viel ein!«

Die Geschichte hatten wir zwar gar nicht besprochen, aber es konnte gut sein, dass das so war. Arnold war ein freches Früchtchen, und jawoll, er saß hinter Ilse auf der Bank. Ich konnte mich auch noch erinnern, dass er mal bei einer Rauferei seine Schiefertafel zerbrochen hat, auf der wir mit Griffeln schrieben und rechneten. Da setzte es aber was vom Herrn Lehrer!

Aber in mir begann es wegen einer ganz anderen Sache auf einmal zu rattern. Als Kurt »Feuerzangenbowle« sagte, hatte ich auf einmal eine Idee.

In dem ollen Schwarz-Weiß-Schinken von anno Knips, der schon knistert, wenn se den senden, geht der Heinz Rühmann als gestandener Mann zurück als Pennäler auf das Gymnasium. Es wäre natürlich albern, sich mich Oma mit Ranzen auf dem Rücken als Schulmädchen vorzustellen. Aber wo ich nun sowieso schon immer mal wieder bei der Schlode in der Klasse war und wo die Lossack-Klauenseil meinte, es wären nur ein paar Unterschriften nötig – »Alles reine Formsache, Frau Bergmann!« –, warum sollte ich das nicht offiziell machen und mich anstellen lassen?

Wenn ich mir schon fast jeden Tag da mit den Kindern die Zeit verschlage, dann können die dafür auch bezahlen. Ich hatte schon so einige merkwürdige Menschen durch die Schule laufen sehen, die auf keinen Fall Lehrer waren. Noch viel merkwürdiger als Frau Schlode, und das hat was zu heißen. »Das sind Seiteneinsteiger!«, flüsterte sie mir dann immer zu.

Seit Jahren hatte ich immer ein mulmiges Gefühl, wenn über das Renatenalter diskutiert wurde.

Nee, Moment.

Nicht Renatenalter, hihi!

Mein Alter ist 82, da beißt die Maus keinen Faden ab, und es gibt nichts zu diskutieren. Ich meine das Rentenalter. Über das Rentenalter wird immer wieder diskutiert, und ob es wohl genügt, bis 63, bis 65 oder bis 67 zu arbeiten. Da wird mir immer ganz mulmig, denn ich bin mit 60 in Pension gegangen! Ich traue mich das gar nicht laut zu sagen, aber damals waren die Gesetze eben noch so, dass das möglich war. Trotzdem habe ich stets und ständig ein bisschen Angst, dass mir da einer draufkommt und mich dazu anhält, noch was nachzuarbeiten. Bevor sie mir mit was kommen, was mir gar nicht liegt – warum sollte ich die Sache in der Schule nicht einfach offiziell machen?

Wissen Se, wenn die nun lauter Assistenten einstellen, weil sie keine Lehrer finden, warum dann nicht auch eine Oma wie mich? Wer nun mit den kleinen Annabells und Juliuses Schleife binden übt und guckt, ob die Aufgabe auch richtig in das Hausaufgabenheft eingetragen wurde, ist doch letztlich egal. Da ist eine vom Leben gestählte Oma mit Geduld vielleicht sogar besser geeignet als so manches jungsche Ding, das noch hibbelig und grün hinter den Ohren ist, keine guten Nerven hat und schnell ungehalten wird. Solche Nebenaufgaben rauben den richtigen Lehrern doch viel Zeit. Es ist ja nicht so, dass die Assistenten als volle Kraft zählen und dann alleine vor dreißig kleinen Geistern stehen und versuchen, denen was beizubringen. Das könnte ich nicht, da müsste ich passen. Das habe ich auch gar nicht gelernt.

Allerdings glaube ich auch nicht, dass die das wollen, denn die trauen uns Alten doch nichts mehr zu. Wir sind doch nur Ballast und ein »Kostenfaktor« und schuld an allem Elend. Es ist eine Frechheit, wie man uns Senioren abserviert! Einerseits kriegen wir ständig zu hören, dass wir so viele sind und dass unsere Renten und Pensionen so und so viele Milliarden kosten. Damit will man uns kleinhalten. Wir sollen ein schlechtes Gewissen kriegen, auf der Couch sitzen, billiges »Essen auf Rädern« in uns reingabeln und still sein. Dazu betäuben se uns mit einem Fernsehprogramm, das doof macht. Wir sollen ja nicht stören, so billig wie möglich bleiben und keinen Ärger machen. Knapp vor den Wahlen fällt ihnen dann wieder ein, dass wir so eine große Schar und unsere Stimmen wichtig sind. Da entdecken se uns wieder, die Damen und Herren Politiker! Plötzlich sind wir dann wieder die, »die dieses Land aufgebaut und zu dem gemacht haben, was es heute ist«. Was für ein Quatsch! Die allerwenigsten Rentner haben noch mit dem Hämmerchen auf den Trümmern rumgeklopft. Die sind längst alle weggestorben. So egal sind wir denen, dass sie ihre Parolen nicht mal daran anpassen! Was meinen Se, wie wir Alten mit ranklotzen könnten, wenn es bessere Angebote für Computer- und Händischulungen gäbe. Aber es kümmert sich eben keiner, und wenn, dann gibt es nur hier und da kleine Projekte, so wie ein Zahnrad, das vor sich hin rotiert und nicht in ein anderes greift. Da muss man selbst aktiv werden. Proaktiv, wie die ganze Lehrerbagage immer sagt, das ist eines der Lieblingsworte von denen. Aber trotzdem, es wäre doch mal ein schönes Projekt, alle Bildungsangebote zusammenzutragen und den Menschen mit Telefonnummer, Adresse und Datum so schmackhaft zu machen, dass sie sie auch finden! Himmelherrje. Das Interweb ist doch nicht nur dazu da, dass Grippekranke ihren Trink-Jockurt in die Linse halten! Influenzler meine ich.

Bildung muss man viel weiter denken als immer nur von einem Zeugnis zum nächsten. Das fängt bei Kleinkindern schon an, für die Kindergartenplätze fehlen, und geht durch bis zu uns Rentnern.

Die erkennen in uns Alten einfach nicht das Potenzial, was da auf dem Sofa parkt. Wir haben Erfahrungen und Wissen, auch wenn wir nicht die modernsten Maschinen oder Computer beherrschen. Und wir wollen beileibe nicht alle jeden Nachmittag um drei dem Lichter zugucken, wie er Rentnern rostige Pickelhauben abkauft. Wir wollen jung und in Schwung bleiben und im Kopp nicht verblöden. Das geht am besten, indem man das Gehirn trainiert und im Leben dabeibleibt. Nicht mehr so viel und so lange wie früher, aber doch ein bisschen. Es geht in erster Linie um Anerkennung und das Gefühl, gebraucht zu werden und etwas geben zu können. Gucken Se mal, wie viele Seniorinnen und Senioren ehrenamtlich arbeiten ohne einen Pfennig Bezahlung. Ich finde, unsere Gesellschaft sollte sich mal ein Beispiel an den asiatischen Völkern nehmen, die das Alter verehren. Ich will gar nicht verehrt werden, um Himmels willen. Die sollen mich nicht mit der Sänfte durch Spandau tragen, so weit kommt’s noch! Das wackelt bestimmt, ich könnte da ohne Reisetablette gar nicht drauf. Aber man darf doch wohl erwarten, dass man mit einem gewissen Respekt behandelt wird, und zwar von jedem neunmalklugen Knödeljungen oder -mädchen! Natürlich sind wir Senioren anders und denken nicht modern. Zu unseren Zeiten war die Wissenschaft eben noch nicht so weit. Meinen die, wir sind aus Bosheit mit dem Auto gefahren und haben die Luft verpestet? Wir wussten es nicht besser, es war der Stand der Technik. Dafür muss man sich nun als »Oma, die alte Umweltsau« beschimpfen lassen. Bei so was geht mir die Hutschnur hoch! Ich, die ich mein Leben lang immer auswaschbare Stullenbüchsen benutzt habe und die sich bis heute nach jedem Bonbonpapier im Park bückt, das andere achtlos weggeschmissen haben, lasse mir das nicht vorwerfen. Pah!

Nee, wir müssen viel mehr miteinander reden und voneinander lernen. Aber um mit jemandem reden zu können, müsste er auch mal das Händi weglegen und die Kopphörer aus den Ohren puzzeln!

»Senioren müssen wieder mit ran, ihre Erfahrungen sind pures Gold«, heißt es nun auf einmal allerorts. Na, so was lässt sich eine Renate Bergmann nicht zweimal sagen. Pflicht ist Pflicht, und bevor man nur zu Hause rumsitzt und wartet, dass der Tod einen holt, kann man doch was tun und der Jugend ein bisschen einheiz…, also, ich meine, seine Erfahrungen weitergeben. Also dachte ich mir: »Einfach machen, Renate. Die Gelegenheit ist günstig; bevor die es sich anders überlegen, muss du zupacken. Die werden ihre wahre Freude an dir haben!«

Das alles ging mir durch den Kopf, und zwar nur, weil Kurt den Spaß mit der Feuerzangenbowle gemacht hatte. Er sagt nicht viel, unser Kurt, aber wenn, dann hat es meist Hand und Fuß!


Ich dachte mir nichts Böses dabei, das müssen Se mir glauben. Wirklich nicht! Ich wollte nur helfen.

Lehrermangel ist ja heute ein ganz großes Thema, ganz egal, wo man hinhört. Als ich bei Frau Lossack-Klauenseil im Sekretariat am Kopierautomaten stand, hörte ich die Schulleiterin telefonieren. Die Tür stand einen Spalt offen, man konnte jedes Wort verstehen. Offenbar sprach sie mit dem Schulamt. Während sie was zum Magenaufräumen schluckte, sagte sie: »Wir müssen Verständnis haben. Woher sollen die Politiker auch wissen, wie viele Kinder sechs Jahre nach ihrer Geburt zur Schule gehen wollen? Wenn man sich anguckt, dass man auf dem Standesamt mehrere Monate auf einen Termin warten muss, kann ich mir denken, wie lange es dauert, dem Schulamt Bescheid zu geben. Da sind sechs Jahre schnell rum, und dann ist die Überraschung groß, wenn die Kinder auf einmal vor der Tür stehen und lesen und schreiben lernen wollen. Um zu errechnen, wie viele Lehrer man dafür braucht, ist die Zeit wirklich zu knapp.«

Sie atmete tief durch und hörte sich an, was der Gesprächsteilnehmer am anderen Ende der Leitung zu sagen hatte. Das gefiel ihr offenbar gar nicht, denn sie fiel dem mitten ins Wort.

»Nein. Nein, einen von der Waldorfschule brauchen Sie mir gar nicht schicken. Wir unterrichten hier in Klassenräumen und nicht im Baumhaus. Das haben wir einmal durch, das mache ich nicht noch mal mit!«

Leider war der Kopierapparat mit meinen Arbeitsblättern fertig, und ich konnte nicht weiter zuhören, sondern musste wieder zurück in die Klasse. Es hätte mich doch sehr interessiert, was sie mit dem Baumhaus gemeint hatte.

Mir ließ das Thema aber keine Ruhe. Was da alles durcheinanderläuft in den Schulbetrieben, wer gefragt oder ungefragt seinen Senf dazu gibt, das ist so verwirrend, dass man gar nicht so einfach durchsieht.Die sind alle unzufrieden, fertig mit den Nerven und so miteinander verkeilt, dass niemand mehr dem anderen zuhört. Da demonstrieren heute die Lehrer für Verbeamtung, morgen die Erzieher für mehr Geld, und übermorgen regen sich die Elternvertreter auf, weil ein Kind auf der Schultoilette von herabfallenden Fliesen verletzt wurde. Aber wissen Se, um wen sich am Ende dabei niemand kümmert? Um die Kinder! Aber um die geht es doch, und ausgerechnet sie kommen bei dem ganzen Zinnober zu kurz.

Das ist alles genau wie ein fürchterlich verworrenes Wollknäuel, mit dem Katerle wilde Sau gespielt hat: Man muss erst mal die Brille holen, ganz genau suchen, um überhaupt einen Anfangsfaden zu finden, und selbst wenn man ganz, ganz vorsichtig daran zieht und anfangen will, das Schlamassel aufzulösen, verknotet man an einer anderen Stelle gleich mehrfach die Dinge so, dass gar nichts mehr geht. Das lernt jeder, der in der Schule arbeitet, recht schnell, und deshalb guckt man nach einer gewissen Zeit nur noch, dass man sich einrichtet und mit dem Hintern an die Wand kommt. Die Leute sind verzweifelt und haben resigniert.

Noch dazu kommt, dass sich bloß noch recht wenige junge Leute entschließen, auf Lehramt zu studieren, und von denen hören dann viele oft auf halber Strecke wieder auf, wenn sie mitkriegen, auf was sie sich da eingelassen haben. Und die, die durchhalten, gehen danach auf halbe Tage, die immer noch so viel Arbeit und Nervenzehren mit sich bringen, dass die damit gut ausgelastet sind. Wenn man das seit Jahren weiß, muss man doch mal gucken, dass man die jungschen Leute aufklärt!

Ja, nicht, was Sie nun wieder denken. Nicht mit Bienchen und Schmetterlingen, hihi. Das wissen die ganz genau. Die fangen doch heute immer früher an! Nee, ich meinte, dass man sie informiert und ihnen ein ehrliches Bild von dem zeigt, was Lehrer sein heute bedeutet. Eigentlich sollten sie das wissen, denn schließlich sind sie, wenn sie ihr Abitur haben, dreizehn Jahre lang jeden Morgen in die Schule getrabt und haben es mit Lehrkräften zu tun gehabt. Ich frage mich da immer, wie sie unter diesen Umständen falsche und romantische Vorstellungen vom Lehrerberuf haben können? Wir alten Leute sind da manchmal nicht die besten Ratgeber, denn recht schnell kommen dann die alten Geschichten, dass wir ja auch noch am Sonnabend Unterricht hatten – was ich Ihnen ja auch schon aufgeschrieben habe, haben Se aufgepasst? – und dass wir bei Wind und Wetter zehn Kilometer durch den Schnee zur Schule laufen mussten und trotz Hausaufgaben auch noch abends die Kuh melken mussten.

Jawoll, das war so, aber es nützt heute niemandem mehr was, das ständig aufs Tapet zu bringen. Wenn man den jungen Leuten davon erzählt, sind die doch beim Wort »Schnee« schon raus: Die wissen doch gar nicht mehr, was das ist! Sehr traurig. Und man erreicht mit solchen Vorwürfen auch nichts.

Ich bin nun wirklich keine Expertin und habe nicht Politik und schon gar nicht Lehrwissenschaft studiert, aber es kann doch nicht im Sinne des Erfinders sein, wenn teuer bezahlte und rare Kräfte des Lehrkörpers den Eltern hinterhertelefonieren müssen, dass die das Geld für die Klassenfahrt nun mal bitte überweisen. Oder dass sie die Fahrten buchen und organisieren, Strichlisten für dieses und für jenes führen oder, oder, oder. Da kann man doch gut Hilfskräfte einsetzen, die solche Arbeiten übernehmen! Pro Schule eine Reisekauffrau, eine zusätzliche Sekretärin, ein Buchhalter und ein Stefan, der die Computer am Laufen hält, und schon könnten Lehrer 36 statt 28 Stunden die Woche unterrichten. Alles andere könnten sie problemlos delegieren.

Dafür taugt eine Oma wie ich noch gut. Es hat wirklich lange gedauert, bis sie daraufgekommen sind. Noch läuft das alles nicht ganz rund, denn sonst würden nicht immer noch so viele nur halbtags arbeiten und ein paar Stunden mehr Physik oder Biologie geben, was wirklich nur Fachleute machen sollten.

Denken Se nur an Kurt und den Kurzschluss!

Wissen Se, wenn wir als Staat den Pädagogen das Studium bezahlt haben, sollten wir auch verlangen können, dass sie danach etwas zurückgeben und unsere Kinder ordentlich und qualifiziert unterrichten, und zwar nicht nur für ein paar Stunden. Es sollte statt einer Wehrpflicht für die Pädagogen eine Lehrpflicht geben, so sehe ich das. Natürlich unter Bedingungen, dass die nicht gleich einen Börnaut kriegen, sondern so, wie ich es geschrieben habe – mit Assistenten für die Quatschaufgaben. Ach, man kann an so vielen Ecken und Enden anfangen, was zu verändern. Aber leider ist alles so verfahren und verzwackt, dass fast alle Beteiligten fertig mit den Nerven sind und nur noch »Dienst nach Vorschrift« machen.


Die Sache mit den Anträgen hatte die Frau Lossack-Klauenseil angeleiert. Bei so was sind die Berliner Behörden gründlich, das muss man sagen. Sehr gründlich sogar. Ich bekam sage und schreibe vierzehn ausgedruckte Formulare von der Sekretariats-Elvira in die Hand gedrückt, die insgesamt mehr als fuffzich Seiten ausmachten. Eine Geburtsurkunde sollte ich beibringen, überlegen Se sich das mal! Als ich geboren wurde, wurde die Taufe ins Kirchenbuch eingetragen. Davon hatte ich mir, dem Himmel sei Dank, mal eine Abschrift beglaubigen lassen, bevor Pfarrer Meinert starb. Wer weiß, ob man da sonst jetzt überhaupt noch drankäme? Stefan, der freche Bengel, hat in Anspielung auf mein Alter mal gefragt, ob meine Geburtsurkunde auf Pergament geschrieben wurde oder ob das Papier schon erfunden war. So ein frecher Lauser! Aber liebenswert ist er, er meinte es spaßig. Diese Abschrift fügte ich bei, wozu auch immer.

Das kann doch sowieso keiner lesen! Die sollten sich mal nicht so haben. Die wollten auch ein polizeiliches Führungszeugnis, sogar ein erweitertes. Von einer lieben alten Dame, ich bitte Sie! Ich hatte nun wirklich nichts auf dem Kerbholz und mir nie im Leben etwas zuschulden kommen lassen, da konnten die ruhig nachlesen. Bei Gertrud wäre da ja eine Extragebühr fällig gewesen, weil die ab zwanzig Seiten bestimmt Zuschlag verlangen.

Aber wissen Se, was ich nicht verstehe? Wenn die das alles wissen wollen, warum gucken die nicht im Computer nach? Die Maschinen sind doch angeblich so klug und wissen alles! Wieso muss ich da einen Termin auf dem Amt machen, wochenlang auf den Tag der Tage warten und beantragen, dass die mir ausdrucken, was das andere Amt dann wieder in den Computer zwei Häuser weiter eintippt? Das ist doch nicht sehr gescheit, um es mal höflich auszudrücken. Ich habe keine Ahnung, was »Digitalisierung« alles bedeuten kann, aber in diesem Fall hätte ich ein paar Vorschläge zu machen! Es hat jedoch keinen Sinn, sich aufzuregen. Also füllte ich alles so gut ich es wusste aus. Ariane half mir dabei, das Mädel ist klug und kennt sich mit all solchem Kram prima aus. Sie fragte mich, wofür ich das brauche, und ich sagte einfach, für die Rente. Das stimmte im allerweitesten Sinne ja auch. Wenn ich der erzählt hätte, dass ich in der Schule arbeite, na, dann wäre aber was los gewesen. Die hätte sofort Stefan informiert und der womöglich noch Kirsten, die wäre hergekommen und ich hätte am Ende noch so eine nervöse Rechtsanwältin als Vormund bekommen. Nee, da hielt ich es mit Oma Strelemann. Die hat, wenn sie ein Geheimnis hatte, auch immer gesagt: »Ihr könnt zwar alles essen, aber ihr müsst nicht alles wissen!«

Die ganzen Fragefelder waren so allgemein und blödsinnig, dass nicht mal der schlauen und studierten Ariane auffiel, dass ich mich mit den fünfzig Blatt Papier um die Aufnahme in den Schuldienst bewarb. Sie schüttelte an manchen Stellen den Kopf und fluchte. Jedes dieser vierzehn Formulare begann damit, dass man Name, Vorname, Geburtsdatum und den Wohnort eintragen musste. Das ist doch keinem klar denkenden Menschen zu vermitteln. Können die sich nicht von Seite 1 bis Seite 4 merken, wie ich heiße oder wo ich wohne? Oder glaubten die, dass ich während des Ausfüllens der Pamphlete dreimal umgezogen bin und zweimal das Geschlecht gewechselt habe? Wobei das ja heute alles möglich ist. Da müsste mal jemand richtig aufräumen in den Behörden und den Herrschaften mal aufzeigen, was für ein hanebüchener Irrsinn das ist, den sie da verzapfen. Da haben Se mal ein schönes Beispiel für Bürokratie. Deshalb hat man ja jetzt auch keine Kontonummer mehr, sondern eine IWAN, dreimal so lang, sodass sie sich keiner mehr merken kann.

Na, wie dem auch sei, es nützt ja nichts, sich zu entrüsten. Ich machte also Termine auf den Ämtern, holte Nachweise von dieser und Stempel von jener Behörde und brachte alles bei, was die wollten. Frau Lossack-Klauenseil sagte, ich müsse mich sonst um nichts kümmern. Die Unterschriften im Haus besorgte sie. Frau Langhans, die Schulleiterin, kritzelte ihren Friedrich-Wilhelm im Vorbeigehen zwischen Magenspiegelung und Sitzung im Bezirksamt drunter, und alles andere mit Personalrat, Betriebsrat und der Gleichstellungsbeauftragten war wohl Formsache.

Diese Schulleiterin schwebte immer wie ein Geist durch die Flure, wenn sie denn überhaupt mal da war. Meist musste sie Katastrophen abwenden oder hatte Termine im Ministerium. Einmal hatte die Schulleiterin mal wieder eine Nervenkrise, weil so viele Lehrkörper gleichzeitig krank waren. Sie hat so ein Donnerwetter beim Schulamt geschlagen, dass die eine Vertretung schickten. Weil sie auch ein neues Magenmittel hatte, das ihr saures Aufstoßen kurzzeitig milderte, lief sie ausnahmsweise mit guter Laune über den Schulflur und grüßte mich sogar. Mich, die sie sonst nur wie ein Insekt anguckte, für das man gleich die Fliegenklatsche holt! Oder das Wasserglas. Ilse macht ja immer ein Theater, wenn sie eine Spinne sieht. Da gibt sie spitzere Schreie von sich als Anneliese Rothenberger, wenn sie früher die »Königin der Nacht« gesungen hat. Kurt musste immer mit dem Staubsauger kommen und das Tier wegsaugen. Und das, wo Kurt das Gerät sonst meidet wie alkoholfreies Bier! Er sucht da immer die Schnur zum Anwerfen und zuppelt dabei das Kabel durcheinander … hören Se mir auf! Jedenfalls hat Ilse ihn immer gezwungen, den Staubsauger noch mindestens zehn Minuten nachlaufen zu lassen, damit die Spinne auch wirklich … damit sie nicht, wie Ilse nachts oft träumt, im Staubsaugerbeutel Kraftfutter findet, zu einem Riesenmonster heranwächst, durch das Staubsaugerrohr rauskriecht und Kurt und sie im Schlaf mit ihren langen Armen erwürgt.

Ja. So war es früher. Aber wissen Se, auch wir Älteren sehen ja, was mit der Natur los ist, und dass Insekten nützlich sind, weiß auch Ilse, spätestens seit der Apfelbaum nur noch mickrig trägt, weil keine Bienen zum Bestäuben im Garten sind. Nun muss Kurt jedenfalls immer mit einem Weckglas kommen, das über die Spinne stülpen, ein stabiles Blatt Papier unter ihre dürren Beinchen schieben und sie in den Garten tragen. Natürlich ganz weit weg vom Haus, an die Grenze zum Nachbarn rüber. Ilse ist sehr tapfer, sie sagt, für die Umwelt müssen wir alle Opfer bringen. Sie nimmt nach der Umsiedlung einen Löffel »Frauengold« – das trinkt sie statt Korn, es hat aber eine ähnliche Wirkung – und schrubbt dann das Haus, weil sie sich schämt. Sie denkt, Spinnen kommen nur ins Haus, weil sie keine reinliche Hausfrau ist, was völliger Quatsch ist. Spinnen zeigen an, dass es trocken ist im Haus und man kein Problem mit Feuchtigkeit, Schimmel und Schwamm hat!

Die Elvira legte sich auf jeden Fall sehr ins Zeug für mich. Sie arbeitete sowieso immer fix und zuverlässig, und noch dazu kam, dass sie Angst hatte, wieder Strafaufgaben auf der Posaune von Frau Schlode zu bekommen.

Ich hatte das alles fast schon wieder vergessen, bis ich am Kontoauszugdrucker war und da auf einmal einen Geldbetrag überwiesen bekommen hatte, der eine bescheiden lebende Bahnpensionärin fast rückwärts umfallen ließ. Na, nun war ich eine »reaktivierte Pensionärin als Lernhelferin im Schuldienst«. Meine Güte! Ob ich dafür nicht wohl zu alt war? Aber wann ist man für etwas zu alt? Erst ist man zu jung, wenn keiner was sagt, ist es richtig, und irgendwann ist man angeblich zu alt. Auf so was gebe ich nichts. Ich war bei vielem, was ich im Leben gemacht habe, nicht im richtigen Alter! Als kleines Mädchen musste ich früh erwachsen werden, wissen Se, mein Vater war im Krieg geblieben, Mutter stand mit den Großeltern und mir und meinem kleinen Bruder Fritz allein da, da musste ich mit anpacken. Zeit, um Puppen Zöpfe zu flechten, war da selten. Es hieß: »Renate, du kannst schon mal die Eier absuchen«, oder: »Deck doch rasch mal den Tisch, Kind.« Da hieß es dann: »Die Renate ist schon sehr selbstständig für ihr Alter.« Als ich mit neunzehn Jahren meinen Otto heiratete – einen gesetzten Herrn von fast sechzig, das Vorzeigbarste, was der Krieg uns gelassen hatte – und er nach wenigen Wintern von seinem Schöpfer heimgerufen wurde, war ich eine sehr junge Witwe. Viel zu früh für mein Alter, wie alle sagten. Na, und so zog sich das irgendwie durch mein Leben. Ich habe immer gesagt, was ich dachte, und gemacht, was ich wollte, und bekam oft als Antwort: »Aus dem Alter biste doch wohl raus!«, oder: »In dem Alter bist du doch noch nicht!«

Das ist mir ganz egal, da soll sich das Alter eben mal nach mir richten. Ich und nicht nur ich, sondern auch alle, die was zu meckern haben, haben nur begrenzte Jahre hier auf Erden. Da sollte man sich nicht groß drum scheren, ob man wohl im richtigen Alter ist. Das habe ich auch Kirsten gesagt und mir trotzig Bärchenwurst gekauft.

Die schmeckt nun mal am besten!

Ich hatte gedacht, dass die Sache mit der Lernhelferei nur für ehemalige Lehrerinnen wie Ilse geht, aber denen war wohl völlig egal, was ich früher mal gewesen bin. Na, für die anderen Seiteneinsteiger geht es schließlich auch! Frau Schlode sagte, ich solle nicht überlegen und nicht nachfragen. »Alles, was mit Denken zu tun hat, bringt in der Schule nur den Betrieb ins Wanken, Frau Bergmann. Sie müssen es drehen, bis es für Sie passt, und sich dann einfach unauffällig verhalten, dann kann Ihnen gar nichts passieren. Sie müssen sich nur regelmäßig krankmelden. Vergessen Sie das bitte nicht!«

Ich wusste gar nicht, was das sollte! In meinem ganzen Leben habe ich nicht krankgefeiert, eine Renate Bergmann ist stets selbst noch mit »Kopf unterm Arm« zur Arbeit gegangen. Pflicht ist Pflicht, so tickt die alte Preußin in mir. Aber ich lernte schnell dazu: Im Schnitt ist jede Berliner Lehrerin – und als Schulhelferin zählte ich dazu – im Jahr fast vierzig Tage krankgeschrieben, und Frau Schlode meinte, ich solle da ja nicht drunterbleiben. Man hätte schließlich auch eine Verantwortung, der Gewerkschaft Argumente zu liefern, wie schwer und krank machend die Arbeit ist, damit sie dann wieder Wasser auf den Mühlen haben bei der nächsten Verhandlung um mehr Geld.

»Drei Tage können Sie ohne Attest zu Hause bleiben, Frau Bergmann. Da fragt kein Mensch. Sie müssen nur im Sekretariat anrufen und Bescheid sagen, Elvira hängt dann die Schildchen um, plant die Vertretung und kümmert sich um alles. Und unter uns: In Ihrem Alter hat jeder Verständnis, wenn Sie häufiger krank sind als der Durchschnitt!«

Na, so war das aber nicht gedacht! Ich machte das doch nicht des Geldes wegen, sondern um ein bisschen zu helfen!

»Frau Schlode, das geht doch nicht. Das kann doch nicht stimmen! Rechnen Se mal, vierzig Tage krank, wenn man da die Ferien und die Feiertage noch dazurechnet, ist das ja mehr als jede Woche einen Tag krank! Das ist fast so, als ob die alle Vier-Tage-Woche machen und am Freitag nicht kommen!«

Da guckt sie mich an, zuckt mit den Schultern und sagt: »Na, was dachten Sie denn, wie es hier läuft, Frau Bergmann? Ich sagte Ihnen doch schon: Nicht nachdenken. Mitmachen. Sonst werden Sie wahnsinnig!«


Ja, und so wurde ich zu einer LOVL. Wissen Se nicht, was eine Loffel ist? Grämen Se sich nicht, ich wusste es erst auch nicht. »Lehrkraft ohne volle Lehrbefähigung« heißt das. Also eine Hilfskraft, aber eine stolze! Die kürzen ja heute alles ab. In den ersten Wochen verstand ich wirklich sehr häufig nur den berühmten »Bahnhof« und musste mich behelfen, indem ich lächelte und so tat, als wäre mir alles klar. Es hatte sich wirklich viel verändert in der Schule! Als ich wissen wollte, wo eigentlich der Schulgarten ist, na, da guckten die mich aber an, als hätte ich im Biomarkt gefragt, wo die billigen Eier aus Käfighaltung stehen. Die müssen das abgeschafft haben, schon vor langer Zeit, weil sie es nicht für nötig hielten, den Kindern den Kreislauf der Natur zu lehren. Na, da muss man sich dann nicht wundern, dass die erschrecken, wenn sie eine Erbsenschote sehen. Die wissen doch gar nicht mehr, dass die nicht in kleinen grünen Kullern tiefgefroren in der Kühlstrecke wachsen. Ich machte mir gleich eine Notiz, dass ich da … also, man hat doch seine Möglichkeiten, so was auch in den Unterricht einzuflechten!

Auch den Werkraum konnte mir keiner zeigen, und als ich nach dem Karzer fragte, verschluckte sich Frau von Kießling an ihrem Kaffee. Ein bisschen überheblich war die ja schon. Die Lehrer vom Gymnasium hielten sich allesamt für etwas Besseres. Als sie Geburtstag hatte, kündigte sie großspurig an, »etwas Schönes« für alle ins Lehrerzimmer gestellt zu haben. Das entpuppte sich dann als Kuchen vom Bäcker. GEKAUFTER KUCHEN! Die ließ ihre Entgeltgruppe ganz schön raushängen.

Im Laufe der Zeit lernte ich, dass »SAPH« Schulanfangsphase bedeutet, »WUF« für Wahlunterricht verbindlich steht und »DaZ« Deutsch als Zweitsprache heißt. Du lieber Himmel! Und in solchen Abkürzungen reden die alle miteinander! Ich verstand oft kein Wort. Immer wieder war auch die Rede von »MINT«, und ich mit meinen paar Brocken Englisch dachte, es ginge um Minze und bot ein Bonbon an im Gespräch, was aber auch verkehrt war, denn MINT ist ebenfalls eine Kurzform, und zwar für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Ja, auch eine Renate Bergmann wurde hier zu einer Art Abc-Schützin, nicht nur die Kinder! Ich notierte mir das alles in meinem schwarzen Notizbüchlein. Das wurde im Laufe der Zeit wie ein Vokabelheft für das Schulwesen. Ich schämte mich aber nicht, dass ich das alles nicht wusste. Spätestens, als ich fragte, wer der Klassenleiter der Untersekunda ist und die alle nur so ein »Häää?«-Gesicht zeigten, schämte ich mich kein bisschen mehr, denn das kannten die nicht. Ha!

Ich war bei Weitem nicht die Einzige von der Seite eingestiegene Hilfskraft.

Der Sportlehrer war Herr Moselmann. Er war schon lange pensioniert und hatte wohl knapp mein Alter. Einen neuen Sportlehrer zu finden war nahezu unmöglich, erzählte mir Frau Lossack-Klauenseil. Sicher, es gibt reichlich junge Leute, die Sport studieren, aber wenn sie fertig sind, werden sie lieber Trainer in diesen modernen Fitnessturnstuben, brüllen dort Frauen wie meine Nachbarinnen Meiser und die Berber an und lassen sie Hampelmann und Kniebeugen zu Bumsmusik machen. Da verdienen sie mehr und müssen auch nicht bangen, ob ihr befristeter Vertrag wohl verlängert wird. So ein Blödsinn, so was dürfte es überhaupt nicht geben. Wissen Se, Lehrer sind doch keine Saisonkräfte wie Spargelstecher! Und selbst mit denen geht man mittlerweile achtsamer um. Und dennoch werden bis heute Lehrer über den Sommer in die Arbeitslosigkeit geschickt und im September wieder eingestellt, wenn die Turnhalle dann noch steht. Man muss ja immer mit allem rechnen, dass die wegen Asbest gesperrt wird, wegen allgemeiner Baufälligkeit oder dass tatsächlich ein Neubau ansteht. Dann wird als Erstes mal die Turnhalle abgerissen, bevor die Planung der neuen Halle beginnt, und wenn man eine Brache geschaffen hat, ist das Geld auf einmal doch nicht da, der Neubau verzögert sich um ein paar Jahre, und die Sportlehrer müssen zum Arbeitsamt. Wissen Se, das sind alles nur Kleinigkeiten im großen ganzen Bild, das schief hängt, aber so was macht doch auch was mit Menschen. Es macht unzufrieden und verzweifelt!

Jedenfalls stand für den Turnunterricht nur Herr Moselmann zur Verfügung. Der hatte stets und immer Fahrradklemmen an den Hosenbeinen. Ein richtiger Spinner war das, sage ich Ihnen. Seine Trainingshosen waren unten schmal geschnitten und konnten gar nicht in die Speichen kommen. Der brauchte keine Klemmen, aber er wollte eben, dass auch wirklich jeder sieht, dass er in seinem Alter noch sportlich ist und mit dem Fahrrad zur Schule kommt. Er ließ die Dinger einfach den ganzen Tag an den Hosenbeinen – weil er recht zauselig beieinander war oder sich schlecht bücken konnte, sei mal dahingestellt. Sie blieben am Hosenschlag und er nahm in Kauf, dass ein jeder ihn für einen Trottel hielt.

Geräteturnen konnte er selbst nicht mehr, aber die Jungen und Mädchen prima anbrüllen und um den Sportplatz scheuchen. Für sein Leben gern ließ er Erwärmung machen und hetzte die Kinder um die Aschenbahn, bis sie nicht mehr konnten. Dann war die Sportstunde meist schon rum, und er scheuchte sie noch ein bisschen in die Weitsprunggrube oder ließ sie an der Stange klettern.

Herr Moselmann hielt sich für einen tollen Hecht. Er war vor Urzeiten mal Berliner Vizemeister im Springreiten. Ich hatte großes Glück, dass er mehr Interesse an den jüngeren Kolleginnen hatte als an mir. Frau von Kießling wollte er unbedingt seine gewonnenen Schleifen zeigen. Beim Reiten kriegen die Pferde immer solche Schleifchen an das Geschirr geheftet nach dem Wettkampf, wissen Se? Die hatte er alle aufgehoben und an einer Wand in der Wohnstube verwahrt. »Ich zeige Ihnen gern mal meine Rosetten!«, umgarnte er Frau von Kießling, »dann trinken wir zwei Hübschen ein Gläschen Champagner und machen es uns gemütlich!«

Die Frau von Kießling wollte es aber gar nicht gemütlich, sondern ihre Ruhe haben, und drohte dem Moselmann mit Meldung an die Diskriminierungsbeauftragte. Er wusste nicht, was das ist, und fragte, ob die gut aussieht. Das gab dann richtig Theater! Wissen Se, man muss immer abwägen, ob man gleich das große Besteck rausholt, und auch mal überlegen, ob der Moselmann es nicht einfach nur nett meinte. Er ist eben schon etwas älter. Als der das letzte Mal mit einer Frau ausgegangen ist, hat man eben noch so geflirtet. Ich musste aufpassen, dass er nicht Gertrud unter die Augen kam, die ist nämlich anfällig für so einen Schmus und hätte wohl flugs auf dem Champagnersofa Platz genommen und die Rossrosetten bestaunt.

Im Grunde seines Herzens war Herr Moselmann sehr nett und gab uns im Lehrerzimmer ständig ungefragt die Geheimnisse seiner Fitness preis. Er war für die knapp achtzig Lenze wirklich noch gut beieinander, obwohl ihm das viele Sonnenstudio nicht guttat. Seine Haut war übertrieben gebräunt, er sah aus wie ein Hähnchen, das man schon ein bisschen zu lange auf dem Grillspieß gedreht hatte. Seine Fitnessgeheimnisse waren Tipps wie »Öfter mal die Treppe nehmen«, »Bei Hitze viel Wasser trinken« und »Nicht rauchen und keinen Alkohol trinken«. Was daran nun ein Geheimnis war, verstand ich nicht, aber ich widersprach nicht und ließ ihn reden.

»Nicht rauchen« fand ich ja ganz in Ordnung, aber keinen Korn? Keine Ahnung hatte der Kerl!

Auch der Biologielehrer war schon Pensionär. Er war aber kein angelernter Postler oder Eisenbahner wie ich, sondern schon immer Lehrer. Er war einfach dageblieben und machte weiter. Herr Heine brachte eines Tages seinen Hund mit in die Schule. Eine ganz liebe Hundedame namens Leila, ein Golden Rottwieler. Das ist ja eine ganz genügsame Rasse, zutraulich und nicht mal von einer ganzen Horde Kindern aus der Ruhe zu bringen. Eigentlich brachte er das Tier nur mit, um den Schülern zu demonstrieren, wie viel Pflege und Zuwendung so ein Hund braucht. Das ist wichtig, dass die Kinder das lernen, und zwar bevor man ein Haustier anschafft. Ein Tier ist kein Spielzeug, sondern ein Wesen, das Liebe und Aufmerksamkeit verlangt. Mit dem Hund muss man auch mindestens zweimal am Tag für wenigstens eine Stunde raus, und nicht nur an der Leine kurz um den Block, sondern so, dass er sich austoben und ungestört das Bein heben kann. Gertrud kann ein Lied davon singen! Während mein Katerle bei regnerischem Novemberwetter einfach pischi, pischi auf seinem Katzenklo macht, muss sie die Regenhaube aufsetzen, den großen, wilden Hund an die Leine legen und ihn rauszerren. Norbert sträubt sich mit aller Kraft gegen Gertrud, aber was sein muss, muss sein. Die beiden sind bei Regenwetter immer böse aufeinander: Gertrud auf den Hund, weil er so bockt, und Norbert auch auf Gertrud. Er frisst dann aus Protest nicht, damit sie ein schlechtes Gewissen kriegt und denkt, er hat sich erkältet. Wie ein Ehepaar, die beiden! Herr Heine jedenfalls hatte vollen Erfolg mit Leila. Die Kinder waren völlig aus dem Häuschen. Jeder wollte die Hundedame streicheln und sich die Hand beschnuppern lassen, und im Gegensatz zu Norbert ließ das Tier alles mit einer Engelsgeduld über sich ergehen. Als jeder mal gestreichelt hatte, wuschen sich alle die Finger – Hygiene muss schließlich sein! –, und Herr Heine gab seine Stunde. Er berichtete hinterher im Lehrerzimmer von einer ganz wundersamen Erfahrung: die ängstlichen, zurückhaltenden Kinder, die sich sonst nie meldeten, tauten auf einmal auf und beteiligten sich am Unterricht, und die vorlauten Zappelphilipps waren viel ruhiger als sonst, weil sie die Augen gar nicht vom Hund lassen konnten. Leila lag brav im mitgebrachten Hundekörbchen vor der Tafel. Herr Heine war ganz aus dem Häuschen und empfahl allen Kollegen, auf die Wirkung des Haustiers zu setzen. Ich überlegte kurz, ob ich Katerle vielleicht auch mal mitbringen sollte, aber das war nicht das Richtige, weder für den Kater noch für die Kinder. Wissen Se, Katerle ist schon ein alter Herr. Ich hole mir immer Katzen aus dem Tierheim, und sie geben nur Tiere raus, deren Lebenserwartung … also, alte Damen wie ich würden da keinen jungen Hundewelpen mehr kriegen, um es mal deutlich zu sagen. Aber das will ich auch gar nicht. Ich bin mit betagten Katerles, die viel schlafen und zufrieden schnurren, immer gut gefahren. Sie haben oft noch eine längere schöne Zeit bei mir, als die vom Tierheim glauben. Mein jetziges Katerle hat Probleme mit den Zähnen, da ist nicht mehr viel vorhanden, und er kann keine Breckies mehr knacken. Nassfutter geht aber prima, wenn ich es ihm in der Mulinette ein bisschen klein mache. Für den wäre eine ganze Schulklasse nichts, das würde den fertigmachen. Katerle ist wirklich ein genügsames Tier und eine Seele von Katze, aber wenn es ihm zu viel wird, faucht und kratzt er. Und wenn man ihn streichelt, obwohl er das nicht will, puschert er auf die Fußmatte. Ja, Frau Berber musste das leidvoll erfahren, aber sie lernt auch nicht dazu und macht es immer wieder. Da tut sie mir dann auch nicht leid. Im Gegenteil, ich gebe Katerle hinterher ein Leckerli. Hühnchen-Weichkeks mit Gelee.

Norbert wäre auch nichts für die Schule. Der Hund ist wirklich lieb, aber eben auch ungestüm und nicht erzogen. Der würde auf keinen Fall brav wie Leila unter dem Lehrertisch liegen. Norbert würde über Tisch und Bänke toben, den Kindern die Federmäppchen apportieren und die Käsestullen aus den Ranzen fressen. Er ist wirklich keine Leuchte und bräuchte dringend Erziehung, aber Gertrud verwöhnt ihn einfach zu sehr. Der Hund hört nicht, ganz egal, was sie ruft. Der macht gerade mal »Sitz« oder »Platz«. Der Scheff von der Hundeschule hat mit dem Kopf geschüttelt und »Hoffnungslos!« gemurmelt. Hätte Norbert damals nicht auf »Fass die Mietz!« reagiert, wäre der nicht mal versetzt worden. In der Aufbauklasse war er dann aber völlig überfordert, und Gertrud ist nicht mehr hingegangen. Wenigstens hatte Norbert aber das Hundediplom für den Grundkurs.

Um aber auf die Haustiere zurückzukommen: So was wird immer mehr gemacht, nicht nur an den Schulen. Auch im »Haus Abendsonne«, in dem Altenheim bei uns um die Ecke, machen die das. Einmal die Woche kommt ein Fräulein vom Tierheim vorbei mit einem Tier und besucht die alten Leutchen. Meist kommt sie mit Ewald, dem kleinen Ponyhengst, aber manchmal auch mit einem Hund oder einem Papagei, je nachdem, was sie gerade dahaben. Die alten Herrschaften tauen richtig auf im Umgang mit den Tieren. Viele hatten früher selbst Haustiere, und daran erinnern sie sich und fangen das Reden an. Schwester Sabine sagt, mit dem Hund, der einmal die Woche kommt, hat Opa Weitlich mehr gesprochen als mit ihr in einem halben Jahr. Das kann allerdings auch an Schwester Sabine liegen, die eine sehr bärbeißige und mürrische Person ist. Mit der mache ich auch nicht gern Konversation. Die Viechlein vollbringen jedenfalls wahre Wunder. Frau Winninger hat eigentlich so schlimm Arthrose, dass sie kaum die Finger krumm kriegt, aber dem Pony hat sie durchs Fell gewuschelt, als ob nichts wäre. Und sie erzählte! Sie plauderte davon, dass sie früher Hund und Hühner hatte, ach, es sprudelte nur so aus ihr heraus. Es ging so weit, dass sie sich sogar mit Opa Weitlich unterhielt und sie zusammen Karten spielten. Gut, weil er geschummelt hat, blieb es bei dem einen Mal, aber immerhin. Tiere vollbringen da wahre Wunder. Schwester Sabine erlaubt es im Heim aber nur einmal pro Woche, und sie besteht auch darauf, dass Ewald nachweislich geäpfelt hat, bevor er in den Fahrstuhl geführt wird, damit das da nicht noch mal passiert.

Hier in der Schule war die Frau Langhans auch zügig dabei, zu erklären, dass es eine ganz fabelhafte Idee vom Herrn Heine war, aber dass es aus einer ganzen Reihe von Gründen eine Ausnahme bleiben musste. Wenn es der Lehrplan unabdingbar machte, ein Tier mit in die Schule zu bringen, wäre es unter Umständen auf Antrag genehmigungsfähig, schrieb sie in einer »Hausmitteilung«. Damit sagte sie im Grunde: »Ich will mal nicht so sein und Ihnen in Anbetracht der Tatsache, dass wir eh schon die Lehrer knapp haben, keine Abmahnung erteilen, aber beim nächsten Mal fragen Sie gefälligst vorher!« Eine unangenehme Zeitgenossin war das, das muss ich so sagen, obwohl man sie natürlich auch verstehen muss. Sie trägt für die ganze Schule die Verantwortung und kann nicht zulassen, dass da Schlendrian einzieht oder jeder macht, was er will.


Ich sollte nun nicht mehr bei Frau Schlodes Klasse bleiben, weil es nicht so gern gesehen wurde, wenn Mutter und Tochter zusammenarbeiten. Hihihihihi! Na, mir sollte es recht sein, wissen Se, täglich zur Begrüßung eine Viertelstunde »Guten Morgen, ein neuer Tag beginnt, da freuen wir uns alle, dass wir beisammen sind« im Morgenkreis ging mir auf Dauer auch ganz schön auf die Nerven.

Mir war auch wichtig, dass ich nicht bei Lisbeth in den Unterricht musste. Da wäre es mir doch schwergefallen, bei der eigenen Schwiegergroßnichtenenkelin oder wie auch immer man das nennt, gerecht und streng zu sein. Ich wurde nun Frau Westermann zugeteilt, einer sehr jungen Frau, die die Klasse 2a unterrichtete.

Frau Westermann war ein Knödelmädchen, wie es im Buche steht. Wissen Se, so eine, die einen lose gebundenen Dutt auf dem Kopp trägt wie die Witwe Bolte in »Max und Moritz« und dazu so knappe Blusen, dass der nacktsche Bauch rausguckt. Sie fuhr grundsätzlich nur Fahrrad und propagierte das Essen von Rohkost, na, wie die jungschen Dinger eben so sind. Sie hatte es mit Nachhaltigkeit und Achtsamkeit, alles keine schlechten Sachen. Aber wie man Sauerbraten richtig einlegt oder Aspik aus Schweinefüßen kocht, wusste die bestimmt nicht. Trotzdem kam ich besser mit ihr zurecht, als vielleicht zu erwarten gewesen wäre. Weil sie eben so sehr auf Achtsamkeit Wert legte, betrachtete sie jeden Menschen mit Respekt, auch mich. Sie sagte das nicht nur, sondern zeigte es auch im Umgang. Wissen Se, als alter Mensch ist man das gar nicht gewohnt, dass die Leute einen ernst nehmen. Ich hielt mich auch, zumindest in der Anfangszeit, sehr zurück und sagte nicht viel, sondern ließ sie reden. Man kennt das doch, die jungen Leute sind allergisch gegen Ratschläge, die mit »Früher haben wir aber …« oder »Sportsfreund!« beginnen. Frau Westermann nahm mich ernst und teilte mich für Arbeiten ein, bei denen ich das Gefühl hatte, dass die wirklich wichtig sind. Sie erzählte auch ständig, was für ein prima Team wir beide sind und wie gut wir uns ergänzen.

Frau Westermann scherzte, ich müsste immer einen Euro in die Kaffeekasse werfen, wenn ich einen der folgenden Sätze sage:

»Du hattest in der Pause genug Zeit, auf die Toilette zu gehen.«

»Ich setze euch gleich auseinander!«

»Dein Handy kannst du dir nach der Stunde bei mir abholen.«

»Was ich nicht lesen kann, wird nicht gewertet.«

»So, Kinder, Ruhe jetzt. Für mich ist es auch die sechste Stunde!«

»Ihr geht erst, wenn alles aufgeräumt ist!«


Ich lachte aber nur und sagte, sie solle das mit der Kaffeekasse mal vergessen und nicht mitzählen. Stattdessen brachte ich zum Einstand einen Kuchen mit. Als ich den ins Lehrerzimmer stellte, glich das einer Raubtierfütterung, das kann ich Ihnen sagen! Bei meinem Frankfurter Kranz vergaßen sie alle ganz schnell, dass sie keine Butter essen, kein Weißmehl vertragen oder sowieso gerade Diät machen. Das hätten Se mal sehen sollen, wie meine Kuchenplatte im Nu leer geputzt war. Kein Vergleich zum gekauften, teuren Protzkuchen von Frau von Kießling.

Trotzdem blieb ich distanziert zur Westermann, denn sie hatte einen leichten Knall mit ihrem ständigen Gerede von Balance und Schwingungen. Sie hätte sich prima mit meiner Tochter Kirsten verstanden. Die sagt immer, sie sei eine Art Vermittlerin zwischen der spirituellen und der materiellen Welt, und ich glaube, die Westermann würde zustimmend nicken bei solchen Sätzen.

Wissen Se, die 2a, für die Frau Westermann als Klassenlehrerin zuständig war und in der ich mich nun auch meist aufhielt, war eine recht schwierige Klasse. Ich hätte mir das auch nicht träumen lassen, aber »Kinder, nicht den Tisch ablecken!« gehörte da wirklich zu den ganz normalen Sätzen, die man im Unterricht sagte. Aber was soll man auch erwarten, wenn die Klassenlehrerin bauchfreie Leibchen trägt und auf der Fensterbank im Lehrerzimmer Heilpilzlimonade braut. Ich kenne das alles von meiner Tochter, die hat auch so ein Weckglas mit Schleim drin herumstehen. Die Westermann erlaubte den Kindern sogar, im Klassenraum zu essen, denken Se sich das mal! Das war eigentlich untersagt, Stulle wurde auf dem Schulhof gegessen, und wer sich setzen wollte, ging in den Speiseraum. Aber bei Fräulein Bauchfrei-Westermann war alles Mögliche erlaubt, es ging schon fast in Richtung Waldorf. Fehlte bloß, dass wir auch in Baumhäuser klettern mussten! Auf die Idee kam sie jedoch zum Glück nicht. Wir blieben in den normalen Klassenzimmern. Na ja, normal. Was ist schon normal! In den Klassenraum zu gehen war wegen der Esserei für mich immer wie ein Besuch bei IKEA: Man will nur schnell was gucken und kommt raus mit sechs Gläsern, acht Frischhaltedosen und einem Satz Besteck für zwölf Personen.

Wobei die billigen Frischhaltedosen nichts taugen, das muss ich an dieser Stelle mal ganz deutlich sagen. Wer billig kauft, kauft nicht nur zweimal, sondern ständig! Mir kommen nur die Guten von Tupper in den Küchenschrank, und sonst gar nichts. Da bin ich mir sogar mit Gertrud, die sonst ein bisschen zur Einfachheit neigt, einig. Gertrud ist geradezu besessen, was ihre Büchsen angeht. Es gibt viele Dinge, die eine Mutter glücklich machen, aber ganz vorne steht noch immer der Satz: »Hier, Mama, ich habe dir deine Tupperbüchsen wieder mitgebracht.« Gertrud ist da ganz genau und macht ständig Inventur. Sie kennt jede Dose beim Namen und weiß, wann sie sie an welchem Abend für welchen Preis gekauft hat. Und wehe, es fehlt ein Deckel, dann ist aber was los! Ihre Tochter Gisela hat mal in einem Anfall von Leichtsinn eine Büchse mit falschem Deckel bei ihr abgeliefert. Das ist jetzt bald zehn Jahre her, aber das versteinerte Gesicht von Gertrud, als sie das merkte, vergesse ich meinen Lebtag lang nicht. Sie ist spät am Abend mit dem Taxi nach Marzahn rüber und hat ihre Tochter aus dem Bett geklingelt, um den Deckel zu tauschen, denken Se sich das mal. Das Taxi hat sie warten lassen, während Gisela im Morgenmantel den Küchenschrank durchwühlen musste. Gertrud kannte keine Gnade, sie hätte sonst nicht in den Schlaf gefunden. Sie prüfte den Deckel kritisch, ob nicht ein Kratzer dran war, und wusch sie noch in der Nacht zu Hause heiß aus. Sie war selbstverständlich sauber gewesen, aber das macht Gertrud mit allen Tupperbüchsen, die außer Haus waren. Erst als sie wieder friedlich im Schrank lag, ging sie zufrieden lächelnd auch ins Bett und fand ihre Ruhe.

Was die Taxifahrt gekostet hat, hat sie mir bis heute nicht erzählt, aber bestimmt hätte sie da einen ganzen Satz neuer Büchsen für kaufen können!


So, wie die Tische und Stühle im Klassenraum standen, hätte man denken können, Kirsten hat hier alles nach Scheng-Pfui angeordnet. Wie unsereins es kennt, dass die Bänke in Reihe stehen, ist das heute nicht mehr. Die halbe Zeit geht dafür drauf, dass die Tische umgeschoben werden zu Lerninseln oder zu Projektgruppen, und selbstverständlich werden die Stühle mehrmals am Tag im Kreis angeordnet. Stuhlkreis. Stuhlkreis muss wohl ein Hauptstudienfach für die Grundschullehrer sein, seit mehr als dreißig Jahren, denn selbst die älteren Lehrer rückten ständig Stuhlkreise zurecht. Sehr gern wird dann über Probleme gesprochen, aufgelockert von Gesang und von Geklimper auf der Gitarre. Frau Schlode ließ auch jeden Morgen zur Begrüßung singen, das können Se sich ja denken, dass die keine Gelegenheit zum Trällern ausließ. Das steckte eben in ihrer Natur.

Der Bodenbelag in den Klassenräumen war nicht nur verschrammt, sondern schon ganz dünn vom vielen Tische- und Stühlerücken. Fachkräftemangel hin oder her, es kann sein, dass wir nicht genügend Pflegekräfte und Inschenijöre ausbildeten, aber als Möbelpacker waren die kleinen Racker nach der Grundschule alle prima zu gebrauchen. Später, auf dem Gymnasium, wird dann weniger gerückt. Da regen sich die Lehrer ständig auf, dass die Kinder nichts können, dass die Grundlagen fehlen und dass sie quasi bei null anfangen müssen. Als Erstes streichen se deshalb das Möbelrücken und besinnen sich auf die alten Tugenden, nämlich dass man in der Bankreihe auf dem Hosenboden sitzt und konzentriert lernt.

Es heißt immer so vornehm »Fachkräftemangel«, aber ich glaube, da machen wir es uns wieder mal bequem und nett. Die Wahrheit ist, dass wir nicht nur hochgebildete und überstudierte Fachkräfte brauchen, sondern auch Arbeitskräfte. Fleißige und flinke Leute in allen Bereichen, auch in Berufen, für die man nicht studiert haben muss. Da wird immer verdruckst drum rum geredet, damit man niemandem auf die Füße tritt. Alle haben ja heutzutage Angst, zu sagen, wie es ist, wegen der Befürchtung, jemand könnte ihnen Beleidigung, Respektlosigkeit oder gar noch Schlimmeres vorwerfen. Verstehen Se mich nicht falsch, ich bin immer dafür, jeden mit Anstand, Respekt und Achtung zu behandeln. Aber wenn das dazu führt, dass man sich in wolkige Floskeln flüchtet, die das Problem bestenfalls grob umschreiben, aber nicht klar benennen, dann machen wir es uns kuschelig bequem in der Diskussion. Mich hat letzthin eine Frau mit bösen Worten angegangen, weil ich »Fußgänger« sagte. Das hieße heute »zu Fuß Gehende«. Entschuldigen Se bitte, aber da weigere ich mich! Ich sage, wenn zwei Damen das Trottoir entlangkommen, gern »Fußgängerinnen«, aber »zu Fuß Gehende« kommt mir nicht über die Lippen. Auch nicht »Radfahrende«.

Die spinnen doch!

Ähnlich ist es mit dem Fachkräftemangel. Statt zu sagen, wir brauchen fleißige Leute, die mit anpacken, und zwar in allen Bereichen, von der Pflege über die Gastwirtschaft bis hin zum Kofferband am Flughafen, murmeln se was von »Qualifizierungsoffensive« und »Fachkräftemangel«, aus Angst, die Menschen könnten beleidigt sein, wenn man sie Arbeiterinnen und Arbeiter nennt. Wir brauchen Handwerker! Vor allem brauchen wir Handwerker! Meine Güte, haben Sie mal versucht, einen Termin in der Autowerkstatt oder beim Heizungsbauer zu kriegen? Der Polsterer, bei dem Gertrud ihr Küchensofa neu beziehen lassen wollte, hat eine Wartezeit von neun Monaten. Das ist ja wie beim Storch! Aber Handwerk ist heute nicht mehr gefragt, heute zählt Mundwerk. Geschwollen quasseln und hochtrabende Reden halten, das können se! Nach meiner Erfahrung stört es Handwerker überhaupt nicht, wenn man sie so nennt. Im Gegenteil! Die freuen sich, wenn ihr Fleiß anerkannt und geachtet wird, was sie mit ihren Händen schaffen. Sie sind nur sauer, wenn sie schlecht bezahlt werden, und das mit Recht. Aber dass man sie Fachkräfte nennt, darauf legen die meisten gar keinen Wert. Viel wichtiger ist ihnen, dass das mit dem sprichwörtlichen goldenen Boden auch passt. Ich bin schon gespannt, wann der nächste Aufschrei kommt und man nur noch »Fachfähigkeitenbesitzende« sagen darf.

Mir ist es jedenfalls ein Rätsel, dass niemand auf uns Ältere kommt bei all dem Mangel.

Wir Alten sind immer nur an allem schuld. Dass wir auch was können und vielleicht zu was nutze sind, auf die Idee kommt keiner! Aber wir sind es gewohnt, dass auf uns eingeprügelt wird. Alte Leute sind zu teuer und kassieren zu viel Rente. Wir sind schuld daran, dass im zweiten Programm nur seichtes Programm läuft, weil wir das alle gucken. Seit Neuestem sind wir auch noch der Grund für den Wohnungsmangel, habe ich gelesen. Pro Nase haben die über 80-Jährigen wohl die meisten Quadratmeter. Wer so was ausrechnet, sollte auch mal wieder an die frische Luft und ein paar Minuten richtiges Leben tanken. Als ob wir es uns ausgesucht haben, Witwe oder Witwer zu werden! Wenn der Ehepartner verstorben ist, wer soll denn da beim Umzug helfen? Die Kinder wohnen meist weit weg, und man will auch gar nicht raus aus der gewohnten Umgebung. Man versucht doch festzuhalten, was man noch hat! Und die Wohnung oder das Haus, vollgestellt mit den Erinnerungen, sind das, was einem noch geblieben ist. Das gibt man nicht gern auf und sagt: »Ach, die alten Anzüge von Walter, die kommen zum Roten Kreuz, ich verkleinere mich und ziehe ins betreute Wohnen. Mir reicht auch ein Zimmer, soll ins Haus mal eine Familie einziehen!« Das braucht seine Zeit, bis man sich trennen kann von Erinnerungen und bereit ist, sich zu verändern und sich zu verkleinern. So ticken wir alten Herrschaften nun mal, und ich sage Ihnen voraus: Sie werden auch mal nicht anders!


Ich wäre ja dringend für ein Schulfach »Sich im Leben zurechtfinden«. Da könnte man Dinge lehren, auf die es wirklich ankommt: Wie man einen Knopf annäht, wie man einen Händivertrag pünktlich kündigt, wie man die richtige Menge Nudeln pro Person kocht und solche Dinge. Auch, auf welchem Amt man was beantragt und wie das geht mit den Formularen, oder wie man ein Huhn schlachtet und richtig ausnimmt.

Na gut, bei Letzterem gäbe es bestimmt Ärger. Ich konnte mir schon vorstellen, was los wäre, wenn ich mit einer Axt und einem Hahn im Flügelgriff im Klassenraum … nee. Das vergessen Se mal, das ziehe ich zurück. Obwohl es wirklich wichtig wäre, sich da auszukennen! Man kann sich böse Schnabelhiebe holen, wenn man den Gockel nicht richtig erwischt. Oma Strelemann ist mal einer ausgebüxt beim Schlachten, der rannte ohne Kopf wie von der Tarantel gestochen durch den Garten … aber ich höre auf, sonst können die Zartbesaiteten nicht schlafen nach der Lektüre.

Solche Dinge wie ein Haushaltsbuch führen, mit dem Einkommen auskommen, günstig kochen – so was wird gar nicht gelehrt, obwohl der Stundenplan voll ist bis zum Nachmittag. »Nur von der Verehelichung träumen genügt nicht, Hausfrau ist auch ein Beruf, den man lernen muss!«, hat uns Fräulein Braun auf der Bräuteschule immer gesagt. Das war eine lehrreiche Zeit! Gertrud war die Beste in Bodenpflege, die konnte bohnern und wischen und hatte auch in Scheuern ein »Gut«. Bei ihr können Se bis heute vom Linoleum essen! Was der Schiller vor 200 Jahren mit dem dritten Vers in der zweiten Strophe gemeint hat, ja, darauf hacken sie stundenlang rum, aber wissen Se, viel wichtiger wäre doch, den Kindern statt einer Gedichtinterpretation beizubringen, was das Finanzamt meint mit seinen verqueren Sätzen am Ende des Steuerbescheids!


Ich beobachte immer wieder Dinge im Alltag, bei denen ich nur den Kopf schüttle und versuche, mich nicht aufzuregen. So kleine Rücksichtslosigkeiten, wissen Se? Wenn ein Radfahrer mal wieder wie so ein Flegel über den Gehweg rast, zum Beispiel. Da stelle ich mir immer ganz viele Fragen: Der weiß doch, dass das verboten ist. Warum macht er das dann trotzdem? Rege ich mich nur auf, weil ich so alt bin? War das schon immer so, dass die Leute sich so danebenbenommen haben? Und wenn nicht, warum sind die Jungschen so auf sich bezogen und nehmen keine Rücksicht auf Schwächere und Ältere? Wer hat da eigentlich versagt: die Schule, das Elternhaus oder wir alle als Gesellschaft? Es nützt auf jeden Fall niemandem, sich ständig gegenseitig die Schuld in die Schuhe zu schieben.

Beim Stichwort »Schuhe« fällt mir was ein, denken Se nur, da sitzen sogar Erstklässler, die sich nicht mal alleine die Schuhe zubinden können! Da muss dann die Lehrerin auf die Knie, damit die Kleine – ich nenne lieber keine Namen, sonst kriege ich gleich wieder erboste Anrufe von Eltern – nicht über ihre Senkel stolpert. Das ist aber nun wirklich eine Angelegenheit des Elternhauses, genau wie auch viele andere Dinge des Benehmens und des Anstands. Wissen Se, es gibt heutzutage viele Unterrichtsfächer, auch etliche, die es zu meiner Zeit noch nicht gab. Aber ein Fach »Anstand«, in dem den Kindern vermittelt wird, wie man sich zu verhalten hat, das gibt es nicht. Dass man als Kind Erwachsene grüßt, dass man im Bus einen Platz anbietet, dass man den Mund hält, wenn sich andere unterhalten. Dass man sich meldet und nicht einfach dazwischenplappert. Dass man auf dem Gehweg auf der rechten Seite läuft und nicht mit dem Roller Slalom um alte Damen dreht und dass man sein Bonbonpapier nicht auf die Straße schmeißt, sondern in den Papierkorb. Verstehen Se, was ich meine?

Da fühlt sich niemand zuständig, den Kindern das beizubringen. Die Eltern rennen von einem »Jobb« zum nächsten und müssen sich danach noch beeilen, weil erst Lucas-Leandro zum Einradfahren gekarrt werden muss und dann um halb fünf das Aschanti-Joga anfängt. Da bleibt eben keine Zeit, dem Jungen beizubringen, was sich gehört und was nicht.

Ich finde kein besseres Wort dafür als »Das gehört sich nicht« oder »So etwas tut man nicht«. Solche Dinge kann man aber auch nicht streng nach Lehrplan unterrichten, ein Arbeitsblatt ausfüllen und das mit einer Klausur abfragen. Meinetwegen können die da ruhig ein Unterrichtsfach draus machen, wenn die Eltern das den Kindern nicht erklären wollen oder können. Bitte schön! Gern! Aber man muss sich darüber unterhalten und sich verständigen. Die Eltern verlassen sich darauf, dass »die das den Kindern schon in der Schule beibringen, wofür sitzen die denn sonst da?«, und die Lehrer ihrerseits behaupten stur: »Das sind Grundvoraussetzungen, die müssen die Schülerinnen und Schüler mitbringen, sonst brauchen wir hier in der Schule gar nicht anfangen!« So liegen die Dinge, niemand fühlt sich verantwortlich, und einer verlässt sich auf den anderen. Und auf den Elternabenden, wo so was eigentlich besprochen werden könnte, geht es dann um die Pausenverpflegung, ob der Käterer noch der richtige ist und solche Dinge.


Der kleinen Westermann hätte so ein Schulfach auch gutgetan. Da hätte man ihr vielleicht auch beigebracht, wie man sich in der Schule anzieht und dass man einen Büstenhalter trägt. Warum ausgerechnet die sich nun entschieden hatte, Lehrerin zu werden, ist mir ein Rätsel. Sonst will keiner Lehrer werden, aber Frau Westermann fühlte sich berufen.


Wir kamen wie gesagt gut miteinander zurecht, aber an einem Nachmittag wurden wir regelrecht zu Freundinnen im Lehrerzimmer. Frau Westermann hatte gerade ihr Telefon aufgelegt, als ich reinkam, und fing ein bisschen an zu weinen. Ich strich ihr tröstend über die spärlich bedeckten Schultern und holte ihr einen Kaffee. Üblicherweise reiche ich in solchen Fällen einen Korn, aber das erschien mir nicht angemessen und hätte nur Ärger gegeben, ich hatte schließlich vor Augen, was sie mit Frau Schlode wegen der nackigen Friseurinnen gemacht haben. Ich klopfte ihr aufmunternd auf den Handrücken.

»Was haben se denn mit Ihnen gemacht, Frau Westermann?«

Sie nahm einen großen Schluck Kaffee und atmete tief. Dann schnäuzte sie sich die Nase und sagte: »Es geht schon wieder. Entschuldigen Sie, Frau Bergmann, es ist im Grunde sehr lächerlich, und ich ärger mich selbst, dass dieses … DIESE PUTE! … mich so aus der Bahn werfen kann.«

Sie guckte wütend auf das Händi.

Es stellte sich heraus: Der Fotograf war da gewesen und hatte ein Klassenfoto gemacht. Nach Überzeugung der Mutti von Pia-Petunia oder so ähnlich war Frau Westermann daran schuld, dass ihre Tochter neben Sarafina-Lavendula steht. Das hätte sie nicht zulassen dürfen, sie wüsste doch genau, dass die beiden gerade Streit miteinander hatten, und das sähe man auf dem Bild. Frau Westermann hätte die Pflicht gehabt, das zu verhindern, und außerdem hätte sie mit Kamm und Haarspray noch mal über die Ponys der Mädchen gehen müssen, das sähe ja jetzt auf den Fotos alles komplett unmöglich aus.

Während sie mir das erzählte, lachte die Frau Westermann schon. Ich lachte auch.

»Sie will das jetzt in der Elternversammlung zur Sprache bringen und ist auch nicht bereit, die Bilder zu bezahlen.«

»Frau Westermann, Sie merken aber schon, dass die Petunien-Mutti sich da sehr lächerlich macht? Lassen Se die nur in der Elternversammlung darüber sprechen! Bis die erklärt hat, was sie will, ist eine Viertelstunde rum. Dann wird die Lavendel-Mama eine Gegenrede halten, dann lachen alle, und am Ende ist keine Zeit mehr, über anderen Quatsch zu sprechen, weil jeder nur noch nach Hause will. So mache ich das im Altenverein auch immer. Soll sich Wilma Kuckert ruhig erst mal aufregen, dass sie die Einladung nicht lesen konnte, weil die Schrift zu klein ist – je länger die redet, desto müder wird sie. Dann quatscht sie mir später nicht mehr rein, wenn wir die Ausflüge festlegen.«

Frau Westermann prostete mir augenzwinkernd mit dem Kaffee zu. »Lassen Sie nur, Frau Bergmann, was Elternversammlungen betrifft, habe ich auch meine Tricks. Sie werden schon sehen!« Von da an kamen wir allerbestens miteinander zurecht, bauchfreie Hemdchen hin oder her.


Ich frage mich das oft, warum denn keiner mehr Lehrer studieren will. An den Kindern allein kann es nicht liegen. Sicher, es gibt fürchterliche Blagen, über die man sich zornig ärgern kann, und die haben dann auch oft fürchterliche Eltern mit falschen Erwartungen an die Kleinen. Trotz allem hat die Natur es aber doch so eingerichtet, dass wir Kinder gernhaben und sie behüten und beschützen wollen. Und dass wir ihnen Liebe und Wissen mit auf den Weg geben wollen, damit sie im Leben zurechtkommen. Das steckt im Menschen so drin, dass er seine Erfahrungen weitergeben und die Kinder mit dem Rüstzeug ausstatten will, das sie brauchen, um sich durchzubeißen – und natürlich, um mal unsere Renten zu bezahlen.

Daran kann es also nicht liegen, der Mensch hat einen natürlichen Drang zum Klugscheißern und Belehren. Also muss es noch andere Gründe geben, die die Leute abhalten. In Berlin kann ich mir denken, dass es auch an der Wohnungsknappheit liegt. Meine Güte, was man hier für Schlangen sieht, wenn drei Zimmer neu vermietet werden! Man kommt auch an keinem Baum oder keiner Ampel vorbei, ohne dass einem ein angepinnter Zettel in die Augen springt, mit dem wieder eine junge Familie eine Wohnung sucht und bereit ist, dafür Preise zu bezahlen, dass einem die Ohren schlackern. Da denke ich mir immer: Früher hatte der Lehrer eine Dienstwohnung in der Schule. Ja, ich weiß, das waren andere Zeiten. Damals gab es einen Lehrer für acht Klassen, und der bekam die vier Zimmer über der Schule. Ich weiß noch, wie der alte Lehrer Stock damals in den Ruhestand ging. Der ist nach dem Ausscheiden aus dem Schuldienst – aus dem er selbstredend mit großem Festprogramm und der Verleihung der Ehrenbürgerschaft der Stadt verabschiedet wurde – mit seiner Frau ins Bergische Land gezogen, wenn ich mich nicht täusche.

Es kann auch Berchtesgaden gewesen sein, ich weiß es nicht mehr genau.

Ach, es ist schlimm, wenn man alt wird, man vergisst die wichtigsten Sachen! Ich könnte Ilse fragen, die erinnert sich bestimmt. Aber dann kriege ich wieder eine schnippische Bemerkung, ob ich wohl alt und lala im Kopp werde. Nee, ich frage Ilse nicht. Ich bin mir auch fast sicher, dass es das Bergische Land war.

Es ist aber im Grunde auch nicht wichtig für die Geschichte, auf jeden Fall sind der Stock und seine Gattin weggezogen. Allerdings überschnitt sich das mit dem Dienstantritt der neuen Lehrerin, Fräulein Pulver. Ein Fräulein als Lehrerin, was meinen Se, was da los war! Es war ja eine ganz andere Zeit. Den Mittelpunkt des Dorfes bildete die Kirche, und nicht nur räumlich. Die war damals noch voll, wenn Predigt war. Wer sonntags nicht in die Kirche ging, der hatte dem Herrn Pfarrer aber was zu erklären. Der Pfarrer und sein Wort galten da noch was, und er predigte Gehorsam. Er ging auch nicht nach ein paar Monaten wieder weg, weil die Planstelle nicht verlängert wurde, sondern blieb bis zur Rente oder bis der Herr ihn zu sich rief. Er hatte ja auch viel zu tun, schließlich wurde anständig geheiratet und beizeiten gestorben. Mit Mitte 70 war man da schon die Ausnahme und steinalt! Der Pfarrer hatte mit Beerdigen, Taufen und Trauen zu tun und war ausgelastet. Der Bürgermeister, der Pfarrer, der Doktor und der Lehrer, das waren die vier Männer im Dorf, die das Sagen hatten. Es hatte auch nicht jeder Telefon, die Leute mussten entweder direkt hin zum Doktor, wenn was war, oder zum »Goldenen Schwan«, um ihn zu rufen. Und wenn der Doktor dann kam, wurde vorher gebadet. Der Arzt bekam erst mal eine Vesper und einen Schnaps und als Honorar ein geschlachtetes Karnickel, bevor er in den Hals guckte. Als später das Motorrad aufkam, wurden die Männer übermütig, und es gab viele Unfälle. Das war dann für den Herrn Landarzt auch eine Umstellung, so ein Motorradunfall macht ja doch ganz andere Verletzungen als ein durchgegangenes Pferd. Mit Rheuma oder so was hat er sich nicht abgegeben, deswegen ging auch niemand zu ihm. Da wurde die Salbe vom Tierarzt draufgeschmiert, die hat prima geholfen. Es war schließlich nicht billig, den Doktor kommen zu lassen! Pro Hausbesuch war ein Schinken fällig, und so viele hatte auch niemand davon in der Räucherkammer hängen. Wir hatten mal den Fall, dass Opa Strelemann Lungenentzündung hatte und Mutter den Landarzt kommen ließ. Wir hatten aber nur noch Hinterschinken, und der war ja viel größer als ein Vorderschinken, der eigentlich der Preis war. Da war nun die Frage, ob wir das geschlachtete Karnickel, dass er für das Halsauspinseln von Otto Krauspe bekommen hatte, als Wechselgeld nehmen, oder ob er Omas dicken Fuß mal anguckt.

Es gab Hasenbraten am nächsten Sonntag, ganz was Feines!

Jeder, der Mist gefahren hat, hat ein bisschen was verloren, und am Ende wollte keiner Schuld gewesen sein, wenn das ganze Dorf gestunken hat. Damals lebten vier Generationen unter einem Dach, das war ganz normal. Um zehn haben die Glocken das erste Mal geläutet, da sind die Frauen vom Feld nach Hause gegangen und haben zu kochen angefangen. Um elf hat es dann für die Männer geläutet, dann sind die los, damit sie pünktlich zum Mittagessen daheim waren. Wenn es abends um sechs läutete, war Feierabend für alle, für die Männer wie für die Frauen.

Ja, so war das, jeder hatte sein Tun, und neumodischer Kram wurde erst mal kritisch gesehen. Eine Frau als Lehrerin! Die Bauern drohten erst damit, die Kinder nicht mehr zur Schule zu schicken, weil sie schließlich etwas Richtiges lernen sollten und keinen »Weiberkram«. Aber Fräulein Pulver setzte sich durch, sie war bei aller Freundlichkeit nämlich eine ganz Zähe. Jedenfalls konnte sie noch nicht in die Dienstwohnung, weil die Stocks noch mit dem Möbelpacken beschäftigt waren, und ging übergangsweise in ein Pensionszimmer im Dorfkrug. Die vermieteten nicht wie ein Hotel an Fahrradtouristen, wie das heute üblich ist, aber die Gemeinde hatte mit dem Wirt besprochen, dass das Fräulein Pulver für ein paar Wochen ein Zimmer kriegt. Sie bekam auch zu essen bei den Wirtsleuten. Nicht von der Karte, sondern einfache Kost, was eben gekocht wurde jeden Tag. Das war aber nicht schlecht, Schwartenmagen hat nirgends so gut geschmeckt wie im »Goldenen Schwan«! Wissen Se, es war ja eher eine Dorfschenke als ein Gasthaus. Richtig groß gekocht wurde da nur bei Festlichkeiten, wenn eine Silberhochzeit gefeiert wurde beispielsweise oder wenn Konfirmation war. So unter der Woche gab es abends nur ein Feierabendbier für die Bauern, wenn sie nach der Feldarbeit noch ein bisschen beisammensaßen und den Tag ausklingen ließen. Am Sonnabend wurde ein Skat gekloppt. Es gab viel Stammkundschaft. Einen Fernseher hatte damals noch nicht jeder, aber im »Goldenen Schwan« gab es einen. Wenn ein Fußballspiel war, na, dann ging es in die Wirtschaft! Der Apparat war so groß wie ein Stullenbrett und das Bild schwarz-weiß. Die Männer standen in Viererreihen davor, und mir soll keiner erzählen, dass die was gesehen haben auf dem krisseligen Bildschirm. Aber an den meisten Abenden redeten wir miteinander, statt wie heute beim Fäßbock Unsinn zu schreiben. Im Unterschied zum Fäßbock, wo der, der den unverschämtesten Quatsch schreibt, die meiste Aufmerksamkeit bekommt, war es am Stammtisch so, dass einem Spinner gesagt wurde, wenn er Blödsinn quasselt, und dann war Ruhe. Wenn das einmal vorkam, war das nicht schlimm, denn jeder erzählt mal dummes Zeug, erst recht, wenn er ein paar Bier zu viel hatte. Aber wenn es öfter vorkam, wusste man: »Der hat einen Hau, was der von sich gibt, darauf darf man nichts geben.« Da funktioniert die Dorfgemeinschaft irgendwie besser als der Fäßbock, das haben die früher geschickter hingekriegt. Beim Onlein schreiben die Spinner jeden Tag wieder, und ihr Zulauf wird umso größer, je dämlicher das Zeug ist, was sie tippen.

Ach, es war eine andere Zeit, aber nicht die schlechteste!

Aber ich bin abgeschweift. Wo war ich?

Ach ja, Fräulein Pulver. Die wohnte wohl gute acht Wochen im Pensionszimmer über dem Dorfkrug, bis die Böcke endlich ihre Plünnen im Möbelwagen hatten und nach … ins … also, bis sie weggezogen sind. Ins Bergische Land. Als sie hätte umziehen können in die Lehrerwohnung, war es aber schon zu spät. Sie war guter Hoffnung und erwartete was Kleines vom Gregor Pütz, dem Erben vom Pechelhof. Es war wohl nicht beim gemeinsamen Abendessen geblieben, wie die Dinge lagen. Man beeilte sich dann, das Aufgebot zu bestellen, und als sie heirateten, sah man noch nichts. Es wurde ein strammes Siebenmonatskind, und der Herr Pfarrer traute das Paar und taufte das Kind mit großer Nachsicht und ohne jede spitze Bemerkung. Fräulein Pulver hatte, als sie auf den Pechelhof eingeheiratet und einen Erben geboren hatte, einen ganz anderen Stand im Dorf, und niemand störte sich mehr daran, dass sie eine Frau war, als sie später, als der Junge aus dem Gröbsten raus war, schließlich und endlich unterrichtete. Ein Fräulein wäre für die Bauern nicht hinnehmbar gewesen, das war ein zu großer Schritt. Aber eine Frau, die akzeptierten sie. Mit Murren, aber immerhin.

Frau Westermann wohnte mit ihrem Freund – natürlich war sie nicht verheiratet – noch in einer WG. Da will ich ihr aber keinen Vorwurf machen, denn mit den Wohnungen ist es hier bei uns in Berlin wirklich eine verzwackte Sache.


Wo ich nun offiziell zur Gemeinschaft der Lehrenden gehörte, ging ich selbstverständlich auch im Lehrerzimmer ein und aus. Was meine Augen da erblicken mussten! Wissen Se, ich zählte zum Lehrkörper und nicht zum Reinigungspersonal, aber wenn Se mich nun schon ein bisschen kennen, können Se sich denken, dass es mich in den Fingern juckte, einen Wischlappen zu holen.

Das Lehrerzimmer war im Grunde ein großer Saal, der für die Lehrer der Grundschule, in der ich mich umtat, und für die des benachbarten Gymnasiums gemeinsam als Arbeitsort diente. Die Oberstufenlehrer grüßten die von der Grundschule zwar höflich, aber im Grunde hielten sie sich für was Besseres und behandelten uns immer ein bisschen von oben herab. Dabei sollten die sich gut mit uns stellen, denn wenn wir unsere Arbeit nicht gut machten, bekamen die nur Torfnasen aufs Gymnasium! Im Grunde waren es zwei Schulen, die nichts miteinander zu tun hatten, außer dass sie sich das Lehrerzimmer teilten. Nur am Anfang habe ich mich mal verlaufen, als ich mich noch nicht so gut auskannte. Ich fühlte mich gleich nicht recht wohl, als ich den Flur entlanglief, aber richtig schlimm wurde es erst in dem Moment, als ich versehentlich in das Physiklabor ging. Dort wartete die 8a, nachdem die Jungen Sport gehabt hatten. Puh! Kennen Se das Alfred-Brehm-Haus im Tierpark? So ungefähr müssen Se sich das vorstellen. Ja, die Pubertät ist ein schwieriges Alter für die Jungen. Die wissen da einfach noch nicht, ob man die Mädchen nun an den Haaren ziehen oder mit ihnen Händchen halten soll. Und sie können auch Deospray nicht richtig dosieren, es gibt welche, die sprühen, bis die Flasche leer ist, und welche, die sehen gar nicht ein, dass sie sich überhaupt was unter die Achseln tun sollten. Es ist ein schwieriges Alter. Ich war nur selten so froh, dass ich mich verlaufen hatte und wieder gehen konnte und bedauerte den Herrn Wittersbach, der da reinmusste.

Vor dem Klassenraum der 7b stand ein riesiger Blumentopf mit einem Ficus drin, so groß, dass ich dachte, die haben eine Linde im Flur stehen. Es war mir ganz und gar unerklärlich, wie dieses Trumm so groß werden konnte, aber Frau Westermann verriet mir die Lösung: Es war ursprünglich eine ganz normale, kleine Pflanze, die Frau Ebert, die Lehrerin, von einer Mutti, die sich nicht mehr ermitteln ließ, zur Einschulung geschenkt bekommen hatte. Von da an war es die »Klassenpflanze«, denn weil Frau Ebert keinen grünen Daumen hatte, nahm sie den Topf nicht mit nach Hause. Stattdessen pflegten die Kinder während der Schulzeit die Pflanze, was sie auch leidlich überstand. Jedenfalls blieb sie bis zu den Ferien am Leben. Dann kamen die Muttis von Annabel und Vivienne ins Spiel. Sie wetteifern um die Gunst der Ebert und kandidieren jedes Jahr beide als Schulelternsprecherin. Die Damen bieten sich wohl seither regelmäßig vor den Ferien an, die Topfpflanze in Pflege zu nehmen. Immer, wenn die Schule wieder losgeht, schleppt die Annabelmutti oder die Viviennemama, je nachdem, wer beim Wettstreit um die Pflegepatenschaft gewonnen hat, einen Topf an, der dreimal so groß ist wie vor den Ferien, weil die nämlich schummeln und im Baumarkt immer ein größeres Modell kaufen. Frau Westermann sagte, alle wissen es und amüsieren sich, nur die beiden glauben, dass es keiner merkt.


Als ich zum ersten Mal in das Lehrerzimmer reinkam, dachte ich, mich trifft der Schlag. Da saßen Menschenmassen rum, ich fand kaum einen Platz! Aber wissen Se, die allerwenigsten von denen waren Lehrer. Weil wir es ja nicht für nötig halten, unseren Kindern mit der gebotenen Aufmerksamkeit und Fürsorge von Anfang an ausreichend Bildungs- und Erziehungspersonal vor die Nase zu setzen, müssen wir hinterher daran herumreparieren und brauchen Sozialarbeiter, Lernhelfer, Sozialpädagogen, Sozialtherapeuten und Sozialsonstnochwas. Der ganze Reparaturberieb kostet unterm Strich bestimmt mehr, als würde man gleich sagen: Wir bezahlen Lehrer anständig, wir stellen so viele davon ein, dass in einer Klasse höchstens zwanzig Kinder sind und dass auch noch ein paar Reserve-Lehrer da sind, die einspringen können, wenn mal einer unpässlich ist, Urlaub oder Nervenzusammenbruch hat. So viele wären da gar nicht nötig, denn glauben Se mir, solche Krankheiten ließen auch nach!

Sie merken schon, es fällt mir nicht leicht, die ganzen Probleme zu Papier zu bringen. Ich versuche es auch gar nicht, da sind schon ganz andere daran gescheitert.

Bildung ist bei uns ja Ländersache, und das nehmen die einzelnen Bundesländer auch sehr ernst. Also, nicht, sich um die Kinder zu kümmern, sondern darum, allen klarzumachen, dass sie zuständig sind. Viel mehr haben die nämlich im Grunde gar nicht zu sagen und zu bestimmen, nur bei Polizei und Schule, da sind se vorneweg. Bezahlen dürfen sie überall, aber das Sagen haben sie lediglich bei Schule und Polizei. Und deshalb machen sie da auch großes Tamtam vor jeder Wahl: Im Wahlkampf wird immer versprochen, dass mehr Lehrer eingestellt werden und mehr Polizisten. Aber wenn dann die Wahl gelaufen ist, stellt sich raus: Huch, so viel Geld ist gar nicht da! Dann kommt wieder die Gewerkschaft und will für die Leute ein paar Mark mehr, und zack!, muss wieder gespart werden. Das sagt aber heute keiner mehr so direkt, denn damit holt man sich nur eine blutige Nase. Da hatten sie teure Berater, und die haben ihnen für viel Geld an so einen Flips-Tschart geschrieben, dass sie besser »Strukturreform« dazu sagen sollen. Und dass sie auf jeden Fall »Abbau von Bürokratie« zu allem, was sie tun, dazuschreiben sollen, weil das bei den Leuten immer gut ankommt. Was das dann im Einzelnen bedeutet, wird erst bei der Umsetzung deutlich, nämlich meist das Gegenteil: Es wird noch komplizierter, und sie brauchen selbstverständlich mehr Leute für die Verwaltung und die Bürokratie. Oder die Schulsekretärin kriegt es mit auf den Arbeitsstapel.

Und natürlich wollen alle Lehrer einstellen, aber wen denn, bitte schön? Es gibt doch kaum noch junge Menschen, die auf Lehrer studieren, weil sie sich das nicht antun wollen. Die sehen doch tagtäglich, mit welchen Schäden an Körper und Geist die Opfer benommen aus dem Schulbetrieb rauspurzeln. Deshalb haben sie nun angefangen, beim Lehrerberuf die Anforderungen ein bisschen runterzuschrauben. Das ist im Grunde eine prima Sache, wissen Se, es gibt so viele kluge, lebenserfahrene Leute, die durchaus in der Lage sind, unseren Kindern das Einmaleins beizubringen und dass man »nämlich« nicht mit h schreibt. Bei denen scheitert es oft nur daran, dass sie irgendwo in diesem Irrsinnswirrwarr von Vorschriften einen Zettel nicht richtig ausgefüllt hatten oder ein Semester Psycho oder Sozial zu wenig studiert haben. Deshalb bekamen die ihr Diplom nicht und fuhren ihr Leben lang Taxi oder, noch schlimmer, Pizza aus. Das ist doch eine Vergeudung von Wissen! Diese Menschen freuen sich, wenn sie lehren dürfen. Oder gucken Se sich die vielen zu uns Gekommenen an, da sind auch eine Menge kluge und pfiffige Menschen dabei. Wenn man mal mit denen spricht, ihre Fähigkeiten individuell prüft und ihnen eine Schangse gibt, dann ist das doch eine feine Sache, die allen weiterhilft.

Ich frage mich ja auch immer, warum man als Grundschullehrer so lange studieren muss. Gucken Se sich mal die Dinge an: In der ersten Klasse lernen die Kinder gar nichts, nur erst mal still sitzen und ihren Namen malen. Dann geht es langsam los, aber Rechtschreibung ist nicht wichtig, und mit Buchstaben rechnen kommt erst später, ab Klasse vier. Das müssen die doch aus ihrer eigenen Schulzeit noch zusammenkriegen, da muss man doch keine fünf Jahre studieren!? Da fragt man sich, was die denn da sonst noch so lernen. Pädagogik und Psychomethoden und solchen Kram, jawoll. Gesunden Menschenverstand und Erfahrung kriegen die auf dieser Universität ja nun ganz sicher nicht beigebracht. Also, da ist bestimmt noch Luft im Zeitplan, die könnte man früher auf die Kinder loslassen. Sicherlich, unter Aufsicht von erfahrenen Lehrpersonen, die vielleicht schon im Ruhestand sind und nur noch ein bisschen die Pension oder Rente aufbessern wollen.

Wissen Se, man muss und soll und darf auch gar nicht alles so machen wie früher. Aber mal zurückschauen, wie es mal gewesen ist, und daraus lernen, es auf unsere jetzige Zeit anpassen und übertragen, das muss doch wohl erlaubt sein, oder was meinen Sie? Also, anno dazumal hatte der Lehrer immer eine Dienstwohnung im Schulgebäude. Das habe ich Ihnen ja schon erzählt, dass Fräulein Pulver schneller Frau Pütz war, als der alte Lehrer Stock ins Bergische Land umgezogen ist.

Ins Bergische Land, ganz gewiss!

Nun möchte heute bestimmt niemand mehr in der Aufstockung über dem Physikkabinett schlafen. Aber warum in drei Teufels Namen stellt das Land den Lehrern nicht bezahlbare, schöne Wohnungen zur Verfügung? Es muss ja nun nicht ein ganzer Wohnblock mit Kantern sein. Berlin hat doch überall Wohnungsbestand. Da stehen bestimmt wieder irgendwelche unsinnigen Vorschriften dagegen, die irgendwann mal irgendwer in irgendein Gesetz gezimmert hat, und jetzt traut man sich nicht mehr, das zu ändern, weil man gar nicht weiß, was man damit alles auslöst. Die ganzen Gesetze werden nämlich nie neu geschrieben, sondern immer nur geändert, mit Querverweisen und Einschüben. Manchmal werden sie so oft geändert, dass man gar nicht mehr weiß, welche anderen Regelungen sich alle darauf beziehen. Da müssen Heerscharen von Beamten ewig prüfen, ob man auch nur ein Komma im Text ändern darf, sonst kommt unter Umständen als Nebeneffekt dabei raus, dass wir keine Marmelade mehr aus Tschechien importieren dürfen, wenn man das mit den Lehrerwohnungen regelt, oder so was. Am besten haben wir es doch damals in der Conora-Zeit gesehen. Da haben sie ein nächtliches Ausschankverbot ab 22 Uhr erlassen, was darauf zielte, dass die Leute nicht besoffen umherzotteln, aber die Konsequenz war, dass der Zeitungskiosk den Schichtarbeitern auf dem Weg zur Arbeit keinen Kaffee verkaufen durfte, weil das nämlich bis sechs am Morgen galt. »Zur Hilf!«, möchte man da nur rufen.

Ich weiß gar nicht, wie das passieren konnte, dass ich so weit vom Thema abgekommen bin, ich wollte doch aus dem Lehrerzimmer erzählen! Meine Güte, ich werde wohl doch alt und wunderlich.

Es gab eine goldene Regel: Niemand, der nicht zum Lehrkörper gehörte, durfte den Raum betreten. Keine Schüler, keine Eltern – niemand. Das Lehrerzimmer war ein Rückzugsort für uns Pädagogen. In der Mitte des Raumes gab es einen großen Konferenztisch, an dem die Referendare und so angelerntes Aushilfspersonal wie ich saßen. Überall im Raum verteilt standen einzelne Tische, die die richtigen Lehrer zum Korrigieren der Klassenarbeiten oder für sonstigen Schreibkram nutzten. Ganz hinten in der Ecke stand der Schreibtisch von Studienrat Grobke. Er war regelrecht zugewuchert von steinalten Topfpflanzen. Eine war ein Gummibaum, so ein richtig klassischer mit großen Blättern, kein Ficus. Das andere ein Monsterer. Die Töpfe waren ganz fürchterlich verkalkt, und auf den ersten Blick konnte man auch nicht feststellen, ob noch Erde drin war oder ob nicht längst alles nur noch aus Zigarrenasche und abgefallenen, verdorrten Blättern bestand. Der Grobke saß da immer, egal, wann ich das Lehrerzimmer betrat. IMMER! Der gab nie Unterricht. Sein Alter war schwer zu schätzen, er sah nicht viel jünger aus als ich, und ein bisschen spaßig könnte man vermuten, er sei irgendwann pensioniert worden und habe einfach vergessen, nach Hause zu gehen. Er rauchte Kunstzigarette. Dass das Rauchen seit Jahren schon verboten ist, interessierte ihn nicht, er sagte immer, er raucht nicht, er dampft nur. Niemand traute sich, was gegen ihn und seine stinkende Pafferei zu sagen. Frau von Kießling, eine grundsolide Erscheinung, die Deutsch auf dem Gymnasium gab und immer Faltenröcke trug, kannte ihn schon seit langen Jahren. Frau von Kießling war eine Frau mit Klasse, aber … im Grunde genommen gilt das ja für jede Lehrerin.

Da lasse ich Ihnen jetzt mal einen kleinen Moment Zeit, das noch mal zu lesen, damit es … jetzt.

Haben Se es?

Hihi!

Die Kießling erzählte mal, dass er bis vor gar nicht langer Zeit sogar Pfeife geraucht hat, trotz Verbot! Er ist dann aber wohl von seiner Frau, die als Einzige einen Zugang zu ihm hat und mit Scheidung drohte, auf elektrische Zigarre umgestellt worden. Die Rauchmelder im Lehrerzimmer hatte er persönlich alle abgeklebt, und da niemand, der nicht zum lehrenden Personal gehörte, den Raum betreten durfte, kam er damit durch. Er war so gefürchtet, dass kein Kollege was gegen ihn sagte. Die neuen, jungen Praktikantinnen – Referendarinnen, sagt man wohl heute – bellte er immer nur kurz an und machte ihnen klar, dass sie nicht würdig waren, mit ihm zu sprechen. Er ignorierte sie einfach und guckte böse, und fortan hatten selbst starke, emanzipierte junge Frauen wie Frau Westermann Angst vor ihm wie vor einem bissigen Hund.

Er saß da immer in seiner Ecke hinter dem Gummibaum, dem Monsterer und mehreren Stapeln von Lexikons … jaja, ich weiß. Es heißt Lexika. Entschuldigen Se bitte, ich muss mich besser konzentrieren und darf solche Fehler nicht machen, wo ich doch jetzt zum Lehrkörper gehöre und Vorbild bin!

Das Lehrerzimmer hatte ein Handwaschbecken mit einem Wasserboiler drunter. In diesem Waschnapf erfolgte auch die »Reinigung« der Kaffeetassen. Jeder hatte seine eigene Tasse, und auch ich brachte mir gleich nach ein paar Tagen eine Sammeltasse von zu Hause mit. Ich wählte eine, die ich in London bei der Krönung von Königin Camilla und König Charles gekauft hatte. Ein bisschen wollte ich schließlich auch angeben, das konnte ich mir schon erlauben! Wissen Se, Kaffee schmeckt einfach besser aus gutem Porzellan. Die meisten schlürfen ihren Kaffee ja aus irdenen Bechern. »Kumpelbetrüger« nennt Stefan das, weil da so viel reingeht. Viele hatten solche Pötte, die offenbar selbst gestaltet waren und die ausgebleichten Gesichter der Kinder oder Enkel zeigten. »Die Welt ist ein Irrenhaus, aber hier ist die Zentrale« hatten wir zweimal, dabei gehörte die Tasse mit der grünen Schrift dem Physiklehrer und die mit den blassroten Buchstaben der Mathelehrerin vom Gymnasium.

Sie hatten hier auch so eine große, teure, dampfende Maschine, die ich nicht anfasste. An so was gehe ich nicht dran, grundsätzlich nicht. Ilse hat so einen Apparat auch mal von der Tochter zu Weihnachten geschenkt bekommen, hören Se mir auf! Sie hat es sich ganz genau erklären lassen, aber trotzdem kam beim Reinemachen auf einmal Expresso raus. Ohne Ende! Es ließ sich nicht mehr stoppen. Am Anfang hat Kurt noch weggetrunken, was Ilse auffing. So was ist ja teuer, das kann man nicht umkommen lassen. Nach der 15. Tasse wurde Kurt jedoch so flatterig, dass Ilse nichts weiter in ihn reingoss. Sie hat den Kaffee dann abkühlen lassen, eingefroren und bei der nächsten Gelegenheit für die Mokkatorte verwendet, und Kurt hat nach vier Tagen auch wieder durchgeschlafen. Ja, wir sind eben noch aus der Generation, die nichts wegschmeißen kann! Jedenfalls fasse ich solche Kaffeebrauapparate nicht an. Bei mir gibt es handgefilterten Kaffee, der wird mit ganz viel Liebe und Ruhe gemacht. Ich darf ja sowieso nicht so viel Kaffee, ich mache mir morgens eine Tasse und trinke am Nachmittag Tee, nur manchmal, bei einer Feier, eine weitere Tasse Kaffee. Es ist ja auch ein Genussmittel, und so sollte man es auch dosieren und wirklich genießen, nicht hektisch in sich reinkippen. Wenn ich diesen Togo-Kaffee für unterwegs zum Mitnehmen schon sehe, kann ich nur den Kopf schütteln. Erst mal plempern sie sich damit beim gehetzten Rennen nach dem Bus die Bluse voll, dann verbrühen sie sich den Mund, und dann vergessen sie zu trinken, weil sie schon wieder am Händi daddeln, und dann ist der Kaffee für sechs Euro kalt, und sie schmeißen den Pappbecher weg. Was das auch für Müllberge produziert! Jetzt haben se ein neues Gesetz gemacht, dass die Cafés auch wiederverwendbareres Geschirr für »zum Mitnehmen« anbieten müssen. Das ist im Grunde gut gemeint, aber wenn Se mich fragen, auch schon wieder zu kurz gedacht. Man sollte mal einen Meter zurücktreten und auf die ganze Angelegenheit gucken, dann würde man erkennen, dass wir mehr Zeit brauchen, um uns hinzusetzen und in Ruhe einen Kaffee aus einer schönen Tasse zu trinken und kein Gesetz, das regelt, wie die gebrauchten Becher zurückgenommen werden müssen. Deshalb dachte ich mir: Sollen die ruhig lachen und mich für eine alte Tante halten (das taten die sowieso!), ich brachte mir von zu Hause meine Krönungstasse mit. Das war ein Zeichen, das ich setzen wollte. Aber es merkte gar keiner, denn alle rannten nur genervt, gehetzt und auf der Flucht vor den Schülern von einer Unterrichtsstunde zur nächsten. Hier im Lehrerzimmer versteckten sie sich hinter den verdorrten Gummibäumen vor den Kindern, vor den Eltern und vor der Realität.

Es gab aber nicht nur die Dampfmaschine, die Espresso und Mackenlatte machte, sondern auch eine normale Kaffeemaschine, wie unsereins sie kennt. Mit Filter, Glaskanne und fertig. Wenn man schon nicht mit der Hand filtern kann, bevorzuge ich so ein Gerät. Die Maschine wurde von den jüngeren Kollegen abfällig als Relikt einer vergangenen Zeit beäugt, aber ich sage Ihnen: Die funktionierte wenigstens, und im Gegensatz zum fauchenden Apparat wurde die auch regelmäßig sauber gemacht. Man musste nur die Kanne abwaschen und den Filterbehälter. Das war eine meiner leichtesten Übungen. Gleich in der ersten Woche habe ich sie sogar mit Essigessenz entkalkt, na, da haben die aber Augen gemacht! Den Schmadder hätten Se mal sehen sollen, der da rauskam. Conora ist nicht die einzige Gesundheitsgefahr, vor der man sich mit Masken schützen sollte! Die Kaffeemaschine war Ende der 1970er-Jahre mal der Hauptgewinn bei der Kaninchenausstellung, auf der der damalige Biologielehrer mit seinen Riesenrammlern abgeräumt hatte. Der Mann war Junggeselle und brühte seinen Kaffee mit Tauchsieder türkisch, deshalb spendete er die Kaffeemaschine dem Kollegium, womit er sich ein Denkmal setzte. Ja, überlegen Se mal, manche Leute kriegen richtige Statuen gewidmet, und nach ein paar Jahren kleckern die Tauben drauf, und niemand weiß mehr, wer das eigentlich war. Aber wer Herr Fellert war, das weiß bis heute jeder Lehrer! Seine Kaffeemaschine tut ihren Dienst und schnurrt wie ein Bienchen. Na, das war damals auch noch Qualität und wurde nicht mit dem Dampfer aus Asien hergeschifft, mit einer eingebauten Kaputtgehgarantie nach ein paar Monaten.


Jetzt habe ich mich ganz schön aufgeregt über die Zustände an der Schule. Man muss sich auch mal Luft machen! Denken Se aber nicht, dass ich schlechte Stimmung hatte. So unverständlich das ganze Drumherum des Bildungsbetriebs auch war, die Arbeit mit den Kindern machte mir große Freude. Und was hatten wir für nette Erlebnisse! Meist war ich in der 2a, wo Frau Westermann Klassenlehrerin war, aber ab und an half ich auch in der dritten oder vierten Klasse aus. Normalerweise geht ja Grundschule nur bis Klasse vier, aber Sie ahnen es bestimmt schon: Auch das ist in Berlin etwas anders. Bei uns geht die Grundschule bis Klasse sechs. Manche Mädchen dort waren schon größer als ich! Die Jungen nicht, die haben ihren Schub ja ein bisschen später als die Mädchen. Aber wenn die Schülerinnen größer sind als die Oma, die im Unterricht Hilfe gibt, ist das schon komisch. Ich kam mit den Jüngeren besser zurecht.

Anfangs hatte ich ein bisschen Bedenken, ob die kleinen Geister mich auch gut verstehen. Wissen Se, beim Schreiben fällt das nicht so auf, aber ich »berlinere« ein bisschen. Meine Stimme ist auch nicht ausgebildet und geschult. Deshalb fragte ich: »Könnt ihr mich in der letzten Reihe auch verstehen?« Ich war dann sprachlos über die freche Antwort, die vom kleinen Anton-Digga kam: »Ja! Aber Sie stören nicht.« Na, den habe ich gleich an die Karte vorgeholt und mir die Nebenflüsse der Donau zeigen lassen. Mit Verlauf, von der Quelle zur Mündung. Der kam mir nie wieder frech!

Lehrer sind es gewohnt, laut und deutlich zu sprechen, damit sie sich über das Gekicher und Gebrabbel der Kinderschar hinweg Gehör verschaffen. Selbst Gunter Herbst hätte hier ohne seine Hörgeräte alles verstehen können. Aber nur weil einer was gehört hat, hat er es nicht immer auch verstanden. Da waren die Schüler manchmal genau wie Gunter. Gunter hört schwer, aber nach dem dritten »Hä?« tut er oft so, als hätte er es nun mitgekriegt. Genauso ist es mit Schülern auch. Zweimal lassen sie es sich erklären, und dann tun sie so, als wäre nun alles klar. Aber es gibt da diesen besonderen Gesichtsausdruck, der einem sagt: Nee. Die haben gar nichts kapiert. Die wollen nur ihre Ruhe haben.

Eins merkte ich sehr schnell: Schüler gehen gern den Weg des geringsten Widerstandes, da sind sie auch nicht anders als Erwachsene. Daran hatte sich seit meiner Schulzeit nichts geändert. Die meist gemochten Lehrer sind die, die nie Hausaufgaben aufgeben und die es nicht stört, wenn die Schüler voneinander abschreiben. Der Lehrer, der nie seinen Unterricht vorbereitete, der nie Hausaufgaben gab und den es einen feuchten Kehricht kümmerte, ob die Kinder Spickzettel haben, war der beliebteste Kollege an der ganzen Schule. So sind Kinder nun mal. Dass sie es später im Leben leichter haben, wenn sie brav folgen und lernen, diese Erkenntnis reift erst später. Das dauerte bei mir auch, wobei ich bis heute – und ich bin 82 Jahre alt! – auf den Tag warte, wo ich mal die Stoffmenge oder die Teilchenanzahl von Sauerstoff ausrechnen muss. Bisher hat es immer gelangt, die Luft zu atmen, die da ist. Wobei Kirsten mir da auch gern Schulungen zum richtigen Ein- und Ausatmen gibt und möchte, dass ich mit den Lippen blubbere.


»Im ganzen Satz!«, sagte ich sehr oft, um die Kinder zu ermuntern, mal die Zähne auseinanderzukriegen und mehr als nur ein Wort als Antwort zu murmeln. Bis mir der neunmalkluge Ole-Noel entgegnete: »›Im ganzen Satz‹ ist aber auch kein ganzer Satz, Frau Bergmann!« Die sind ja teilweise schon so weit, die Kinder, da muss man staunen. So ein kecker Lümmel! Aber er hatte recht, und deshalb sagte ich nun auch immer: »Ole, formuliere das doch bitte im ganzen Satz.« Man muss ja Vorbild sein!

Ja, ich lernte auch dazu. Jeden Tag. Schüler geben zum Beispiel niemals zu, wenn sie nicht aufgepasst haben. Keine Ahnung, ob die Pädagogen das auch bei ihrer Studiererei lernen, aber in der Praxis bekam ich das sehr schnell mit. Man kann die Kinder fragen, ob sie sich alles gemerkt haben, und bekommt im Chor ein lautes »Ja«. Keine Minute später fragt ein Kind den Banknachbarn: »Was sollen wir machen?«, und die Antwort ist: »Weiß ich doch nicht!« Und das ist in allen Reihen das Gleiche, und es ist auch wurscht, ob die Tische zu Lerninseln, nach Scheng-Pfui oder in Linie ausgerichtet sind.

Und frech sind se! Als die beiden Geranien-Lauras mal wieder am Schwätzen waren, ging ich dazwischen und fragte, wann der Kalte Krieg war. Was meinen Se, was ich als Antwort bekam? – »Na, im Winter!« Wirklich dreist! Wenn man was nicht weiß, dann sagt man das gefälligst und gibt nicht noch unverschämte Antworten. Und sie wissen oft nicht mal die einfachsten Sachen. Dass eine Rosine kein eigenes Obst ist, sondern eine getrocknete Weintraube, wusste kein einziger Schüler der Klasse, überlegen Se sich das mal! Als ich in der Woche drauf nachprüfte, wer es sich gemerkt hatte, antwortete der Pascal: »Eine Rosine ist eine Omaweintraube.« Da musste ich doch ein bisschen schmunzeln. Es schien, als wäre immerhin ein bisschen was hängen geblieben. Nicht ganz richtig, aber man muss sich auch über kleine Erfolge freuen. Der Pascal ist übrigens ein recht Pfiffiger, als ich den fragte, was er mal werden will, sagte er keck: »Megapascal!«

Das war übrigens eine Ausnahme, dass ich mich bei einem Kind erkundigt habe, was es mal werden will. Das sollte man nicht ständig machen. Meist werden sie, noch bevor sie eingeschult sind, auf dem Kopf getätschelt und gefragt, was sie denn mal werden wollen, wenn sie groß sind. Die Antwort darauf ist meist ein kleiner Traum, und man darf das Kind auf keinen Fall belehren und versuchen, ihm das auszureden. Damit überfordert man die Kinder, finde ich. Was wirklich mal aus ihm werden soll, weiß im Grunde kein Kind, erst recht heutzutage, bei den vielen Möglichkeiten und wo alles so schnelllebig ist. Wer weiß denn, welche Berufe es in zehn Jahren noch gibt? Wissen Se, zu meiner Zeit wollten die Jungen Lokomotivführer oder Polizist werden und die Mädchen Friseuse, Lehrerin oder Mutter. Heute träumen sie davon, Superstar, Influenza bei Finstergram oder Fitnesstrainer zu werden. Na, sollen se! Flausen im Kopp müssen erlaubt sein.

Bei manchen Tätigkeiten muss man sich auch erst mal übersetzen lassen, was das eigentlich bedeuten soll. Hauptsache hochtrabend und schön klingend, das ist es, was zählt. Ein »Systemgastronom« wird gesucht, stand in der Annonce, und ich grübelte, was die da wohl wieder meinen. Frau Westermann erklärte mir, das wäre eine nette Umschreibung dafür, dass man Leute anheuert, die Pommies frittieren. Na, da weiß man dann schon Bescheid.

Aber spätestens, als die »Happiness-Managerin« im Schulflur vor mir stand, verstand ich, dass heute jeder seinen eigenen Beruf erfinden kann. Wissen Se, ich habe viel gesehen und erlebt und halte mich für einen bodenständigen Menschen mit gesundem Menschenverstand. Ich glaube, dass mir so schnell keiner ein X für ein U vormacht. Als ich die Dame über den Schulflur stöckeln sah, kam sie mir gleich komisch vor. Durch den Umgang mit meiner Tochter Kirsten bin ich daran gewöhnt, auf der Hut zu sein, und habe eine Antenne für merkwürdige Menschen. Die Frau war furchtbar fröhlich und so aufgesetzt freundlich. Kennen Se solche Leute? Die so reden, als hätten sie zwei Tassen Mokka zu viel gehabt? Ich bin immer dafür, dass man den Mitmenschen lächelnd und offen gegenübertritt, aber wenn es gespielt ist, fühle ich mich veralbert. So eine war das. Sie stellte sich vor als Wanda Wallorius, »Häppiness-Managerin«, und ich biss mir gleich auf die Lippen, damit nicht wieder eine Bemerkung rausrutscht, die Ärger macht. Die Familie soundso hätte sie angeheuert, erklärte sie, und sie war damit beauftragt, die richtige Schule für das im nächsten Jahr einzuschulende Kind zu finden. Sie verstand ihre Aufgabe so, dass sie den Familien ärgerliche und unangenehme Arbeiten abnimmt und so für mehr Lebensqualität und Glück bei den Auftraggebern sorgt. Sie geht für die das Auto ummelden, sortiert die Quittungen für die Steuererklärung, findet einen Hortplatz für die Kinder, geht mit dem Ehemann einen Anzug kaufen oder schreibt die Weihnachtskarten. Mir blieb der Mund offen stehen. Nicht, weil die Dame mit so einem Quatsch ihr Geld verdiente – das empfand ich als gewitzt und pfiffig. Ein bisschen überdreht, aber pfiffig. Sie nutzte es aus, dass die Leute zu faul oder zu dämlich sind, ihr Leben zu organisieren. Darin kann ich nichts Schlechtes sehen. Ich finde es nur erstaunlich, dass es Menschen gibt, die für solche Aufgaben eine »Häppiness-Managerin« anheuern müssen!

Na, auf jeden Fall weiß ich spätestens jetzt, dass jeder seinen eigenen Beruf erfinden kann. Kirstens Kollegin ist Traumatherapeutin für Kätzchen, der Enkel von Hoffmanns in der Senkestraße arbeitet als Golfballtaucher und die Walle-Wanda hier war eben Häppiness-Managerin!

Man darf Kindern ihre Träume nicht zu früh nehmen. Was wir als »Flausen im Kopf« ansehen, macht die Kleinen glücklich. Die merken später von ganz alleine, wenn der Traum eine Schnapsidee war. Unser Stefan zum Beispiel wollte lange Zeit Zirkusartist werden. Der hat früher immer mit offenem Mund »Stars in der Manege« oder »Zirkusfestival von Monte Carlo« angeguckt und gestaunt. Leider kam er im Sportunterricht nicht mal das Kletterseil hoch, geschweige denn, dass er einen Aufschwung am Reck schaffte. Er war schlapp wie ein nasser Sack, wollte aber Zirkusartist werden. Wir ließen ihn träumen. Na, und dann kam irgendwann der Kram mit dem Computer auf, und er fand raus, dass er sich dabei nicht durch Barrenholme schwingen muss. Dieser Vorteil überzeugte ihn. Unser Stefan gehört ja noch zu der Generation, der man ein Strahlen auf das Gesicht zaubern konnte, indem man in der sechsten Stunde sagte: »Wir gehen jetzt in den Computerraum.« Heute können Se damit niemanden mehr beeindrucken, denn alles, was da im Computerkabinett gelehrt werden könnte, machen die mit ein paarmal Wischen auf ihren Händies. »Zuse-Museum« wird der Raum abfällig genannt.

Stefan sitzt nun von morgens bis abends vor seinen brummenden Kisten, klopft in die Tasten und macht Apdät. Rund um die Uhr macht der Apdät, ich glaube, die Firma, für die er arbeitet, macht immer und ständig Abdät. Aber die Zeit, in der er davon träumte, Zirkusartist zu werden und durch die Manege zu fliegen, die war schön, und an die erinnert er sich gern. Auch wenn er es gar nicht mag, wenn ich die Fotos zeige von ihm im Artistenkostüm beim Kinderfasching. Das würde heute nicht mehr passen, wissen Se, durch das viele Sitzen hat er ein bisschen zugelegt. Am Stefan war früher nie was dran. Der konnte essen, was er wollte, an dem blieb nichts hängen. Aber wissen Se, jahrelang geht alles gut, und irgendwann denken sich die Kalorien dann auch mal »Halt, Stopp! Warum rasseln wir eigentlich immer so schnell durch den Magen durch? Lasst uns hier mal hinsetzen, Freunde! Hier an den Hüften, das sieht doch gemütlich aus, oder hier, am Bauch!« Und so hat der Junge nun vom vielen Pizza, vom Rumsitzen hinter seinem Computer und seinen Gummibärchen auch eine kleine Wampe gekriegt. »Es ist ein Naschbrettbauch«, sagt er und streichelt stolz drüber. Ariane findet das aber gar nicht lustig und teilt ihm die Gummibärchen ein. Sie hat ihn sogar in einem Sportstudio angemeldet, aber da ist es mit ihm nicht viel anders als mit Frau Berber. Er ist weniger ein Mitglied, das turnt, sondern eher eine Art Sponsor.

Was ich damit sagen will: Kinder können doch noch gar nicht wissen, was sie mal werden wollen. Das ist alles Geplapper, das sie aufschnappen, bei den Eltern, beim Spiel mit Freunden, im Fernsehen oder im Interweb. Genauso wenig wissen aber die Eltern, was das Richtige für die Kleinen ist. Die glauben oft, sie haben da eine Kopie ihrer selbst gezeugt, ergänzt um die besten Eigenschaften des Partners. Das ist aber mitnichten so! Oft spielen die Gene Lotto, und der Apfel fällt weiter vom Stamm, als man wahrhaben möchte. Wer könnte darüber besser berichten als ich. Meine Tochter ist Tiertherapeutin und deutet Horoskope für Wellensittiche.

Und auch Lehrer wissen nicht immer, was das Richtige für ein Kind ist, auch wenn sie oftmals so tun. Lehrer haben natürlich eine gewisse Erfahrung gesammelt. Sie sehen regelmäßig bockige Pubertierende und hysterische Eltern. Die Klugen unter ihnen begreifen jedoch, dass sie nicht allwissend sind, sondern nur Wegweiser setzen können. Die bilden sich nicht ein, dass sie aufbrausende Eltern bändigen oder bockige Kinder züchtigen können. Die bieten Lehre an, aber lernen muss jeder selbst. Sie können immer nur predigen und wiederholen, dass Wissen Macht ist, dass man nicht für die Schule, für die Eltern oder gar für die Lehrer lernt, sondern fürs Leben. Meist reift die Einsicht bei Kindern jedoch erst gegen Ende der Schulzeit. Zuzugeben, dass ein Erwachsener recht hat, ist gar nicht so einfach!

Ja, aber wer was werden will – egal was –, muss erst was lernen. Das fällt manchen Kindern leichter und anderen schwerer. Der Mega-Pascal war wirklich klug und beherrschte den Lernstoff aus dem Effeff. Der Kleine musste dafür nicht mal pauken, ihm fiel das einfach zu. Beneidenswert. Das Einzige, was mir zufiel, waren die Augen abends auf der Couch. Wissen Se, im Alter ist man die regelmäßige konzentrierte Arbeit ja doch nicht mehr so gewohnt. Ich mache hier und da mal ein Kreuzworträtsel und rede mir ein, dass die kleinen grauen Zellen davon frisch und in Form bleiben, aber das ist ja mit der Arbeit mit Kindern gar nicht zu vergleichen! Das stellte mich täglich vor Herausforderungen. Die Nebenflüsse des Rheins weiß ich, da muss ich nicht nachschlagen, aber wenn die Jewgenja meint, sie muss jetzt ihre Barbie umziehen, statt sich am Diktat zu beteiligen, na, da muss man überlegen, was man macht und sagt! Zum Glück war ich aber nie allein mit den Kindern, sondern die knapp bekleidete Frau Westermann übernahm in solchen Situationen. Die hatte schließlich studiert und hatte ihre Tricks drauf, das muss man sagen. Sie sagte mal zu mir, dass sie es ablehne, die Kinder anzuschreien. Dadurch werden alle nur aggressiv. »Ich beuge mich vor und flüstere mit groß aufgerissenen Augen, das ist viel gruseliger, und die machen sich vor Angst bald in die Hosen, Frau Bergmann.«

Na, ich weiß nicht. Die trug ihre Blusen nicht nur bauchfrei, sondern auch schulterfrei. Im Grunde genommen hatte sie an warmen Tagen nur einen etwas breiteren Gürtel über der Brust. Wenn sich jemand so angezogen zu den Jungen vorbeugt, dann gucken die bestimmt als Letztes in die Augen, jedenfalls die Älteren! Ich nahm trotzdem den einen oder anderen Tipp von Frau Westermann an. Schimpfen allein nützt ja nicht immer. Wenn ein Kind so ein Rabauke ist, dass es immer wieder den Clown spielt, im Unterricht stört und nicht aufmerkt, habe ich mir das geschnappt, es an die Hand genommen und bin mit ihm auf den Flur gegangen. Dort habe ich es ernst angeguckt und leise gefragt: »Was ist denn los, mein Junge? Erzähl!« Na, bei manchen erreichen Se da nichts, die bocken, grinsen frech und sagen: »Gar nichts!« Aber ein paarmal kullerten dann auch die Tränchen, und es kam eine traurige Geschichte bröckchenweise aus dem Kind raus. Da weiß man dann aber, worüber man reden muss. Niemand ist doch einfach frech oder böse, einige überspielen damit ihre Probleme. Es ist von Kind zu Kind anders, aber jedes Mädchen und jeder Junge ist es wert, das herauszufinden. Dafür brauchen die Lehrerinnen und Lehrer aber Zeit, und wenn sie vor einer Klasse mit vierundzwanzig Kindern stehen, von denen einige kaum Deutsch verstehen und einige Inklusion haben, na, dann ist Zeit für das einzelne Kind Mangelware. Da kann man doch der Lehrerin, die vorne rumturnt, nicht vorwerfen, dass die Malve-Sophie Verstopfung hat, weil sie im Unterricht ihren Radiergummi aufgegessen hat! Ist alles so passiert, ich erfinde das nicht. Frau Westermann hatte die tobende Malve-Sophie-Mama ein paar Tage später auf dem Schulhof stehen. Sie wäre schuld, dass die Kleine nicht auf die Schüssel konnte, sie würde zum Rechtsanwalt gehen und sie wegen Verletzung der Aufsichtspflicht verklagen und lauter so dummes Zeug schrie sie. Frau Westermann ist da ja abgehärtet und ließ sie toben, da kam auch nichts nach. Bestimmt hat spätestens der Rechtsanwalt sie eingenordet. Ich erzähle das auch nur, damit Se sehen, was für eine Taubenschlagsveranstaltung so eine Unterrichtsstunde ist und dass es eben nicht damit getan ist, den Kindern vorn was an die Tafel oder das Weitbord zu schreiben. Es braucht einfach mehr Personal, das sich kümmert.

Weil dieses Personal aber nach wie vor fehlte, fielen die Diktate dann meist auch entsprechend aus. Von einer einzigen Loffel-Oma durfte man nun auch keine Wunderdinge erwarten, obwohl ich mein Bestes gab. »Nicht, dass noch einer sitzenbleibt!«, mahnte ich oft. Das war mein großes Ziel für das Schuljahr. Aber du liebe Güte, als ich die Diktate vor mir sah, musste ich die Brille putzen und mir den Text raussuchen, den Frau Westermann angesagt hatte, damit ich überhaupt wusste, was es heißen sollte. Dass man in einem Wort so viele Rechtschreibfehler machen kann, war eine neue Erfahrung für mich. Die kleinen Racker konnten später mal zum Militär gehen und geheime Botschaften versenden, wissen Se, die Nachrichten wären durch die Rechtschreibfehler genug verschlüsselt. Da hatten wir aber noch einen weiten Weg vor uns!

Nachdem Frau Westermann die Arbeiten ausgeteilt hatte, war kurz Gemurmel, weil die Kinder natürlich einander erzählen wollten, was für Noten sie bekommen haben. Sie selbst durfte es nicht sagen, wegen Datenschutz. Aber wenn die Kinder es selbst erzählen, muss man sie ja auch nicht daran hindern. Da meldete sich der Jasper: »Frau Westermann, warum habe ich für meine Schrift eine Sechs?« – »Weil es keine Sieben gibt, du Schmierfink!«, parierte sie recht hart, aber zu Recht. Der Bengel hatte wirklich eine Sauklaue! Pfiffig und gewitzt, aber eine Schrift … der würde bestimmt mal Doktor werden. Oder Rechtsanwalt. Rechtsanwälte müssen ja gar nicht schreiben, nicht mal Rezepte. Die müssen nur diktieren oder alles auf Band sprechen.


»Kann ich nicht« ließ ich nie als Ausrede gelten. Wenn man sich ein bisschen Mühe gibt, sich konzentriert und kurz nachdenkt, findet man immer eine Lösung. »Der Kannichnicht wohnt in der Willichnichtstraße«, sagte ich, da kicherten die Kinder, und dann traute sich doch die eine oder der andere vor.

Was ich auch lernte: Als Lehrkraft hat man plötzlich ganz andere Probleme als normale Menschen. Dass einen in der Schlange beim Bäcker auf einmal wildfremde Menschen komisch angucken wie einen Promi, ihre Kinder an die Hand nehmen und ermahnen, brav zu sein, das passierte mir sonst nicht. Als Lehrerin, und sei es nur als angelernte, ist man im Kiez bekannt wie ein bunter Hund.

Diese Bankschieberei war meine Sache nicht. Kaum hatte ich mir mal einen Namen dieser kleinen Primeln gemerkt, zerrten die wieder an den Tischen, und alle saßen woanders. Und quasseln tun die kleinen Teufelchen, nee! Keine Disziplin! Da bin ich gleich dazwischengegangen, wenn ich das mitgekriegt habe. Einmal habe ich die kleine Hupe drangenommen: »Was ist vier mal drei plus zwei?« – Stille. Schweigen. Ich wollte gerade den Hinweis geben, dass sie an Punktrechnung vor Strichrechnung denken soll, da guckt mich die kecke kleine Biene an und sagt: »Das ist eine Matheaufgabe, Frau Bergmann.« Das war sachlich richtig, aber trotzdem frech! Bei der Säwännah Hupe hatte ich den Eindruck, die konnte ich umsetzen, so oft ich wollte: Die redete mit jedem gern. Die schlug eben nach ihrer Mutter, die braucht auch von der Arbeit nach Hause eine gute Stunde, obwohl es nur ein Weg von zehn Minuten ist, weil sie unterwegs eine ganze Handvoll Leute trifft und mit jedem was zu bekaspern hat. Wir mochten uns aber trotzdem gern, auch wenn ich manchmal schimpfen musste. Ich war noch nicht mal drinnen im Klassenraum, da hatte ich sie schon am Rockzipfel. »Kriegen wir heute Mathe wieder?«, fragte sie mich. Ich guckte streng über die Brille und bat das Kind, die Frage korrekt zu formulieren, was sie auch tat: »Frau Bergmann, wissen Sie, ob Frau Schlode unsere Klassenarbeiten schon korrigiert hat?« Na bitte, geht doch! Ich wusste es nicht so genau, aber da Frau Schlode gestern wieder ihre Bläserfrauen beisammenhatte, konnte ich mir denken, dass sie noch nicht dazu gekommen war. »Weißt du, mein Mädchen, die Frau Schlode hat viel zu tun. Sie hat ja auch noch andere Klassen.« Da guckt sie mich an und sagt: »Ja, Frau Bergmann, aber wir haben auch noch andere Fächer! Wenn ich nur Hausaufgaben für ein Fach mache, gilt das auch nicht als Ausrede!« Da mussten wir beide ein bisschen lachen und waren gespannt, ob es wohl »Mathe zurückgab«.

Damit war sie nicht allein, das passierte mir auch mal mit dem Krassalda-Louis. Der Bengel kam in der Pause mit seiner Hausaufgabe in Biologie zu mir. Da haben die Kinder ja einen Riecher, die wissen genau, wer gutmütig ist und ihnen hilft. Zur Frau Westermann mit ihren schulterfreien Blüschen kamen hauptsächlich die Jungs ab der achten Klasse. Bei mir fragte jedoch der Louis, ob ich ihm Bio erklären konnte. Ich fürchtete gleich eine peinliche Situation mit Bienchen und Vögeln und schickte ihn weg. »Damit kenne ich mich nicht gut aus, mein Junge, ich weiß auch nicht, wie Herr Heine euch das erklärt hat. Da lies bitte noch mal deine Mitschriften durch und schaue im Buch nach, oder frage einen Mitschüler um Rat. Hast du einen Lernhelfer oder einen Lernpaten?« Der Bengel war recht enttäuscht und sagte traurig: »Na toll, von uns Schülern wird erwartet, dass wir uns in jedem Fach auskennen, aber die Lehrer müssen nur in einem Fach Bescheid wissen!« Na, das war mir eine Rübe!

Nee, ich kam gut zurecht mit den Kindern und ließ mir nicht auf der Nase herumtanzen. Ich habe ihnen erklärt, dass ich einen Geduldsfaden habe und einen ganz langen Strich über die ganze Breite der aufgeklappten Tafel gemalt. Das hat gequietscht, ha! Sie ahnen gar nicht, was mir das für einen Spaß gemacht hat. Das wollte ich schon immer mal machen. Vor meinem inneren Auge sah ich Ilse, wie sie sich die Ohren zuhielt und das Gesicht verzog, weil es ihr durch Mark und Bein ging. Wenn geschwatzt wurde, mir jemand frech kam oder sonst wie den Unterricht störte, wischte ich immer ein kleines Stückchen vom Geduldsfaden weg. Ich sagte da gar nichts, sondern guckte nur streng. Ich drohte auch nicht, dass dies oder jenes passiert, wenn der Geduldsfaden aufgebraucht ist, das ahnten die kleinen Hummeln schon. Kürzer als bis zur Hälfte wurde er zum Glück nie. Sie rissen sich mächtig zusammen, wenn ich was wegwischte. Manchmal wischte ich auch gleich einen halben Meter weg, damit sie es begriffen. Was meinen Se, wie still das dann in der Klasse war!

Aber wir hatten auch viel Spaß miteinander. Wissen Se, manchmal gewöhnt man sich ja Eigenarten an und bemerkt es gar nicht. Ich muss wohl recht häufig mahnend »Nicht, dass noch einer sitzenbleibt!« gesagt haben, jedenfalls hatten wir einmal eine Situation, dass ich wieder jemanden zur Ordnung rufen musste – ich weiß gar nicht mehr, wen – und sagte: »Nicht, dass noch einer …« Noch bevor ich den Satz zu Ende gesprochen hatte, rief die ganze Klasse im Chor: »… SITZENBLEIBT!« Na, da haben wir alle geschmunzelt! Ich sagte anfangs auch immer: »Fragt ruhig, Kinder. Es gibt keine dummen Fragen!« Das habe ich mir aber nach der ersten Elternversammlung wieder abgewöhnt.

Am Freitag in der letzten Stunde lehrte Frau Westermann nichts Neues mehr, sondern prüfte, ob auch jeder alles richtig in das Hausaufgabenheft eingetragen hatte, und solche Dinge. Wir sprachen mit den Kindern über die vergangene Woche, ließen sie berichten, was sie gelernt hatten, was sie besonders gefreut hatte und wo es Probleme gab. Als die Uhr auf das Unterrichtsende zusteuerte, scherzte ich: »So, und nun Zehnpacken minus Neunpacken!«, und die kleine Amira strahlte: »Einpacken!«, rief sie freudig. »Ja, Kinder. Einpacken und ab ins Wochenende!« Amira fragte sicherheitshalber noch mal nach: »Wieder nur für zwei Tage, Frau Bergmann, oder diesmal länger?«

Einmal erlaubte ich mir auch einen Scherz, der den Kindern ein bisschen Angst machte. Nachdem die Frau Westermann die Klassenarbeiten eingesammelt hatte, fragte ich: »Seid ihr denn mit den Aufgaben auf der Rückseite auch gut zurechtgekommen?«

Na, die Gesichter hätten Se sehen sollen, hihi! Auf der Rückseite standen gar keine Aufgaben. Die haben einen tüchtigen Schreck gekriegt.


Von den Lehrern gab es hin und wieder skeptische Blicke, wenn sie mich weiß gekräuselte Oma sahen, aber mit den Kindern kam ich prima klar. Nur mit den Namen, wissen Se, mit den Namen habe ich, je älter ich werde, zunehmend Probleme.

Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der die Kinder Ilse, Gertrud und Kurt hießen, und wer es ganz modern wollte, nannte seine Tochter Renate. Hihi! Natürlich unterliegen Namen der Mode, und als ich meine Tochter unter dem Herzen trug, wollte ich auch keine Else und keine Meta mehr, sondern es sollte ein bisschen Pfiff haben: Kirsten. Kirsten hat doch was! Das ist zeitlos und zackig, das passt bis heute. Nee, also des Namens wegen ist Kirsten noch nie negativ aufgefallen.

Die Mädchen in ihrer Klasse hießen Elke, Sabine oder Monika, die Jungen Jürgen, Ralf oder Klaus. Das war alles kurz und einprägsam. Später kam dann das Zeitalter des Kevinismus, auch genannt »die Ära der besonderen Kinder«. Das ging nicht lange, und das Pendel schlug wieder in die andere Richtung. Deshalb hatten wir hier auch ein paar Kinder mit alten Namen wie Fritz, Alma oder Emma, aber das meiste war so ein gelallter Mischmasch mit La-le-lu.

Lisa, Lina, Laura, Levi, Luna, Luca Levilia oder Leni.

Zum Glück ist die Mode wieder vorbei, dass die Leute die Namen ihrer Kinder auf die Autoscheiben geklebt haben. Das war ja fürchterlich! Aber es wurde so viel darüber gelacht und gelästert, dass irgendwann auch der Letzte begriffen hat, dass das ein bisschen daneben ist. Es wäre meiner Meinung nach auch sinnvoller, wenn man den Namen des Fahrers auf die Heckscheibe schreibt. Dann weiß man wenigstens, wie der Raser heißt und kann ihn gleich ansprechen, wenn er rücksichtslos durch die Pfütze prescht und uns Fußgänger nass spritzt!

Ich gab mir wirklich die allergrößte Mühe, mir die Namen zu merken. Das ist ja auch ein Zeichen von Respekt, die Kinder richtig anzusprechen, deshalb strengte ich mich an, bei dem ganzen Lirum-Larum-Löffelstiel durchzublicken, aber es fiel mir sehr schwer. Daneben gab es noch eine Fraktion, der man gern noch was Blumiges an einen eigentlich hübschen Vornamen dranpappte: Verbenia, Petunia, Clivia oder so was. Dabei kamen dann Bobbie-Florence oder Pia-Roselia raus. Da darf mir wirklich niemand böse sein, aber ich kann mir schon nicht merken, ob es Stiefmütterchen oder Hornveilchen sind. Diese wilden Kombinationen konnte ich nun wirklich nicht alle behalten. Die Kinder selbst offenbar aber auch nicht, denn der Ton war rau auf dem Schulhof. Da fielen Worte, Sie machen sich kein Bild! Ich will das gar nicht alles wiedergeben, wissen Se, vieles ist nicht mein Sprachgebrauch. Manches kennt man ja auch gar nicht als älterer Mensch, und wenn, dann nur aus Schießfilmen im Fernsehen, die im Milieu spielen. Nee, also da verroht unsere schöne Sprache, und der Umgang miteinander leidet doch sehr. Ich weiß noch, dass Ewald Haugalgen in der Sexta mal »Die hat doch eine Meise unter dem Pony« über Gertrud gesagt hat. Das gab nicht nur einen Nachmittag Karzer, nee, da wurden auch Ewalds Eltern vorgeladen, und der Herr Pfarrer schaltete sich ein. Es war ein Skandal, von dem ganz Finkenau über Wochen sprach, und der Ewald hatte später sogar Probleme, eine Frau zu finden, weil ihm die Geschichte nachhing. Kein junges, gut erzogenes Mädchen im Ausgehalter, das was auf seinen Ruf gab, wollte mit Ewald in Verbindung treten. Aber es waren schwere Zeiten nach dem Krieg, wissen Se, da war manchen das Fressen näher als die Moral, wie der olle Brecht schon sagte. Ewald hatte die Schmiede als Erbschaft in Aussicht, und so erbarmte sich die Minna. Die hatte auch keinen guten Ruf, aber ein gebärfreudiges Becken. Gleich und Gleich gesellt sich eben gern.

Na ja. Aber was wollte ich? Ach ja. Mit »Die hat doch eine Meise unter dem Pony« können Se heute keinen mehr schockieren. Da zieht die Lehrerin nicht mal mehr die Brauen hoch. Die ist ganz andere Sachen gewohnt!

Die Schüler sprachen sich gegenseitig oft nur mit »Alda« oder »Digga« an. Auch die Mädchen, denn die sind schließlich gleichberechtigt und nennen sich nun ebenfalls ALDA und DIGGA. Das muss man erst mal verstehen, wissen Se, und das eine oder andere Mal rutschte mir auch Luca-Alda oder Leila-Digga raus, wenn ich nach den Kleinen rief. Das führte zu lautem Gelächter und allgemeiner Belustigung, was ich denen aber gleich austrieb, indem ich in der nächsten Stunde die Mittelgebirge auf der Karte suchen ließ.

Mit Zensuren!

Frau Westermann war für mich einfach Frau Westermann, und ich erschrak nach ein paar Wochen, als einer der Bengel sie »Frau Westermann-Duopfa« nannte. Ich dachte, die wäre nicht verheiratet und wohnt mit ihrem Freund so vor sich hin, und nun auf einmal ein Doppelname? Aber es klärte sich ganz schnell auf, als sie den Benno strammstehen ließ und sich solche Worte verbat.

Also wirklich!


Ganz schnell bekam ich mit, dass auch bei den Kindern schon »die Verkaufe«, wie man heute sagt, sehr wichtig ist. Genauso wie die Knödelmamas bereit sind, fünfzehn Euro für einen Salatteller zu bezahlen, wenn man ihn »Rainbow Weggie Sensäschn Bowl« nennt, genauso sind die Kinder ganz verrückt auf alles, wenn man nur »Harry Potter und« davorsetzt.

Ich probierte es aus mit »Harry Potter und das fantastische Einmaleins« und hatte einen tollen Erfolg – jedenfalls, bis es ans Rechnen ging. Ich besorgte einen Zauberhut und einen Zauberstab, ließ die Kinder in ihren Bankreihen aufstehen, und einer bekam den Hut auf und den Zauberstab in die Hand. Jeder durfte dem Nachbarn eine Aufgabe aus dem Einmaleins stellen, und wenn das Kind es richtig gerechnet hatte, wurden Hut und Zauberstab weitergereicht, und es ging weiter zum Banknachbarn. Wenn etwas Falsches gesagt wurde, musste das Kind sitzen bleiben, und der kleine Zauberer durfte den Hut noch aufbehalten und zum nächsten Kind gehen. Ach, was waren die Kleinen begeistert! Alle machten mit und waren sehr angetan. Auch Frau Westermann staunte, wie gut das Rechnen klappte und lobte mich für die Idee.

Zwei Tage später hatten wir dann Kopfläuse, und zwar bei sieben Kindern. Frau Westermann meinte, wir sagen erst mal nichts vom Harry-Potter-Hut und warten ab. »Wir verhalten uns still, Frau Bergmann, und tun erst mal so, als ob wir nichts wüssten. Das kann genauso beim Turnen auf der Matte passiert sein.«

Es kam auch nichts nach. Die Muttis empfahlen sich nur gegenseitig Läuseschampoos und Nissekämme im Wotzäpp, wo ich still mitlas, und Frau Schäfer-Schlurfke verlangte, dass ihre Tochter umgesetzt wird, weg vom Johann, der immer von seinem Vater im Wollpullover mit dem Lastenrad gebracht wurde und nicht geimpft war. Sonst passierte nichts. Ich ließ den Hut verschwinden, und fortan spielten wir Rechnen nur noch mit dem Zauberstab, ohne Kopfbedeckung.

Ja, auch eine Renate Bergmann lernt dazu!

Aber im Grunde war die Idee gut. Die Kinder freuten sich über alles, was mit »Harry Potter und« begann. Sie malten freudig kleine Zauberer ins Heft, als wir »Harry Potter und das Parallelogramm« durchnahmen. Ich freute mich schon auf »Harry Potter und der Satz des Pythagoras« in den höheren Klassen und erzählte den Kindern davon, was sie da erwartet. Die Kleinen waren hin und weg. Auch mit »Harry Potter und die Präpositionen, die den Genitiv verlangen« hatte ich recht guten Erfolg, als wir erst mal geklärt hatten, dass Präpositionen Verhältniswörter und der Genitiv der Wes-Fall sind. Nur bei »Harry Potter und die fabelhaften Abenteuer beim Gedichtaufsagen« gab es lange Gesichter. Deshalb legte ich gleich nach und bereitete für die nächste Deutschstunde Goethes »Zauberlehrling« vor. Das ist zwar eigentlich erst in der sechsten oder siebten Klasse dran, aber wer weiß, wie das alles weitergeht mit dem Lehrermangel. Bis unsere dritte Klasse eine siebte ist, ist vielleicht kein Lehrer mehr da, der Goethe auch nur kennt! Nee, was die Kinder wissen, wissen sie, das kann ihnen keiner mehr nehmen. Meine Oma Strelemann, die zwei Weltkriege überlebt und zweimal alles verloren hat, sagte immer: »Mädel, lerne, lerne, lerne. Was du im Kopf hast, kann dir keiner mehr wegnehmen.«

Opa Strelemann dagegen meinte: »Mädchen, lern nicht so viel, du kriegst sonst nie einen Mann.«

Wenn der wüsste! Viermal habe ich geheiratet!

Na, wie auch immer.

Ich sagte zur Frau Westermann, dass wir die Begeisterung und den Schwung um das Potter-Kind nutzen müssten, und sie meinte nur schmunzelnd, dass ich nur machen soll.

Also las ich mir das schöne Gedicht vom alten Goethe am Abend vorher noch mal durch und schlug auch im Brockhaus die Lebensdaten nach. Eigentlich wusste ich es noch, aber sicher ist sicher. Gertrud und ich verehren den Dichterfürsten sehr, wissen Se. Ostern promenieren wir immer im Park und repetieren den »Osterspaziergang« aus dem »Faust«, und wer am weitesten kommt, hat gewonnen. Die Verliererin muss dann den Eisbecher bezahlen. Das trainiert das Gehirn!

Ich nahm also am nächsten Tag im Unterricht ein Stück Kreide und schrieb an die Tafel:

»Johann Wolfgang von Goethe, 1749–1832«.

Ich war noch nicht mal ganz fertig, da meldete sich die kleine Hupe und sagte: »Frau Bergmann, da haben Sie die Null vergessen bei der Handynummer. Die fangen doch normalerweise mit 0174 an!«

Ja, wissen Se, da stehen Se dann da und wissen gar nicht, was Se sagen sollen. Ist das nun frech, oder ist das sehr dumm? Hat das kleine Fräulein die Ohren nur am Kopf, damit die Brille nicht abfällt, oder muss man nachsichtig sein? Ich glaube, das sind die Zeichen unserer Zeit. Die Kinder wachsen doch so auf, dass sie sich eher um die Telefonnummern als um die Lebensdaten von Goethe kümmern! Das kann man denen vielleicht nicht mal vorwerfen. Ich entschied mich, ihr Letzteres zugutezuhalten, und erläuterte:

»Der Dichter wurde im Jahr 1749 geboren. Das war vor wie vielen Jahren? Anastasia-Lorelei?«

Ich hätte lieber nicht fragen sollen. Gut, für die dritte Klasse war die Aufgabe recht anspruchsvoll.

Ich erzählte ihnen, dass wir nun ein Gedicht vom Opa von Harry Potter behandeln würden, nämlich den »Zauberlehrling«. Erst machten alle lange Gesichter, aber als ich ihnen zeigte, dass sich der Text mit »Walle, walle« recht oft wiederholt und dass sie ihn im Grunde genommen nur einmal lernen müssen, fanden sie das »cool«. Sie mussten es auch nicht lernen, sondern sollten nur schon mal davon gehört haben. Man weiß ja nie, was kommt!


Das Schulgebäude war ein riesiger Klotz und sah im Grunde aus wie eine Ritterburg. Ich weiß auch nicht, was die sich früher dabei gedacht haben, so zu bauen. Die Räume sind unbeschreiblich hoch und die Wände dick, die Flure lang und die Treppenhäuser protzig. Aus heutiger Sicht ist das einfach nur unpraktisch! Flure sind immer ungenutzter Platz, ob in Schulen oder zu Hause. So viele Kinder kann man gar nicht zum »in der Ecke stehen« rausschicken, als dass sich so große Korridore rentieren. Das wurde sowieso nicht gern gesehen, was meinen Se, was los war, als ich so ein Petunien-Lalelu-Mädchen mal zum Schämen in die Ecke schickte. Das Kind hat angeblich eine Störung davongetragen, weil es fünf Minuten die Wand angucken musste, und deswegen war ich nun schuld daran, dass sie beim Stangenklettern nicht hochkam. Das durfte ich nicht mehr machen. Aber gewirkt hat es, die hat nie wieder abgeschrieben! Jedenfalls habe ich sie nicht mehr erwischt. Die werden aber beim Schummeln auch immer gerissener. Na, sollen se, sie müssen da auch ihre kleinen Erfolgserlebnisse haben, dass sie mal mit dem Schummeln durchgekommen sind. Das haben wir früher auch gemacht, einen Spickzettel geschrieben! Man darf es nur nicht übertreiben.

Mit dem Bestrafen haben die sich heutzutage sehr pingelig. Ich bin nun wahrlich keine, die für die Prügelstrafe oder solche Sachen plädiert, aber man muss doch hin und wieder erzieherisch eingreifen dürfen, wenn die Dinge gegen den Baum laufen. Heute darf man die Kinder ja nicht mal mehr laut ansprechen, weil sonst die Seele leidet und der Elternbeirat tagt. Himmel, nee!

Früher, zu meiner Zeit, war die schlimmste Strafe für ein Kind, wenn es Stubenarrest bekam. Was war das furchtbar! Ich weiß noch, ich hatte mal Schuhwichse unter die Türklinke geschmiert, und Opa Strelemann hat reingefasst. Mein kleiner Bruder Fritz, die olle Petze, krähte sofort: »Das war Renate!«, und da folgte die Strafe auf dem Fuß: Eine Woche Stubenarrest! Ach, das war schlimm für mich. Ich war doch so ein Wirbelwind und flatterte durch die Feldmark wie das Laub im Herbst! Ilse und ich spielten jeden Tag Gummihopse oder Verstecken, aber nun musste ich eine Woche lang nach der Schule in der Küche am Tisch sitzen und in der Fibel lesen. Was habe ich gelitten! Aber ich habe auch daraus gelernt. Nie wieder spielte ich jemand einen Streich.

Also, keinen, bei dem ich so leicht als Täterin überführt werden konnte!

Denn ab dem Moment war ich geschickter. Niemand kam mir je drauf, dass ich Baldriantropfen in den Vorgarten vom Nachbarn gekippt hatte, woraufhin der liebestolle Kater dort die ganze Nacht hindurch jaulte und keifte. Hihi!

Nebenbei bemerkt, das habe ich vor ein paar Monaten erst wieder im Garten von Wilma Kuckert gemacht. Die hatte es verdient! Die hatte sich schon wieder bei Kurt untergehakt wie so ein loses Weibsbild und Ilse fast zum Weinen gebracht, dabei weiß sie genau, dass Ilse so leicht eifersüchtig wird.

Aber das gehört nicht hierher, das ist ein anderes Thema.

Nee, also mit Stubenarrest konnten die Eltern meiner Generation noch einen Stich setzen, aber schon meine Kirsten zuckte nur mit den Schultern, wenn ich damit drohte. Wir hatten ja damals bereits einen Fernseher, der aber in der Wohnstube stand und den sie nur anmachen durfte, wenn Wilhelm oder ich es erlaubten. Trotzdem wollten die Kinder seinerzeit schon nicht mehr unbedingt draußen spielen und fanden es nicht schlimm, wenn sie zu Hause bleiben mussten. Kirsten war eine Leseratte und ist es bis heute. Lesen bildet, und nie im Leben wäre ich auf die Idee gekommen, ihr das zu verbieten. Aber es war eben keine wirkliche Strafe, sie zu Stubenarrest zu verdonnern. Ich untersagte dafür die »Flimmerstunde« am Sonnabend, was sie dann doch schmerzte.

Heute lachen die Kinder einen aus, wenn man mit »Fernsehverbot« kommt! Fernsehen ist nicht mehr das, was es mal war. Früher gab es drei Sender, und es war etwas Besonderes, wenn der Apparat eingeschaltet wurde. Heute lässt man die Kiste doch freiwillig aus. Es kommen ja nur drei Sachen: Fußball, Ratesendungen und Krimis. Da bin ich bei allen drei Sachen raus.

Fußball ist am schlimmsten. Erste Liga, zweite Liga, dritte Liga. Dann Pokal. Und Europapokal! Dabei können se sich nicht mal entscheiden für einen Pokal, sondern spielen gleich um drei Pötte. Dann sind da noch Länderspiele, und die Nationalmannschaften spielen auch noch um Pokale, nicht nur um Meisterschaften, und wenn es dumm läuft, kriegt so ein Fernsehredakteur mit, dass die Jugendlichen auch eine eigene Europameisterschaft haben und sorgt dafür, dass auch noch das Viertelfinale der Halbwüchsigen gesendet wird. Ich kenne mich wirklich nicht gut aus, deshalb höre ich an der Stelle auf mit dem Auflisten, aber es gibt da noch sehr viel mehr. Letzthin haben se rausgefunden, dass auch ganz viele Leute einschalten, wenn Frauen Fußball spielen, und nun kriegen wir das alles noch doppelt. Ich sage Ihnen, früher hieß es immer »Die Kirche ist Opium für das Volk«, aber das muss man neu formulieren. Ich glaube, der Fußball ist Opium für das Volk. Na, sollen se gucken. Da sind die Männer beschäftigt, sie trinken ihr Bier und machen keinen Blödsinn.

Ilse und Kurt haben schon vor Jahren einen zweiten Fernseher angeschafft. Früher, da wurde hin und wieder mal ein Spiel übertragen, und da überließ Ilse dem Kurt auch gern mal den Fernbediener an einem Abend in der Woche. Man muss Männern schließlich ein paar Freiheiten gönnen, sonst rennen sie in die Kneipe und gucken da, und das wird teuer, weil das Bier dort auf vier Euro kommt. Aber es nahm so überhand, dass Ilse gar nicht mehr zum Gucken kam! Irgendwann hat die Tochter dann ihr altes Zweitgerät mitgebracht. Das steht jetzt in der guten Stube. Es ist immer ein Streit, wer zum Gucken in die gute Stube muss, denn da wird nicht geheizt. Außer wenn Besuch kommt an Weihnachten oder zu den Geburtstagen. Aber auch da hat Ilse eine kluge Lösung: Sie messen ja beide vor dem Abendbrot immer den Blutdruck, und wer den höheren Wert hat, muss in die kalte gute Stube. Ilse gewinnt fast immer, weil sie ihre Tabletten zum Blutdrucksenken heimlich schon eine Stunde vor der Messung einnimmt. Kurt macht das aber nichts, wissen Se, er durchblutet in den Beinen nicht mehr gut und merkt gar nicht, dass es kalt ist. Er ist auch abgehärtet, schließlich wartet er bei Wind und Wetter vor der Kaufhalle, wenn Ilse mit dem Wagen durch die Reihen schiebt. Letzten Winter musste sie ihm das Eis von den Wimpern tauen, denken Se sich das mal! Ganz stoisch stand er da und wartete auf seine Ilse und merkte nicht mal, wie ihm fast die Sehschlitze zugefroren sind. Allerdings sieht er ja eh nur noch zu vierzig Prozent, da merkt er den Unterschied zwischen »Augen auf« und »Augen zugefroren« nicht so.

Jedenfalls guckt Kurt auf dem Zweitfernseher in der kalten guten Stube Fußball, und Ilse sitzt meist mit ihren Stricknadeln in der gemütlich warmen Alltagsstube und guckt ihren »Inspector Barnaby«. Ich nicht, denn noch schlimmer als mit dem Fußball finde ich das mit den Krimis. Ich bin da kein Freund von. Ständig Mord und Totschlag! Montagskrimi, Dienstagskrimi, Mittwochskr…, nee, mittwochs ist einmal im Monat »Aktendeckel XY«, das ist was anderes, das muss sein! Aber am Donnerstag und am Freitag sind wieder Ermittler im Einsatz, dann folgt der Sonnabendkrimi und am Sonntag selbstverständlich »Tatort«. Rund um die Uhr wird geschossen und gemordet. Nicht nur abends, es geht im Vormittagsprogramm schon los. Normalerweise ist bei mir tagsüber die Flimmerkiste aus, aber wenn ich mal nicht so auf dem Damm bin und auf dem Schäselong ruhe, knipse ich die Kiste doch mal an. Himmel, nee! Und es wird auch überall gemordet: In Bozen, in Flensburg, in Mauren, in der Steiermark, in Lissabon und in Münster, ach, quer durchs Land! Man traut sich ja bald gar nicht mehr in den Wald! Also, würde ich im Taunus leben, ich glaube nicht, dass ich mich zum Pilzesuchen in die Schonung begeben würde. Jedenfalls nicht ohne Begleitung von Gertrud und Norbert. Wobei der Hund im Fall des Falles auch keine Hilfe ist, der springt den Oma-Mörder höchstens noch an und leckt ihn ab vor Freude.

Und dann gibt es noch Ratesendungen. Das lehne ich grundsätzlich ab, ich bin nämlich gegen das Raten. Ich bin für Wissen, das sagte ich den Kindern auch immer. Jeden Abend nudeln sie den Quatsch über den Äther, da raten Jung gegen Alt, Groß gegen Klein und Dumm gegen … nein. Das gibt es noch nicht. Aber man kann da schon mal durcheinanderkommen, das müssen Se zugeben!

Und wenn tatsächlich mal weder Fußball noch Krimi, noch eine Ratesendung läuft, können Se ganz sicher sein, dass der Lichter ins Bild springt und Leute mit einer alten Kruke begrüßt: »Wie darf ich die Dame denn ansprechen?« – »Ich heiße Edelgard!« – »Dannbinnischnatürlischderhorst!« Meinetwegen würde weniger Fernsehen ausreichen. GEZ könnte viel billiger sein, wenn die nicht rund um die Uhr senden würden! Nach zehn muss das doch wirklich nicht mehr sein. Da liege ich längst auf der Bettstelle, und jeder anständige Mensch sollte das auch.

Kurzum, mit Fernsehverbot kriegen Se kein Kind mehr geschockt. Da müssen Se schon stärkere Geschütze auffahren. Händiverbot und zu Hause den Onlein ausstöpseln, damit kriegen Se die frechen Lauser am ehesten gebändigt!


Im Großen und Ganzen fand ich mich in der Schule gut zurecht und »machte keinen Ärger«, wie Kirsten immer sagt. Nur einmal, da … Eigentlich wollte ich das nicht erzählen, aber es ist auch nur kurz etwas peinlich gewesen. Einmal war ich sehr konsequent und habe einer Schülerin auf dem Schulflur ihr Händi abgenommen, weil sie trotz Verbots und obwohl ich sie mehrfach ermahnt hatte, damit rumspielte. Es stellte sich dann aber heraus, dass das keine Schülerin, sondern die neue Referendarin für Musik war. Na, das konnte ich aber wirklich nicht ahnen! Sie sah sehr jung aus und wäre gut als Oberschülerin durchgegangen, und sie hätte ja auch den Mund aufmachen und einen Ausweis zeigen können. Frau Doppelname-Schulsekretärin lachte sehr laut, und Frau Sültmann und ich haben uns später prima verstanden. Frau Schlode und Frau Sültmann nicht so, denn die Schlode witterte offenbar Konkurrenz in ihrem Fachbereich »Singen und Klatschen«. Aber die kleine Sültmann blieb nur ein paar Monate, sie hatte dann ein Angebot aus Bayern, wo man ihr wohl anbot, vom Schulchauffeur vom Bahnhof abgeholt und mit der Sänfte durch die Flure getragen zu werden. Es ist nämlich so:

Wir haben im Bildungssystem so große und vor allem so viele verschiedene Probleme, dass fast alles stimmt, was erzählt wird, auch wenn es noch so absurd klingt. Es gibt zu wenig Lehrer, zu freche Eltern, zu schlechtes Interweb, zu viele Kinder in den Klassen und zu marode Gebäude, aber vor allem zu viele Menschen, die mit rumgackern. Bei so einer Gemengelage führt gar keine Diskussion zum Ziel.

Wissen Se, ich wollte Ihnen ja auch keinen Blödsinn aufschreiben. Es soll schon stimmen, was ich sage! Deshalb dachte ich mir: »Renate, jetzt gurgelst du mal, wie viele Lehrer eigentlich fehlen!« Na, da kann man was erleben! Sie ahnen es nicht, was da für Zahlen im Umlauf sind. Es reicht von ein paar Tausend bis beinah hunderttausend – es kommt ganz darauf an, wen man fragt. Die Leute haben natürlich alle ihre Interessen, die sie mit einpreisen, wenn sie solche Zahlen sagen, und gehen auch von ganz unterschiedlichen Entwicklungen aus.

Um die Lehrer, die es gibt, ist nun ein richtiger Wettstreit entbrannt, der fast schon peinlich ist. Erst lockten manche Bundesländer mit Verbeamtung, was vielen Lehrern noch immer das Liebste ist. Das war nach wenigen Jahren dann so weit verbreitet, dass nun alle verbeamten. Dann fingen die ersten an, mit Prämien zu wedeln. Fast so wie Ilse, die ständig alte Leute zu ihrer Fernsehzeitung missionieren will wie so eine Zeugin Jehovas. Sie kriegt da nämlich immer beschichtete Pfannen, in denen nichts anbackt, wenn einer neu bestellt. Mit Tesla-Beschichtung, wissen Se? Die taugen aber alle nichts, denn wenn man nur einmal mit der Gabel reingeht, geht die aufgesprühte Paste ab und Ilse muss die Pfanne wegschmeißen, weil man sonst krank wird von dem losen Zeugs. Jedenfalls lobten die Kultusminister dann alle möglichen Zuschläge und Prämien aus, wenn die Lehrer zu ihnen ziehen. Nebenbei bemerkt: Warum das »Kultusminister« heißt, konnte mir auch keiner erklären. Das sind entweder Bildungsminister oder Kulturminister. Wahrscheinlich konnten se sich wie so oft nicht einigen und nennen sich nun »Kultusminister«, das findet keiner gut, aber auch keiner so richtig schlimm.

Nun sind se jedenfalls so weit, dass man nicht mal mehr richtig studiert haben muss, um verbeamtet zu werden. Ich habe kein gutes Gefühl dabei. Das macht es doch alles nicht besser! Davon hat man doch keinen einzigen Lehrer mehr! Und alles, weil jeder nur an sich und sein eigenes kleines Fürstentum denkt. Himmel, nee, was für ein Egoismus. Dass da keiner mal auf den Tisch haut oder die mit den Köppen zusammenklatscht!

***

Ach, nun muss es aber auch mal genügen mit den Zweifeln und der Grübelei. Ich habe auch so viele lustige Begebenheiten erlebt, das kann ich Ihnen sagen! Es gibt ja nicht nur solche überkandidelten Eltern, sondern auch ganz normale Menschen. Frau Hupe zum Beispiel. Frau Hupe kannte ich schon aus dem Garten, die hat ihre Parzelle neben Gunter Herbst. Da grüßten wir uns vor ein paar Jahren schon von den Johannisbeeren zu den Buschbohnen rüber, sozusagen. Sie ist eine sehr bodenständige Frau aus der gleichen Kategorie wie Frau Berber und lebt nach dem Motto »Solange mir der Schal noch passt, mache ich keine Diät«. Nun hatten wir gerade keinen Winter, und sie trug keinen Schal, sondern bot freien Blick auf ihre Hälse und Kinns. Alle vier. Frau Hupe hatte das mit dem Abnehmen aufgegeben. »Ich habe schon so viele Diäten probiert, Frau Bergmann, das hat alles keinen Sinn. Der Mensch ist, wie er ist, man kann nicht gegen die Natur an. Mal gehen fünf Pfund runter, aber die kommen dann auch wieder drauf. Nein, das mit dem Abnehmen klappt einfach nicht auf Dauer. Gucken Se sich nur den Mond an, da haben Sie den Beweis!«, sprach sie und zuckte mit den Schultern.

Ihre Tochter, die kleine Hupe, war nun hier in der dritten Klasse. Frau Hupe erkannte mich auch gleich wieder, als sie die Lütte mal abholte, und wir plauderten ein bisschen. Ich mahnte sie, bei Biejonzie-Säwännah dranzubleiben und täglich zu üben. Die Kleine war pfiffig, hatte aber den Hang zur Faulheit und könnte mehr aus sich herausholen und im oberen Klassendrittel mitspielen, wäre sie ein bisschen fleißiger. Frau Hupe versprach, sich dahinterzuklemmen und gab zu, dass sie bei den Hausaufgaben nicht immer helfen kann. Das sagte die jetzt schon, in der dritten Klasse! Ihr war selbst schon bange vor dem, was da bald noch kommen würde. »Mit Buchstaben zu rechnen war noch nie meine Sache«, meinte sie und lachte. Ich fragte sie höflich, wie sie sich das denn in Zukunft vorstellt. »Ich fotografiere die Aufgaben, poste das bei Facebook und schreibe darunter: ›Nur ein Prozent aller Menschen findet die richtige Lösung!‹ Dann mache ich mir einen Kaffee und gucke nach einer Stunde mal nach. Das Ergebnis, das am häufigsten genannt wird, schreibt Beyonce-Savannah dann auf. Das ist fast immer richtig.«

Ja, wissen Se, gegen so viel Gewitztheit konnte man nichts sagen. Sie wusste sich zu helfen, die Frau Hupe. Ich wünschte einen schönen Feierabend und schmunzelte in mich hinein.

Auch Herr Muschel war nett und schlagfertig. Man staunt ja über die Ehrlichkeit mancher Eltern. »Ihr Sohn ist wirklich schon sehr selbstständig, das muss man sagen«, lobte ich. Er antwortete mir: »Was bleibt ihm auch weiter übrig? Ich muss jeden Tag lange arbeiten, und meine Frau ist faul.«

Das habe ich einfach so stehen lassen und nicht weiter nachgefragt. Wissen Se, man kennt das doch. Hakt man da ein, bekommt man sofort die Geschichte einer Ehekrise ausgewalzt. So was will man ja nicht. Zumal ich schon aus erster Hand wusste, dass bei Muschels bald ganz andere Probleme zutage treten würden. Wissen Se, Kinder haben die Eigenheit, ungefragt private Episoden zu berichten. Gertrud hätte ihre Freude dran gehabt, die Kleinen auszuhorchen, das kann ich Ihnen sagen! Der Alda-Johnny berichtete, dass seine vierzehnjährige Schwester schwer erkrankt war. Sie nahm jeden Tag eine Pille, und zwar heimlich, damit sich die Eltern keine Sorgen machten. Ihn hatte sie auch zum Schweigen verdonnert. Wissen Se, das sind dann die Grenzfälle, wo man sich überlegt, ob man die Pflicht hat einzugreifen oder ob das privat ist. Ich entschied mich für Letzteres. Das sollten die Muschels mal schön alleine rausfinden, dass das frühreife Früchtchen da schon mit den Jungs … Nee, da hielt ich mich raus. Man kriegt nur Ärger, wenn man sich bei solchen Sachen einmischt.


Bestimmt fragen Sie sich, was Ilse zu der ganzen Angelegenheit mit meiner Lehrerei zu sagen hatte. Die war merkwürdig zurückhaltend, zu meiner großen Verwunderung. Selbstverständlich habe ich mit ihr gesprochen und auch um Rat gebeten, ob ich mich wohl darauf einlassen soll. Schließlich war sie vom Fach und ist eine Kapazität gewesen als Lehrerin, eine ausgewiesene Kapazität! Noch lange Jahre nach ihrer Pensionierung kamen die Schüler und baten um Nachhilfe, und bis heute kriegt sie Postkarten von Ehemaligen und wird zu Klassentreffen eingeladen. Aber Ilse hatte so gar keine Nerven für mein Anliegen. Ich glaubte fast, die nahm mich nicht richtig ernst. So was fordert mich ja immer erst recht heraus, wenn einer denkt, ich schaffe etwas nicht. Dann will ich erst recht zeigen, dass ich es kann. Das weckt den Ehrgeiz in mir. Aber Ilse war so auf ihren Kurt geeicht, dass sie für mich einfach gar keine Zeit hatte. Ich kenne das schon, das ist jedes Jahr im Herbst das Gleiche.

Ilse hat sich, seitdem die Tochter aus dem Haus und sie pensioniert ist, der Pflege und Erziehung von Kurt gewidmet. Sie glaubt, es ist nie zu spät, einen Menschen zu formen. Ich bin da ganz anderer Meinung. Männer bleiben immer Jungs! Irgendwann hören sie auf zu wachsen, aber dann sind es eben große Jungs. Was die von ihren Müttern nicht beigebracht bekommen haben, kriegen Sie als Ehefrau nicht mehr rein in die. Und das sagt Ihnen eine Frau mit Erfahrung, ich war schließlich viermal verheiratet. Franz hat bis zuletzt einfach nicht einsehen wollen, dass man sich beim Fußnägelschneiden ein Handtuch unterlegt. Das konnte ich dem noch so oft sagen, der brabbelte nur. Und als der große Zeh dran war zum Schneiden, saß er wieder mit der Zange vorm Fernseher und schnipste, und die Nägel flogen hinter die Anbauwand. So ein Flegel. Dafür habe ich ihm sein Handtuch um die Füße gewickelt, als er tot war, und ihn so begraben lassen. Das sollte ihm eine Lehre sein! Soll der da ruhig mit umwickelten Füßen umherhüpfen im Himmel. Falls er denn in den Himmel gekommen ist, der olle Hallodri mit seinen Liebchen. Na, wie auch immer, jedenfalls war Ilse nur mit Kurt beschäftigt. Sie war gerade wieder mit ihm auf Ärzte-Tournee und stellte ihn allen möglichen Doktors vor. Sie mussten ihn begutachten und alles durchprüfen. Da ist sie genauso konsequent wie Kurt selbst mit dem Koyota, beide sind sozusagen scheckheftgepflegt.

»Jaja, Renate, ein andermal, sei mir nicht böse! Ich muss bei Doktor Weißlange anrufen, ob die Ergebnisse von Kurts Fettwerten schon da sind. Stell dir nur vor, die wären zu hoch, wir wollen doch heute Pellkartoffeln essen! Dann kann ich Kurt doch keine Butter dazu geben. Lass uns ein andermal sprechen, ja?«

So was nennt sich nun Freundin! Aber wenn Kurt seine Doktorsaison hat, ist Ilse wie im Tunnel. Da kennt die links und rechts des Weges keine Verwandten. Sobald er alles bestanden hat, ist sie beruhigt, und man kann wieder mit ihr reden, aber wehe, man spricht sie zwischen den Arztterminen an.

Zu den Doktors darf Kurt auch nicht mit dem Koyota fahren wie üblich. Fragen Se mich nicht, warum. Man weiß es nicht. Ilse tut gerade so, als würden die ihm da Bier anbieten in der Praxis. Einmal war beim Augenarzt was, da haben sie ihn geträufelt, und er sah hinterher … nun, noch ein bisschen verschwommener als üblich. Da hat die Schwester gesagt: »Mit dem Autofahren müssten Sie jetzt eine Stunde warten, hihihihi, aber ich sehe gerade, Sie haben ja 17 Dioptrien. Da fahren Sie ja gar nicht mehr.«

So eine Schnepfe.

Und wie Kurt fährt, besser als so manch Jungscher ohne Dioptrien! Aber seither fahren Ilse und er immer mit Bus oder S-Bahn zum Doktor, damit es da keine unverschämten Sprüche gibt.

Fragen Se nicht nach Sonne! Die beiden kennen sich ü-ber-haupt nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln aus, weil sie ja üblicherweise Auto fahren. Und das, obwohl in Berlin überall und ständig Stau herrscht und man mit der U-Bahn oft viel schneller ist oder auch mit dem Bus, weil der eine Extraspur auf der Straße hat. Ich weiß, wie es ist, mit Ilse und Kurt Bahn zu fahren: kein Vergnügen. Da sie es nicht gewohnt sind, machen die ein Theater in der Bahn … Sie ahnen es nicht! Ilse kann nicht gegen die Fahrtrichtung sitzen, weil ihr sonst schlecht wird. Sie erzählt auch jedem der Fahrgäste, dass sie während der Fahrt nicht lesen kann, weil sie sonst speien muss. Dabei verlangt gar keiner, dass sie was vorliest. Sie erzählt es trotzdem allen Mitreisenden, es ist wegen der Aufregung. Bei jedem Halt ruft sie: »Huch, müssen wir hier raus?«, und zählt neu nach, wie viele Stationen es noch sind. Dabei guckt sie auf den Plan an der Decke im Waggon, und prompt wird ihr wirklich schlecht vom Lesen, und dann kann man nur noch hoffen, dass sie bald da sind. Sie hat aber Gott sei Dank immer ein Erfrischungstuch mit Kölnisch Wasser in der Handtasche. Das vertreibt die Übelkeit gut, jedenfalls bei Ilse. Manche der anderen Fahrgäste machen dann erst recht dicke Backen.

Ilse selbst war es recht unangenehm, dass sie so wenig Zeit für mich hatte. Sie druckste herum, als ich sie am Sonntag besuchte und sie gerade in der Küche das Abendbrot vorbereitete. »Renate, wie gern würde ich dir mehr unter die Arme greifen. Aber Kurt … weißte, ich will doch noch ein paar schöne Jahre mit ihm haben. Das geht jetzt wirklich vor mit seinen Untersuchungen. Der wird immer schusseliger, das muss doch einen Grund haben!«

Das hatte ich wohl vernommen, dass er jeden Tag etwas verbummelte und nur am Suchen war: Lesebrille, Autoschlüssel, Pillendöschen … ständig war was weg in der letzten Zeit. Für Kurt war jeden Tag Ostern, der hatte immer was zu suchen. Allerdings kenne ich auch mein Ilschen und wusste, dass es ein Trick von ihr ist. Sie versteckt die Sachen, verstehen Se? So ist Kurt beschäftigt, und es gibt weniger Kurzschluss. Klug genug ist Ilse, und eine Gerissene war sie schon immer. Aber mir macht sie nichts vor, eine Renate Bergmann durchschaut so was. Vor allem, weil sie die Sachen an Orten wiederfindet, an denen Kurt gar nicht gewesen sein KANN, ließ mich aufhorchen. Wie kommt Kurts Brille bitte hinter das Feinwaschmittel, frage ich Sie? Kurt hat doch in seinem Leben noch keine Wäsche gewaschen! Aber ich hielt den Mund und fuhr Ilse nicht in die Parade. Für so was sind Freundinnen schließlich auch da.

Gertrud ist auch eine Schusseltrine, aber eine echte. Bei ihr ist nichts vorgetäuscht oder inszeniert. Ich habe schon seit Jahrzehnten einen Schlüssel von Gertruds Wohnung. So zerstreut, wie die ist, hätte die sich einen eigenen Handwerker vom Türnotruf einstellen können, so oft hat sie sich schon ausgesperrt. Die hat allen möglichen Plunder in ihren Schürzentaschen, von zwei Kastanien gegen das Rheuma bis zum Taschentuch, ein bisschen Geld und einem Notfallkorn für Renate und Leckerli für Norbert bis hin zu ihrem Pillendöschen, aber ihren Schlüssel, den lässt sie immer wieder auf dem kleinen Schränkchen im Flur liegen. Erst vor drei Wochen telefonierte sie mich wieder vom Nachbarn aus an: »Renate, ich bin ganz aus dem Häuschen!« Da wollte se auch noch witzig sein, die Dame. Die wusste genau, dass ich an dem Tag Plättwäsche hatte nach der Schule und wollte auf gut Wetter machen. Wegen ihrer Schusselei musste ich mein gutes Tafeltuch halb gebügelt liegen lassen und mit dem Ersatzschlüssel zu Gertrud düsen!

»Du bist mir doch nicht böse und zweifelst an unserer Freundschaft?«, fragte Ilse bange.

»Weißte, Ilse«, sprach ich und ergriff ihre Hand, »Freundschaft ist wie ein Baum. Wenn er groß und prächtig ist und für andere schön anzusehen, heißt das nicht viel. Es braucht nur einen Windsturm, und schon knickt er ab. Es kommt doch darauf an, wie tief die Wurzeln gehen«.

Ilse nickte mir zu, und ihre Augen waren ganz glasig, und das bestimmt nicht nur vom Zwiebelschneiden.


So ein Schulhalbjahr ist ja im Nu rum. Gleich nachdem es angefangen hat, kommt der Herbst, dann die Erkältungszeit, zwei Klausuren hier, drei Leistungskontrollen da, und schwuppdiwupp! reden alle nur noch von den Zeugnissen. Das ist ja ein ganz heißes Thema, das ab einem gewissen Zeitpunkt das Leben von Schülern, Eltern und Lehrern bestimmt.

Wissen Se, und wie so oft im Leben kommt es auch auf die Sichtweise an. Es gibt im Umgang mit Menschen kein Richtig oder Falsch, kein Schwarz oder Weiß. Die kleine Hupe zum Beispiel bekam in der Zeugniskonferenz ganz und gar unterschiedliche Einschätzungen! Die Deutschlehrerin Frau Krähsinger sagte: Die Hupe ist laut, stört den Unterricht, hat keinen Ehrgeiz, kann dem Stoff nicht folgen, ist unverschämt und albert herum. Herr Hummel, der Sachkunde lehrte, meldete sich und entgegnete, er könne das überhaupt nicht teilen. Die Kleine ist lustig, engagiert, bringt sich ein, ist immer interessiert, höflich und lebhaft und alles in allem ein wirklicher Gewinn für die Klasse.

Ja, so unterschiedlich ist das! Vielleicht kann die Frau Krähsinger einfach bis heute nicht verknusen, dass die Hupe ihr mal einen nassen Schwamm unter das Stuhlkissen gelegt hat. Das war ein Schülerstreich, das muss man auch mal verzeihen nach einer gewissen Zeit und es nicht ewig nachtragen. Vielleicht hat die Kleine aber ihre Stärken mehr in der Sachkunde und interessiert sich eher für Erdkunde als für das Partizip zwei? Man muss auf jeden Fall immer den Menschen als Ganzes in den Blick nehmen und sich intensiv mit ihm beschäftigen, damit man ihm nicht unrecht tut. Das ist im Leben genauso wie in der Schule!

Kinder darf man nicht zu kritisch sehen. Nicht wie Frau von Kießling, die ihren Abiturienten schmallippig sagte: »Du stehst eigentlich auf einer knappen Drei, aber ich gebe dir trotzdem eine Vier, damit du eine Motivation hast, dich im zweiten Halbjahr zu verbessern!« Mit so was verleidet man doch nun wirklich auch dem Letzten den Spaß am Lernen! Anfangs hielt ich Frau von Kießling für eine vernünftige Person, mit der man reden kann, aber je näher ich sie kennenlernte, desto klarer wurde mir: Um die machte der Spaß eine große Kurve, und sie selbst auch um alles, was Spaß macht. Sie hat mir mal erzählt, dass sie vor Jahren eine Klassenarbeit mit Rotwein bekleckert hat. Es war ihr sehr unangenehm, und sie hat den ganzen Abend lang überlegt, was sie machen soll. Sie hat den Kindern dann in der nächsten Stunde ins Gewissen geredet, dass die Arbeit sehr schlecht ausgefallen sei. So schlecht, dass sie sie gar nicht bewerten will und kann. Sie sagte, jeder habe die Chance, noch mal ganz intensiv zu lernen und die Klausur in der nächsten Woche noch mal zu schreiben. Sie kicherte sich beim Erzählen eins ins Fäustchen, so gemein war sie. Frau von Kießling war in all den Jahren im Schuldienst sehr verbittert. So ging sie manchmal erst zwei oder drei Minuten nach dem Klingeln in die Klasse, um den Kindern Hoffnung zu machen, dass die Stunde ausfällt. Gerade wenn sich die Freude breitmachte, ging sie rein und ließ einen unangekündigten Test schreiben. Das sind so die kleinen, fiesen Mittelchen, mit denen sie sich rächte.

So eine Klasse von zwanzig, fünfundzwanzig Kindern, das ist unsere Gesellschaft von morgen: Einer wird mal Rechtsanwalt, eine wird Ärztin, und vier sitzen am Fliesentisch aus dem Sozialkaufhaus und gucken RTL2. Wir können die Kinder nicht alle zu perfekt funktionierenden Robotern machen und dürfen auch auf keinen Fall versuchen, alle gleich zu behandeln oder sie gar gleichzumachen. Aber wir haben die Pflicht, jedem die gleichen Möglichkeiten zu geben, sich zu entwickeln und das Beste in sich zu entdecken. Jedes Kind soll die gleiche Chance haben, Arzt oder Ärztin zu werden, ganz egal, wie viel Geld die Eltern haben und ob es Mohamed, Larissa oder Laura heißt. Da müssen wir von der Schule mitziehen und auch die Eltern – jeder muss seinen Beitrag leisten. So sehe ich als Unstudierte das, bestimmt ist das naiv, aber es ist doch oft so im Leben, dass die Fachköppe, die über Details diskutieren, sich so verhaken, dass sie das große Ganze gar nicht mehr sehen.


Frau Westermann sagte, es gibt eine goldene Regel: Die Zeugnisnoten gibt sie immer so spät wie möglich bekannt. »Wenn die frechen Lauser wissen, dass sie ein Gut oder ein Sehr gut bekommen, machen die keinen Handschlag mehr, Frau Bergmann. Ich halte die immer in dem Glauben, dass sie auf Kippe stehen. Dass die Zeugnisse schon längst geschrieben sind, müssen die nicht wissen.« Sie nannte mir Frau Sensecke als warnendes Beispiel. Die Sensecke war eine gescheite Frau und auch erfahren im Umgang mit den Kindern, aber sie machte jedes Jahr den gleichen schweren Fehler: Sie sagte den Kindern vor den Zeugnissen, wie sie zensiert hat. Von dem Moment an hatte sie dann ständig die bettelnden und flehenden Kinder am Rockzipfel hängen, die ihr in den Ohren lagen, dass ja nur ein Punkt fehlt oder die Vier ein Ausrutscher war. Alle wollten ständig noch eine kleine Hausarbeit machen, ein Kurzreferat halten oder eine Wandzeitung basteln, um sich zu verbessern. Nee, die Zeugnisnoten waren zu Recht ein schwer gehütetes Geheimnis!

Zeugnistage sind bis heute aufregend. Daran hat sich seit meiner Schulzeit nichts geändert. Wenn der Tag ran ist, sitzen die Kleinen hibbelig auf der Stuhlkante und warten auf den Moment, wo sie das Blatt Papier mit den Noten für das Halbjahr bekommen. Die ganze Arbeit in ein paar Zahlen zusammengefasst, alle Klassenarbeiten, Leistungskontrollen und Einschätzungen der Lehrerinnen und Lehrer. Was da aber nicht steht, ist, wie die Kinder das Wissen erworben haben.

Wissen Se, es ist nicht alles gerecht. Die Fehlzeiten der Kinder werden auf dem Zeugnis vermerkt, die Krankentage, an denen sie entschuldigt gefehlt haben, genauso wie die Stunden, in denen sie unentschuldigt nicht in der Schule waren und sozusagen »blaugemacht« haben. Aber die Zeiten, die ausgefallen sind, weil die Lehrer krank oder auf Weiterbildung waren, die stehen nirgends auf dem Zeugnis. Was meinen Se, was im Lehrerzimmer los war, als ich danach fragte. »Wer nicht fragt, bleibt dumm«, das Motto ist nicht nur was für Kinder, sondern auch für einen reiferen Geist wie mich. Aber das passte manchen gar nicht. Als ich das fragte, da wurden auf einmal Lehrer wieder munter, von denen ich immer dachte, sie schlafen die Dienstzeit einfach durch. Wer das denn nachrechnen und aufschreiben soll, wurde mir entgegnet, und ob ich überhaupt wüsste, was das für Arbeit macht und was das für ein Verwaltungsaufwand wäre!

Ich bleibe trotzdem dabei, so was gehört den Kindern genauso angerechnet, und es müsste auf die Zeugnisse geschrieben werden. Und zwar alles! Wer das »Giftblatt«, wie wir früher sagten, sieht, muss auch wissen, welche Qualität der Unterricht hat. Die sollten ruhig mit draufschreiben, wie viele Stunden Deutsch ausgefallen sind oder wie viele Stunden Mathe vom Musiklehrer vertreten wurden, der einfach eine Schallplatte auflegt. Das gilt dann als abgehaltener Vertretungsunterricht, damit die Statistik nicht so schlimm aussieht. Und sie sollten auch mal festhalten, wie viel Unterricht von richtigen Lehrern gegeben wurde und wie viel von so Angelernten wie mir!

Einmal hat eine Mutti mir eine ausgedruckte Tapete aus ihrem Computer gezeigt. Der kleine Lasse (ohne irgendwas dran, einfach Lasse!) hat zu Hause jeden Tag berichten müssen, welcher Unterricht stattfand und welcher ausgefallen ist und auch aus welchem Grund. Vom ersten Schultag an hat sie das ausgewertet, und da kam Erschreckendes raus. Von den Zeiten, als die Mäuse wegen der Pandemie gar nicht oder nur durch per I-Mehl übermittelten Zetteln unterrichtet wurden, wollte sie gar nicht sprechen, sie hat nur die ganz normalen Schulzeiten betrachtet. Wissen Se, wenn die Physiklehrerin Frau Baumert Migräne hat und zu Hause bleiben muss, fällt Physik nicht wirklich aus. Da kommt dann eine Frau Schlode und lässt Mandalas ausmalen oder den Text von »Horch, was kommt von draußen rein« repetieren, und dann zählt der Unterricht. Es ist zwar »fachfremde Vertretung«, aber Unterricht ist Unterricht, und die Leistungskontrollen werden trotzdem geschrieben, basta! Am Ende des Tages steht so was in keiner Statistik und auf keinem Zeugnis. Da wird nicht groß drüber gesprochen, und so etwas kann auch schon mal passieren, aber wenn es keiner festhält, kommt das nie auf den Tisch, wie oft die Baumert Migräne hat! Ich will nicht auf den vierzig Krankentagen rumreiten, aber so was führt natürlich dann auch zu so was.

Vierzig Krankentage, wissen Se, ich komme da gar nicht drüber weg. Ich glaube, so oft war ich in meinen über vierzig Dienstjahren bei der Reichsbahn nicht krank!

Aber solange die arme Elvira in ihrem Sekretariat mit ihren Plaste-Schildchen der Goldstandard für die Organisation in der Schule ist, so lange wird sich da nichts ändern. Man kann von der guten Frau wirklich nicht verlangen, dass sie nun auch noch die Ausfallstunden nach Qualität begutachtet und auswertet. Dafür müssten die ran, die sich mit Computer auskennen, aber solche Leute sind in Schulen dünn gesät. Computer haben sie, doch, zumindest einen im Sekretariat. Der brummt allerdings sehr laut, und der Bildschirm sieht aus wie mein alter Fernseher, auf dem Katerle noch gemütlich liegen konnte. Nicht so ein flacher, wie die jetzt immer sind, wo die Katze runterrutscht. Die haben nur eine Web-Pädsch, auf der steht die Adresse, die Telefonnummer, und dann ist schon bald Schluss. Wegen Datenschutz. Ein paar Bilder sind noch drauf: Die Schulleiterin mit der Frau Bürgermeisterin, die Schulleiterin, wie sie einen Baum pflanzt, die Schulleiterin, die eine Spende für eine neue Reckstange vom Kaufhallen-Scheff überreicht bekommt. Auf letzterem Bild stehen im Hintergrund viele Kinder, die sehr sparsam gucken. Das durfte damals noch, aber nach neuem Datenschutz geht das heutzutage nicht mehr. Keine Kinder im Interweb, keine Telefonnummern. Das ist ein so heißes Eisen, dass das keiner mehr anfassen will, und deshalb verlassen sich alle lieber auf die Plastikschildchen von Elvira. Es ist eine Schande, dass nicht jede ausgefallene Stunde an das Kultusministerium gefaxt wird, mit der genauen Anzahl der Kinder, die es betrifft, und der Frage, was die Damen und Herren da oben dagegen zu unternehmen gedenken. Ich schlug das auch vor, wurde aber nur belächelt. Die waren da alle schon abgestumpft.


Ich war mir mit Frau Westermann und auch mit Frau Schlode einig: Die sollten den Lehrern mehr Zeit für ihre eigentliche Arbeit geben. Es gibt so viele Aufgaben, die unsinnig sind und Zeit fressen. Die können von Leuten wie mir erledigt werden oder gehören einfach abgeschafft. Dass sich Eltern zum Beispiel zu jeder Tages- und Nachtzeit melden, sich beschweren, was nachfragen oder nur mal grundsätzlich zum Thema sagen wollen, ist ein Unding. Es gibt Elternversammlungen, da können sie vortragen, was es zu sagen gibt, und wenn es außergewöhnliche Vorkommnisse gibt, auch, aber es kann doch nicht sein, dass Frau Westermann zum Bespiel täglich Anrufe von Frau Hupe bekommt, die sich erkundigt, ob ihre Tochter wohl ihre Stulle aufgegessen hat. Oder die Mutter von der Lorelei-Anastasia, die mitten im Unterricht, kurz vor der großen Hofpause, anbimmelte, damit Frau Westermann aufpasste, dass Lorelei eine Mütze aufsetzt.


Elternversammlungen sind eine sehr spezielle Veranstaltung, das musste ich bald erfahren. Denn bevor es die Zeugnisse gab, ging es in den Zoo.

Drei Tage im Jahr gehen alle Klassen auf einen Ausflug. Da geht es entweder am Stück auf eine Reise mit Übernachtung oder jeweils morgens in die Heide und am späten Nachmittag wieder zurück. Frau Westermann hatte ohne Diskussion entschieden, dass sie nicht mit Kindern über Nacht wegfährt, die Hilfe beim Abputzen auf dem Abort brauchen, und dass es deshalb zunächst erst mal für einen Tag in den Zoo geht.

Das war so ziemlich das Schlimmste, was ich je erleben musste. Und das schreibt Ihnen eine Frau, bei deren Gallenblasenoperation der Chefarzt Professor Waldriebe einen Tupfer im Bauch vergessen hat!

Ich habe mir gar nichts dabei gedacht, als Frau Westermann zum ersten Mal davon sprach. Mich bringt eigentlich so leicht nichts mehr aus der Ruhe. Ich bin mit meinen Blutdrucktabletten sehr gut eingestellt, und das mit den Hormonen ist auch vorbei. Wissen Se, als ich jünger war und ein fescher Herr mit gescheiteltem Haar und schönen Augen vorbeikam, da schlug mir das Herz schon mal höher. Aber die Zeiten, wo es im Bauch kribbelte, sind lange vorbei. Manchmal kribbelt es noch in den Füßen, dann muss ich Salbe aufschmieren. Seit ich eine Monatskarte habe, klopft mir das Herz nicht mal mehr, wenn ich den Fahrkartenkontrolleur sehe.

Ein Klassenausflug, na gut. Was ist schon dabei? Wir haben, als ich noch ein munter tobendes kleines Mädchen mit Affenschaukeln war, auch Schulausflüge gemacht. Beim Wandertag ging es raus in die Natur. Ach, das waren immer die Höhepunkte im Schuljahr. Da freuten wir Kinder uns wochenlang im Voraus!

So wichtig das Pauken und das Einmaleins-Aufsagen auch waren und bis heute sind, ab und an muss man auch was anderes sehen und erleben. Für uns Kleinen war es das Höchste! Gerade für die Kinder von Eltern mit nicht so dickem Portjuchhe war es oft die einzige Gelegenheit im ganzen Jahr, dass sie mal rauskamen aus dem Dorf und weg vom eigenen Bauernhof. Gut, zum Geburtstag von Tante Alma hat Opa auch den Braunen angespannt, und wir sind von Finkenhof rüber nach Amselsfelde gefahren, aber da war es auch nicht anders als zu Hause. Tante Alma war Oma Strelemanns Schwester. Sie trug zeit ihres Lebens schwarze Kleider und backte zu ihrem Geburtstag Streuselkuchen ohne Butter, nur mit Margarine, überlegen Se sich das mal! Der war so trocken, dass es staubte, und schmeckte nicht. Wir Kinder mussten an einem Extratisch sitzen, und Mutter legte großen Wert darauf, dass wir unsere antrainierten Manieren zeigten und den bröseligen Kuchen mit der Gabel aßen. Da war ein Schulausflug mit den Freundinnen und Klassenkameraden viel schöner!

Unsere Wandertage führten uns meist in die Knollenberger Heide, und der Herr Lehrer ließ uns nicht nur toben und spielen, sondern hielt auch lange Vorträge über Flora und Fauna. Wir mussten alle möglichen Kräuter bestaunen und Vogelstimmen erkennen, und ach, es war trotzdem eine Freude! Ich erinnere mich noch heute sehr gern an diese heimatkundlichen Exkursionen.

Drei Leiterwagen hatte der Herr Lehrer herbeigeschafft, und die Bauern Wenzel, Gans und Strelemann – Letzterer war mein Großvater – hatten sich bereit erklärt, uns Kinder zu kutschieren. Sonst wurden die schweren Wagen für die Ernte gebraucht und hatten Heu und Stroh geladen, aber für den Schulausflug hatten die Bauern Bretter zwischen die Leitersprossen geschoben, sodass wir Kinder nun Sitzbänke hatten. Schon früh am Morgen ging es los, gleich nach Sonnenaufgang und noch viel früher, als die Schule üblicherweise begann. Wir fingen im Sommer um halb sieben Uhr an und im Winter um sieben. Das können Se heute auch keinem mehr vorschlagen, da haben Se gleich wieder eine Sondersitzung Elternbeirat mit psychologischen Gutachten über Biorhythmus und Panne im Kopp in späteren Jahren. Damals war das aber ganz normal. Geschadet hat es uns nicht! Die Pferde waren groß und kräftig, unser Brauner ging vorneweg. Trotzdem ließen die Männer sie nur ganz gemächlich traben, denn vor uns lag eine Strecke von gut 15 Kilometern. Für Opa Strelemann waren solche Wandertage auch etwas Besonderes. So was wie Urlaub kannten die Bauern seinerzeit gar nicht, und solche Tage waren die einzigen im Jahr, an denen auch er mal rauskam. Er war immer der Erste, der sich freiwillig meldete, wenn der Herr Lehrer fragte, wessen Elternhaus beim Schulausflug mithilft, wohl auch, weil er wusste, dass Oma nicht mitkam. Ihr wurde nämlich auf dem Leiterwagen schlecht von dem Gestucker. Wenn wir zu Tante Alma fuhren, ging Oma Strelemann zu Fuß, damit sie nicht speien musste.

Wir Kinder waren natürlich aufgeregt und mit großer Vorfreude dabei. Wir schmückten die Leiterwagen mit Birkenzweigen, und wenn sich die Kremser in Bewegung setzten, schauten wir singend zu unseren Eltern, die noch lange den dorfauswärts rollenden Fuhrgespannen nachwinkten. Es ist im Grunde wie heute, nur dass die Kinder mit dem Reisebus fahren und die Eltern mit Herrn Habicht und der Polizei nach dem Abschiedswinken über Knöllchen an ihren SUFF-Autos streiten.

Es war ein heftiges Geholper, das kann ich Ihnen sagen! Die Leiterwagen hatten ja keine Gummireifen, sondern eisenbeschlagene Holzräder, und wenn es über die gepflasterte Straße ging, purzelten wir auf den Bretterbänken hin und her. Als wir nach Stunden in der Knollenberger Heide ankamen, waren wir ordentlich durchgeschüttelt, und unsere Kutscher waren auch fix und fertig. Die waren so viele lebhafte Kinder auf einem Haufen schließlich nicht gewohnt, das ging an die Nerven. Der Herr Lehrer notierte im Klassenbuch: »Männer und Pferde waren von der Fahrt stark ermüdet«, das weiß ich bis heute. Opa und die anderen Bauern gingen nicht mit uns auf Wanderung, sie blieben bei den Pferden, die nun ein paar Pfund Hafer bekamen und grasen und ausruhen durften. Auch die Männer stärkten sich. Oma Strelemann hatte es sich genauso wenig nehmen lassen wie Frau Gans, was Gertruds Mutter war, und Frau Wenzel, die Mutter vom kleinen Siegfried, uns einen ordentlichen Proviantkorb mit Hausgeschlachtetem, frisch gebackenem Bauernbrot und allerlei Köstlichkeiten wie hart gekochten Eiern und eingelegten Gurken mitzugeben. So was ging ja damals noch, da durfte man das noch essen, ohne dass es ein Theater wegen Allergie und Gluten gab. Wir Kinder hatten alle unser eigenes Proviantpaket, aber es war für uns noch nicht die Zeit zum Essen gekommen, denn nun begann erst die eigentliche Wanderung durch die Heide. Da war der Herr Lehrer in seinem Element und ließ uns Volkslieder singen, während wir in Zweierreihen, immer schön auf den Wegen bleibend, durch die Landschaft spazierten. Nach jeder Strophe hielten wir kurz an, und der Herr Lehrer erklärte uns, welche Pflanzen da am Wegrand standen, welche Insekten sie anlocken und auch, wie das mit der Bestäubung funktioniert. Er erklärte uns auch, weshalb wir Respekt vor der Natur haben sollten und dass wir auf den Wegen bleiben und nicht die seltenen Gräser zertrampeln sollten.

Ein Lehrer war ja seinerzeit nicht nur Lehrer, sondern rund um die Uhr für alles verantwortlich, was mit Schlausein, Kultur und Schule zu tun hatte. Er war gleichzeitig Schulleiter, allein verantwortlicher Lehrer für über fünfzig Kinder vom ersten bis zum achten Schuljahr, und er kümmerte sich um die Schulbücherei, die an zwei Nachmittagen auch Volksbücherei war und in der man sich Erbauliches oder Krimis leihen konnte.

Jetzt, wo ich das so aufschreibe, fällt mir was auf. Wir saßen tatsächlich alle in einem Klassenraum, sämtliche Kinder von der ersten bis zur achten Klasse. Es kann also gut sein, dass Ilse doch mit Kurt auf einer Bank … ach du je! Das habe ich ihr so schön ausgeredet, das lassen wir jetzt mal so. Sie verraten mich doch nicht?

Wie auch immer, der Lehrer leitete darüber hinaus den Schülerchor, die hiesige Flötengruppe, die Laienspieltruppe, die jedes Jahr das Weihnachtsstück aufführte, den Karnevalsverein und den Männergesangsverein. Wissen Se, je länger ich darüber nachsinne, desto mehr erinnert er mich an Frau Schlode. Er dirigierte zu alledem auch noch den Posaunenchor, spielte die Orgel in der Kirche und war Ehrenbrandmeister bei der örtlichen Feuerwehr. Na, das hat Frau Schlode noch nicht hingekriegt, hihi! Aber so oft, wie die beim Feuerwehrfest mit ihren Chören aufläuft, wird das wohl nicht mehr lange dauern, bis sie Löschmeisterin ehrenhalber wird. Man weiß doch, wie das ist, die haben alle den Druck, dass sie mehr Frauen brauchen zum Vorzeigen, wenn die Zeitung kommt, und da ist so eine Dame in Uniform gut für die Statistik und die Fotos. Auf den ersten Blick sieht ja keiner, dass die nicht mal den Schlauch halten kann, sondern nur singen, klatschen und tanzen. Und Frau Schlode würde vor Stolz platzen, das kann ich mir richtig gut vorstellen!

Na ja. Frau Schlode sollte wohl nicht mit auf den Klassenausflug, was ich erleichtert zur Kenntnis nahm. Das Tierreich bietet ein so breites Angebot an Liedern, dass man hätte fürchten müssen, der Zoobesuch wäre eine Art »Festival der Chöre« geworden. Aber leider, leider war Frau Schlode unabkömmlich wegen Klassenarbeiten in der 3a.

Heute werden keine Leiterwagen mehr geschmückt, und man muss nicht Rücksicht darauf nehmen, wann die Bauern neben der Feldarbeit Zeit haben. Heute gibt es dafür andere Hürden, die nicht minder hoch sind. Ein Besuch im Zoo kostet Geld, und da müssen »Mittel beantragt werden«. Zuschüsse. Es müssen Genehmigungen eingeholt und Impfpässe kontrolliert werden, Erlaubnisse von Eltern eingeholt und Formulare ausgefüllt werden. Frau Westermann berief eine außerordentliche Elternversammlung ein, auf der alles bis ins Detail besprochen wurde.

»Sie haben es gut«, seufzte Frau Westermann, »Sie müssen da nicht teilnehmen.«

»Aber warum denn nicht? Ich komme gern!«

Frau Westermann guckte mich an, als hätte ich mich gerade freiwillig zu so was wie einer Dschungelprüfung gemeldet, und wenn ich gewusst hätte, wie schlimm das wird, wäre ich wohl an dem Abend zu Hause geblieben.

Auch Ariane hatte mich gewarnt. Sie kennt Elternabende vom Kindergarten, aber selbst da ist es nach ihren Worten schon »der Vorhof zur Hölle«, und nach allem, was sie gehört hat, soll es in der Grundschule noch schlimmer sein. Seit Lisbeth ein Schulkind ist, sieht Ariane immer zu, dass sie die Teilnahme an Elternabenden an Stefan delegiert. Im Kindergarten wurde sie nämlich einmal um Haaresbreite zur Elternsprecherin gewählt und musste eine Vorstrafe vortäuschen, um drum herumzukommen. »Die Frage ist nur: Trinkt man vorher schon oder erst hinterher, Tante Renate«, gab sie mir warnend mit auf den Weg, und leise murmelte sie noch: »Oder auch während …« Ich sollte das nicht hören, weil sie sich bestimmt Sorgen machte, ich könnte meinen Korn mitnehmen und negativ auffallen, aber ich hörte es doch!

»Negativ auffallen« ist ja einer ihrer Lieblingsausdrücke. Kirsten sagt ständig, dass ich an meinen Zucker denken soll, und Ariane warnt mich davor, negativ aufzufallen. Pah!


Frau Westermann ließ die aufgeregten Eltern erst mal auf den kleinen Kinderstühlen Platz nehmen, sodass die sich fühlten wie das Schneewittchen, als es zum ersten Mal ins Häuschen der Zwerge kam, und ordnete dann an, dass sich jeder selbst aus Knete basteln solle. Die Eltern sollten glauben, Frau Westermann hätte genauso einen Knall wie Frau Schlode, nur dass sie keinen Singe-Flitz, sondern ein Bastel-Faible hatte. Frau Westermann tat so, als wäre es eine zauberhafte Idee, den Kindern Selbstbildnisse ihrer Eltern als Gruß für den nächsten Morgen auf den Tischen zu hinterlassen. In Wahrheit lachte sie in sich hinein und ließ den Quatsch nur machen, um die diskussionsfreudigsten Helikopter zu bändigen und um Zeit zu schinden. Um mich herum wurde wie wild auf die Knete eingeschlagen, dass ich regelrecht erschrak. Als Frau Westermann mir zuzwinkerte, musste ich einmal so lachen, dass mir fast die Prothese rausgerutscht wäre. So eine Gerissene war das! Also, die Westermann, nicht die Prothese. Die war schlecht mit Haftcreme verleimt.

Der Vati von Oskar war wohl eher praktisch veranlagt und für so einen Blödsinn wie »Der Papa knetet sich selbst« gar nicht zu haben, deshalb protestierte er laut und wollte nach Hause gehen. Er hatte sich aber so auf den kleinen Stühlen verkeilt, dass sein Bein eingeschlafen war und er nicht hochkam. Eine der Primel-Muttis war dagegen so geschickt, dass sie für »dreimal die Kleinen zum Einrad-Training mitnehmen« anfing, Knetfiguren zu verschachern. Oskars Vater weigerte sich jedoch, bei dem Tauschhandel mitzumachen, und schimpfte, das sei unter seiner Würde. Lieber hinterließ er seinem Filius eine Art Hundehaufen auf seinem Platz.

So war schon eine gute halbe Stunde um, und die Stimmung war recht aufgeheitert, als es richtig losging mit der Versammlung. Langsam wirkten auch die Fehlhaltungen durch das Sitzen auf den Zwergenstühlen, und die Ersten klagten über eingeklemmte Nerven, verkantete Wirbel und Bandscheibenprobleme. Sie waren aber durch ihre Sitzpositionen gefangen. Es war ungemütlicher als in der Holzklasse beim Billigflieger, trotzdem wurde Frau Westermann erst mal von oben bis unten gemustert, ob sich wohl nicht ein Bäuchlein unter ihrem Pullover abzeichnete. Es war die größte Angst einiger Hubschraubermuttis, dass sie wegen Schwangerschaft ausfallen könnte und ihre verhätschelten Kinder sich an eine andere Lehrerin gewöhnen müssten. Frau Westermann hatte mich vorgewarnt und verraten, dass sie aus diesem Grund zur Elternversammlung immer ganz enge Sachen anzieht, ich solle mich nicht wundern.

Wundern … mich wunderte aber in diesem Schulzirkus schon lange gar nichts mehr!

Die Eltern kannten sich zwar untereinander, aber fast nie mit Nachnamen. Ich fand das sehr amüsant, wissen Se, es ist im Grunde das Gegenteil von dem, wie wir alten Leute miteinander umgehen. Bei Gertrud im Haus wohnt zum Beispiel eine Etage tiefer die Frau Nickel. Frau Nickel ist wohl ungefähr unser Alter, und Gertrud kennt sie seit – ach, es sind wohl bald fuffzich Jahre! Trotzdem siezen sie sich bis heute, sie sprechen sich immer mit »Frau Nickel« und »Frau Potter« an. Als Gertrud Gunter Herbst geheiratet hat, gratulierte Frau Nickel ein paar Tage später höflich, überreichte Konfekt und einen Blumenstrauß (keinen großen, der kam höchstens auf zehn Euro) und erkundigte sich, wie sie sie nun in Zukunft ansprechen dürfe. Gertrud hat den Namen Potter beibehalten, weil der schon auf dem Grabstein neben dem Namen von ihrem Gustav eingemeißelt ist. Der Steinmetz hat nur noch das Sterbejahr offengelassen. Das wäre nun die Gelegenheit gewesen, zu sagen: »Frau Nickel, nun wollen wir mal einen Schnaps trinken und Du sagen nach all den Jahren, ich bin die Gertrud.« Hat sie aber nicht! »Ich heiße weiterhin Potter, Frau Nickel. Ach, die schönen Blumen! Nun legen Sie erst mal ab, und setzen Sie sich, ich hole uns einen Likör, wir wollen doch anstoßen.«

Die Muttis und Vatis duzten sich hingegen und sprachen sich statt mit Namen mit »du, Papa von …« und »du, Mama von …« an.


Sie haben ja keine Vorstellung, wovor die Leute heute Angst haben. Meine Generation wurde noch so erzogen, dass man kräftig aß, um zuzusetzen und in schlechten Zeiten was auf den Rippen zu haben. Später dann sorgten wir uns um die Atomraketen, um Drogentote oder um das Waldsterben. Wissen Se, was heute die größte Bedrohung der Menschheit ist? Weißmehl. Jedenfalls, wenn es stimmt, was die Mutti von Arne von sich gab. Sie zettelte eine Diskussion über das Schulessen an, die sich sehr zäh eine gefühlte Ewigkeit hinzog und uns die Nerven raubte. Es ging im Wesentlichen darum, dass gesund, warm, reichlich, frisch und bio gekocht wird und dass das Ganze nichts kosten darf, was alles zusammen natürlich nicht aufgeht. Das ist wie ein Gummiband, das im Kreis hingelegt wird und an dem nun ganz viele Leute in alle möglichen Richtungen zerren. Die Arne-Mama hatte auf jeden Fall Weißmehl als schlimmste Bedrohung der Menschheit ausgemacht und bestand darauf, dass ab sofort unbedingt Vollkornnudeln gereicht werden, am besten aus frisch geschrotetem Dinkel. Sie hatte eine Schrotmühle, was mich nicht überraschte, und auch gute Kontakte zu einem Biobauern, mit dem zusammen sie … hören Se mir auf! Ich saß wie auf Kohlen und musste mir auf die Lippen beißen, dass ich nicht was sage. Aber ich hatte Frau Westermann auf das Klassenbuch schwören müssen, dass ich still zuhöre und »unter keinen Umständen, egal was passiert, Frau Bergmann!« ein einziges Wort sage. »Ich habe die Telefonnummer Ihrer Tochter!«, drohte sie. Ich hatte keine Ahnung, woher zum Henker sie von Kirsten wusste und wie sie an deren Nummer gekommen war. Das fehlte mir gerade noch. Da hielt ich wohl wirklich besser den Mund.

Es waren Wortmeldungen dabei, die ich nicht geglaubt hätte, hätte ich sie nicht mit eigenen Ohren gehört. Ein Vater fragte tatsächlich, was aus seinem Antrag, dreilagiges Toilettenpapier auf dem Schullokus auszulegen, geworden war. Eine Mutter brachte das leidige und unappetitliche Thema der baufälligen Toiletten ganz allgemein zur Sprache. Dazu hatte sie das Recht, das war korrekt und laut Frau Westermann ein Klassiker auf jeder Elternversammlung. So was gehört aber auch immer und immer wieder ins Protokoll, obwohl das ja auch keiner liest, der für die Bautätigkeiten Verantwortung trägt. Die Toiletten waren wirklich ganz schlimm. Es wird ja viel darüber geschrieben und berichtet, dass auf den Schulklos der Putz von den Wänden bröselt. Das war an unserer Schule nun nicht so, aber der Putz war so ziemlich das Einzige, das nicht abfiel. Ich will gar keine Einzelheiten beschreiben, das wäre zu unappetitlich. Nur so viel: Ich hatte schon mal einen Notfall unterwegs, als Kurt die falsche Autobahnauffahrt genommen hatte und Ilse erst kurz vor Hannover glaubte, dass Leipzig doch in der anderen Richtung liegt, bevor wir wendeten. Also, nicht wendeten, kriegen Se keinen Schreck. Wir sind nicht zu Geisterfahrern geworden, sondern sind vorschriftsmäßig auf der Mittelspur mit bald siebzig Sachen bis zur nächsten Ausfahrt gedüst, haben dort umgefädelt und sind nach Berlin gesaust. Jedenfalls musste ich damals so dringend austreten, dass ich nicht bis zu Hause warten konnte – Kaffee treibt bei mir immer so, wissen Se. Und diese Örtlichkeit an der Autobahn, die war nicht so schlimm wie die Schülertoilette hier. Es lag natürlich auch an den Kindern, die da … also, nicht jeder traf richtig. Aber so runtergekommen, wie der Abort war, konnte man auch nicht verlangen, dass die sich da brav hinsetzen. Für uns vom Lehrpersonal gab es eine Extratoilette, und ich hatte immer fast ein schlechtes Gewissen, wenn ich dahin »verschwinden« ging. Da ging es, obwohl die Frau von Kießling vom Gymnasium die Spülung nicht richtig betätigte! Ich weiß das genau, die kam nämlich mal aus der Tür, als ich draufgehen wollte. Da habe ich es gesehen: Gespült war, aber es war alles mit Wasser bespritzt an der gekachelten Wand. Als ob die olle Faltenrock-Elster mit der Toilettenbürste den Segen gespendet hätte wie der Herr Pfarrer mit Weihwasser. Man möchte gar nicht wissen, was die gemacht hat. Aber mich wunderte es nicht, wer mit solchen hochhackigen Schuhen durch die Schule stöckelt und dabei für sein Alter unangemessen aufreizend mit dem Steiß wedelt, der kann sich eben auch auf der Toilette nicht ordentlich benehmen.

Früher in der Volksschule hatten wir draußen auf dem Hof das Häuschen zwischen Turnsaal und Schule. Davor war eine Wasserpumpe, an der man sich die Hände waschen konnte. Da musste immer jemand mit, der den Schwengel der Pumpe runterdrückte, jedenfalls in den ersten Jahren, als wir noch kleine Mädchen ohne Kraft in den Oberarmen waren. Ich weiß noch, wie Gertrud fast wie eine Elfe auf dem Pumpenschwengel ritt, während ich mir die Finger wusch. Dass die nach dem Toilettengang gewaschen wurden, das kontrollierte der Herr Lehrer penibel. Hygiene war wichtig, auch wenn die Örtlichkeiten primitiv waren. Natürlich durften wir nur in der Hofpause austreten und nicht in der Stunde, so was hat es nicht gegeben. »Du hattest in der Pause genügend Zeit, jetzt musst du es einhalten!« Den Satz habe ich bis heute im Ohr.

Diese Mutti hier schlug jedoch allen Ernstes vor, dass jemand vom Lehrpersonal beim Austreten mitgeht, den Kindern die Brille mit Papier auslegt sowie den Po mit feuchtem Toilettenpapier abwischt. Daraufhin entspann sich eine Diskussion darüber, welche Eltern ihren Kindern noch unterstützend auf den Abort folgen, und wenn ja, welche Techniken und Tücher angewandt wurden. Ich guckte zu Frau Westermann, um mich zu vergewissern, ob ich wirklich hier und nicht in einem schlechten Traum war. Hinterher erzählte sie mir, dass sie diese Diskussion mit Absicht zugelassen hatte, um eine gewisse Ermüdung herbeizuführen. Nach ihrer Erfahrung verlieren nach drei Stunden auch die besorgtesten Helikoptereltern die Nerven und gehen nach Hause, ganz egal, worüber geredet wurde.

Wissen Se, ich habe mich immer gefragt, warum die jungen Frauen während der Schwangerschaft alle zum Hecheln rennen und sich im Atmen schulen lassen. Seit Jahrhunderten haben wir Frauen das mit dem Luftholen beim Gebären auch ungeschult hinbekommen, und ich dachte mir, das wäre eine neumodische Quatsch-Erscheinung, weil die zu viel Zeit und Lageweile haben. Jetzt, wo ich hier in der Schule zu tun hatte, begriff ich: Das professionelle Atmen braucht man in den späteren Jahren. Das ist die Vorbereitung auf das, was in den Elternversammlungen in der Schule kommt!

Ich zählte zur Beruhigung die Kastanienmännchen in der Vitrine hinter mir. So was schimmelt ja gerne mal, aber die hier waren schon knochentrocken. Daran wurde regelmäßig das Schildchen ausgetauscht: Mal war es ein Beitrag für »Jugend forscht«, mal war es ein Umweltprojekt und mal ein Integrationsprojekt, je nachdem, wer Kontrolle machen kam. Es war ja gar keine Zeit für so was bei all dem Stundenausfall.

Nach der Toilettendebatte ging es noch um den Ausflug. Bei dem Gedanken, dass ihre kleinen Engelchen nur mit der Klasse und der Lehrerin verreisen sollten, bekamen manche Eltern schon schwitzige Hände und Herzklabaustern. Als Frau Westermann die Katze aus dem Sack ließ und schon mal ankündigte, dass die Fahrt im nächsten Jahr sogar mit Übernachtung wäre, na, da war es aus. Es gab tumultartige Zustände, und sie überlegte kurz, den Sicherheitsdienst zu rufen. Frau Kröger brüllte als Erste und am lautesten, dass sie unabhängig vom Elternbeirat mitreisen würde und keine Diskussion darüber zuließ. Maja-Petunia könnte ohne die Mama nicht einschlafen, gab sie zu Protokoll, und Frau Westermann solle jetzt schon mal notieren, dass für sie und ihre Tochter ein Doppelzimmer zu buchen war. Danach stand sie auf und ging. »Ich lasse da nicht mit mir diskutieren und weiß schon, dass Sie mich jetzt fertigmachen wollen. Das höre ich mir nicht an. Einen schönen Abend!«, rief sie im Gehen aus, bevor sie polternd den Klassenraum verließ.

Es wurde dann gar nicht groß über die Krögersche diskutiert. Nicht, weil kein Bedarf gewesen wäre, sondern weil Frau Westermann gleich bestimmt ansagte, dass sie das mit Frau Kröger im direkten Gespräch klären würde und dass das jetzt und hier nicht der Ort und die Zeit dafür sei. Es wäre ja auch noch ein ganzes Jahr Zeit, bis dahin würde die Maja vielleicht auch allein durchschlafen. Es begann dann ein Austausch von Sorgen darüber, ob wohl Hühner auf dem Bauernhof wären, der das Ausflugsziel sein sollte. Hühner würden eventuell die Vogelgrippe übertragen, merkte eine Mutti an, und dann gab es noch den Torben-Atilla, der Angst vor Hühnern hatte, seit er mal gepickt worden war. Frau Westermann richtete – sehr geschickt, wie ich finde – einen Arbeitskreis unter Leitung der Vogelgrippen-Mutti ein, die die Hühnerfrage direkt mit dem Bauernhof klären sollte.

Dann wies sie darauf hin, dass wir jetzt nur über einen Zoobesuch sprachen, dass wir mit dem Linienbus fahren und dass es wirklich reichte, wenn zwei Elternteile mitkommen würden. Sie schlug vor, diese im Losverfahren zu bestimmen, was sofort eine Frau auf den Plan rief, die sich als Rechtsanwalts- und Notarangestellte zu erkennen gab und verlangte, dass bei der Auslosung jemand Neutrales dabei war. Familie Hussel, die bei der Auslosung nicht gezogen worden war, kündigte an, mit dem Auto hinter dem Bus herzufahren, für den Fall, dass was passierte und die kleine Pernilla erkrankte.

Ich sage Ihnen, ich war geheilt. Wenn Frau Westermann noch mal anbieten würde, mich von der Elternversammlung zu befreien, würde ich das nicht ausschlagen. Frau Schlode hatte vor einiger Zeit zu mir gesagt: »Eltern muss man meiden, Frau Bergmann. Sie sind eine Begleiterscheinung von Schülern, und man sollte den Umgang meiden, solange es nur möglich ist. Die machen nicht nur Arbeit, sondern auch Ärger!« Damals hielt ich das für ein sehr hartes Urteil, aber so langsam entwickelte ich ein gewisses Verständnis für diese Position.

Eltern wollen natürlich immer das Beste für ihre Kinder, das hat die Natur so eingerichtet, und es ist auch gut so. Aber wissen sie denn immer, was das Beste ist? Ich habe da meine Zweifel. Die Begabungen liegen bei jedem Kind woanders, und bei manchen Kindern eben eher im Praktischen als beim Aufzeichnen von Molekülstrukturen. Ob es da immer Sinn macht, sie zu triezen und unter allen Umständen auf das Gymnasium zu scheuchen? Man muss da genau hingucken. In vielen Kindern steckt wirklich mehr, und sie sind nur verspielt, verwöhnt und auch ein bisschen faul. Mit ein bisschen Druck und der richtigen Förderung werden das fleißige und pfiffige Schüler, die einen kleinen Schubs brauchen, um den richtigen Weg zu finden. Aber der sogenannte »richtige Weg« ist eben für jeden Jungen und jedes Mädel ein eigener und muss nicht zwangsläufig dreizehn Jahre lang durch die Flure der Gymnasien führen. Den passenden Weg sollte jeder junge Mensch selbst erkunden und finden, und weder die Eltern noch die Lehrer wissen es besser, auch wenn sie das glauben. Sie sind dazu da, die richtigen Hilfen zu geben und zu lotsen, aber finden muss diesen Weg jedes Kind selbst. Das ist aber gar nicht so leicht für Eltern, das zu begreifen, weil die, wie ich schon sagte, natürlich ausnahmslos das Beste für ihren Nachwuchs wollen. Zur Erziehung gehört eben nicht nur, dass die Kinder was lernen, sondern auch, dass die Eltern etwas lernen, und sei es, dass man die Kleinen ruhig mal alleine auf die Toilette gehen lassen kann.

Es wurde festgelegt, dass jedes Kind mindestens fünf, höchstens jedoch zehn Euro Taschengeld mitkriegen sollte. Allein darüber entspann sich am Elternabend eine Diskussion bis kurz nach halb elf in der Nacht. Ein bisschen Geld musste sein, damit sie ein Eis essen konnten. Wobei auch das nicht so klar und einfach war, wie ich es jetzt hier hinschreibe. Da wurden Recherchen im Onlein angestellt, ob es wohl auch zuckerfreies Eis ohne Kuhmilch gibt und ob die Fruchtzugaben naturbelassen und bio waren. Ich hätte das nicht geglaubt, wenn ich es nicht miterlebt hätte, aber Frau Westermann musste eine Liste anlegen und für jedes Kind notieren, welches Eis es darf und wie viele Kugeln. Eine Vertrauensabgeordnete des Helikopterflügels aus den Reihen der Eltern wurde gewählt, die zusätzlich mit in den Zoo kommen und die Einhaltung der festgelegten und genehmigten Eisversorgung überwachen sollten.


Nach mehreren Wochen waren alle Stempel und Einwilligungen beisammen, und es ging los.

Wir trafen uns am Morgen des Zoobesuchs nicht an der Schule, sondern direkt an der Bushaltestelle. Wissen Se, wir haben ja in Berlin den großen Luxus, dass alle zehn oder manchmal sogar alle fünf Minuten ein »großer Gelber« kommt. Das ist anders als in kleineren Städten oder auf dem Land, wo nur einmal die Woche ein Bus in die Kreisstadt fährt.

Und in der Woche darauf wieder zurück.

Wir Berliner meckern schon, wenn die Taktung zehn Minuten ist und nicht fünf. Ich mahne da zur Bescheidenheit. Verabredet war, dass pünktlich um halb neun alle Kinder an der Bushaltestelle waren. Frau Westermann war die Erste, sie war sogar noch vor mir da. Als ich um kurz nach acht ankam, lauerte sie schon mit ihrem Klemmbrett und hakte mich ab. »Frau Bergmann, heute müssen wir starke Nerven haben. Wir dürfen im Getümmel kein Kind verlieren!«

Ja, was dachte die denn von mir? Dass ich zufrieden mit den Schultern zucke, wenn wir ungefähr 80 Prozent der Kleinen wieder gesund nach Hause bringen, und dann sage: »Mit ein bisschen Schwund ist eben zu rechnen?« »Dieses nervöse junge Ding macht sich ganz umsonst verrückt«, dachte ich. Ich sollte eines Besseren belehrt werden.

Nach und nach trudelten die Kinder ein. Manche kamen mit einem anderen Bus, manche kamen zu Fuß. Der kleine Malte sprang seinem Vater während der Fahrt aus dem Beiwagen des Lastenrads, weil die Bremsen kaputt waren. Die meisten wurden jedoch mit dem Auto gebracht.


Um so eine Bushaltestelle herum ist ja aus gutem Grund Parkverbot, aber wissen Se, was so eine richtige Hubschraubermutti ist, die hat im Kopf so eine »Das gilt aber nicht für mich!«-Zone. Die schaffen es tatsächlich, irgendwie zu glauben, dass Verkehrsschilder für sie nicht gelten, wenn sie ihren Nachwuchs zum Bus kutschieren. Das ist diese Rücksichtslosigkeit, die ich einfach nicht verstehen kann. Sie ahnen ja nicht, was da in kürzester Zeit los war! Als nur vier hochachsige Dschiep-Autos dastanden, ging es noch, aber dann kam ein Bus aus der einen Richtung und ein Lkw aus der anderen. Hinter dem Bus folgten zwei weitere Kinderzubringer, und Frau Eberzahn versuchte auf dem Gehweg zu wenden. Die ersten Hupen ertönten, und zu allem Überfluss kam auch noch der Habicht mit dem Fahrrad an. Wie ein Derwisch sprang der vom Drahtesel und schrie und fuchtelte mit den Armen. Und dazwischen noch die hupenden Autos und Frau Westermann mit dem Klemmbrett, die verzweifelt versuchte, einen Überblick über die Anzahl der anwesenden Kinder zu bekommen.

Worauf hatte ich mich hier bloß eingelassen? Wenn ich mit Gertrud in den Zoo gehe – wir haben beide eine Jahreskarte mit Rentnernachlass –, ist das größte Problem, ob sie wohl schon austreten war. Aber hier ging bereits alles drunter und drüber, bevor wir überhaupt im Bus waren! Die Uhr zeigte gleich neun, und wir waren schon eine halbe Stunde zu spät. Habicht schrieb die Autos auf und drohte den Fahrerinnen – ja, fast alles waren Frauen! – mit Anzeige, weinende Hubschraubermuttis drückten ihren Kindern im Abschiedsschmerz Küsse auf die Wangen, und Frau Westermann hatte wohl jedes Kind schon zwölfmal abgehakt. Sie fragte mich, wie viele ich zähle. Ach du je! Jetzt? Na, ich begann einfach ein paar der Kleinen auf den Kopf zu tippen und rief laut: »… siebzehn … achtzehn … neunzehn …«. Das reichte schon, von da an übernahm Frau Westermann und fuhr fort: »… zwanzig … einundzwanzig … so Kinder, da kommt der Bus, alle aufstellen, in Zweierreihen … Erst lassen wir die Frau mit dem Kinderwagen einsteigen und die Dame mit der Krücke, dann wir … vierundzwanzig. Ja, wir müssten komplett sein, oder Frau Bergmann?«

»Ja. Das denke ich auch.«

Ach du liebe Güte, woher sollte ich das denn wissen? Haben Sie schon mal vierundzwanzig Kinder gezählt? Es ist einfacher, zu schätzen, wie viele Linsen in der Tüte mit 500 Gramm sind! Noch dazu, wo sie alle gleich heißen. Lisa-Lina-Lena-Leila-Lilly-Laura plus Balkonpflanze. Kaum hat man sich ein Gesicht gemerkt und dass der Name mit L anfängt, tauschen sie auch noch ihre Mützen, weil sie beste Freundinnen sind beim Schulausflug, ich bitte Sie, wer soll da noch den Überblick behalten? Auch im Bus konnte man nicht gut zählen. Das ist bei uns Rentnern einfacher, im Reisebus sitzen wir auf Zweiersitzen, und der Reiseleiter muss nur von hinten nach vorn durchgehen, mit dem Zeigefinger in die Luft tippen und murmeln. Wir sind mal an einen geraten, der nach dem Zählen sehr gemein sagte: »28-mal Blumenkohl und 21-mal Melone, wir sind komplett!« Sehr ungezogen! Der soll mal in unser Alter kommen, dann hat er auch eine Glatze. Und von wegen Blumenkohl, pah! Gertrud hatte extra Silberspülung machen lassen und schimmerte ganz elegant bläulich. Zeigen Se mir mal Blumenkohl, der blau glänzt! So ein Flegel. Dem gaben wir kein Trinkgeld, und Gertrud ging auf der Rückfahrt austreten im Bus.

Und sie hatte Spargelsuppe zum Menü!

Wir hatten aber keinen Reisebus, sondern fuhren mit der Linie, und da saßen und standen die Kinder überall verteilt, wo gerade Platz war. Immer, wenn ich bis fünfzehn gezählt hatte, kam wieder eine Haltestelle, und die Kleinen setzten sich um, weil nun neben Leila-Lilly-Luna was frei geworden war, und ich konnte von vorne anfangen zu zählen. Es war aussichtslos, und man konnte nur hoffen, dass wirklich alle da waren. Eine garstige Frau beschimpfte uns im Bus und krakeelte, warum wir schon wieder einen Wandertag machen müssen. Das sei unerhört, und ob es nichts zu lernen gebe. Zu ihrer Zeit sei das anders gewesen. Der kleine Johannes parierte ihr aber und sagte: »Zu Ihrer Zeit ist man auch noch mit Pferdekutsche gereist!«

Ob der meine Gedanken hat lesen können, als ich über meinen Schulausflug sinnierte?


Als wir aus dem Bus raus waren, war ich schon fix und fertig und hoffte, dass wir nun einen gemütlichen Spaziergang entlang der Gehege machen würden. Aber eine Horde kleiner Geister ist nun mal was anderes als Gertrud, mit der ich so manchen Sonntag dort promeniere. Bevor wir reingingen, zählte Frau Westermann noch mal nach. Dieses Mal klappte es, sie kam auf vierundzwanzig. So viele sollten es auch sein. Ich atmete erleichtert auf, dass wir niemanden im Bus vergessen hatten und auch nicht ein falsches Kind aus dem Bus mitgenommen hatten. Ja, lachen Se nicht, das hätte im Gedränge alles passieren können!

Zu uns gesellte sich die Frau Seidel, die vom Elternbeirat zur Überwachung des Eisessens als Begleitung abkommandiert worden war. Fragen Se mich nicht, warum die nicht mit dem Bus mitgefahren war. Wahrscheinlich wusste sie besser als ich, was da auf einen zukommt.

Noch stand Eisessen aber nicht an, denn schließlich waren wir hier, um Tiere anzugucken. Die Kinder tobten aufgeregt los, und Frau Westermann war damit beschäftigt, ständig hinterherzurufen, dass nicht gerannt, geschubst und gefälligst zugehört werden soll. An jedem Gehege oder Käfig machten wir halt, und der Reihe nach musste ein Kind vorlesen, was auf den Schildern über die Viecher geschrieben stand. Das schulte nicht nur das Wissen über die Biologie, sondern auch noch das flüssige Lesen. Da haperte es bei einigen, eine kleine spielerische Übung konnte nicht schaden.

Die Gehege sind ja heute alle artgerecht, was sehr zu begrüßen ist. Das führt allerdings dazu, dass fast keine Tiere zu sehen sind, weil sie in ihren Gehegen Rückzugsmöglichkeiten haben und sich auch gern im Schatten schlafen legen. Die Bären nicht, die lagen gelangweilt auf einem Felsen, und zwar exakt so, wie Stefan immer auf der Couch rumlungert, wenn er Skispringen guckt.

Ach, wir haben nichts ausgelassen. Wir besichtigten die liebevoll gestalteten Gehege von vielen artgerecht gehaltenen glücklichen Viechern aus aller Herren Länder. Manchmal sahen wir sogar ein Tier, das vergessen hatte, sich zu verstecken. Bei den Pandabären hatten wir Glück, die waren draußen, ebenso die Giraffen, die Elefanten, die Papageien und die Erdmännchen.

Von den Erdmännchen sind ja alle so begeistert! Jeder findet die süß. Ich weiß gar nicht, woher das kommt. Soweit ich mich entsinne, waren die Leute früher nicht so verrückt nach Erdmännchen. Wir wollten Elefanten sehen und Giraffen, Löwen und Tiger! Heute zirpen sie alle »Ach wie süüüüüß!« und bleiben ewig bei den Erdmännchen stehen. Es ist ungerecht, dass die so beliebt sind, wenn Se mich fragen. Die machen doch nichts! Sie hocken unter ihrer Wärmelampe, frieren selbst bei sommerlichen Temperaturen und gucken gelangweilt in der Gegend rum. Fast wie Frau Berber beim Arbeitseinsatz der Hausgemeinschaft, nur dass die niemand niedlich findet. Es gab aber erst mal keine besonderen Vorkommnisse, außer dass die kleine Primel-Petunia ihre Stulle mit Biofantenwurst an die Erdmännchen verfütterte. Die sind ja sehr mäkelig und fressen fast nur Insekten, deshalb verschmähten sie die Stulle. In dem Punkt unterscheiden sie sich von Frau Berber, die lässt nichts auf dem Teller. Na, ein Tierpfleger machte ein ordentliches Donnerwetter, und es gab tüchtig Schimpfe, dass das Füttern verboten sei und wir hier gleich allesamt rausfliegen, wenn so was noch mal passiert. Man muss das verstehen, Erdmännchen sind nicht dafür gemacht, Stulle zu essen. Davon bekamen die Verstopfung, genauso wie Malve-Sophie vom Radiergummi.

Es herrschte kurz ernste Stimmung, weil sich die Angst breitmachte, wir würden des Zoos verwiesen, aber der kleine Alda-Titus brachte alle wieder zum Lachen, als er vorschlug, einen der Otter auf den Namen »Otter Waalkes« zu taufen. Nee, was haben wir uns amüsiert über den frechen kleinen Clown!

Erlaubt war das Füttern jedoch im Streichelzoo. Unser Primelmädchen war traurig, weil es seine Stulle schon den Erdmännchen vorgeworfen hatte. Eines der La-Le-Lu-Mädchen fiel in den Schmutz, nachdem ein hungriges Zwergzicklein in ihrer Tasche Futter erschnuppert hatte und wie ein Stier auf sie losgerannt war. Plumps, da lag sie, und die Tränchen flossen. Ich tröstete sie und tupfte ihr die Äuglein trocken, aber da brüllte sie schon wieder, weil es ihr angeblich brannte. Nichts mehr gewohnt, die kleinen Blagen, nicht mal ein paar Spritzer Kölnisch Wasser im Taschentuch!

Wir waren dann noch bei den Pumas, bei denen roch es aber wie in der Achten nach der Turnstunde. Da hielten wir uns nicht lange auf. Plötzlich standen wir vor dem Schlangenhaus, und ich muss Ihnen sagen, das war mir auch nicht ganz geheuer. Ich habe keine Angst vor Hunden und auch nicht vor Mäusen, wie meine Freundin Ilse zum Beispiel. Die hockt kreischend auf dem Tisch, wenn Katerle ihr so ein klitzekleines niedliches Mäuschen als Zeichen seiner Liebe vor die Füße legt. Aber bei Schlangen kriege auch ich eine Gänsehaut. Wahrscheinlich sind Schlangen wirklich liebe und angenehme Tiere, vor denen man keine Angst haben muss. Man müsste sich nur mal überwinden und sie vorsichtig streicheln, dann wäre die Angst vorbei … aber nee. Ich mache schon genug Dummheiten, wenn man Kirsten glauben darf, man muss im Alter nicht mehr jeden Blödsinn ausprobieren. Weder streichle ich Schlangen, noch probiere ich Schnecken vom Büfett. Ich wartete deshalb auf der Bank vor dem Gebäude. Ach, tat das gut, mal kurz die Füße baumeln zu lassen! Bei so einem Bummel durch den Zoo läuft sich der eine oder andere Kilometer weg, das merkt man erst, wenn man verpustet und auf der Bank ausruht. Kaum hatte ich mich hingesetzt, hörte ich schon die Frau Westermann brüllen.

»Raus! Kinder, alle raus, sofort! Ab, zur Bank zu Frau Bergmann! Züntja! Luisa! Raus!«

Du liebe Güte, was war denn bloß passiert? Frau Westermann war ganz blass und fing sofort wieder an zu zählen. Während sie »… achtzehn, neunzehn …« vor sich hin murmelte, rief Krassalda-Jan: »Die Schlange hat gerade eine Ratte runtergewürgt. Sooooo ein dickes Vieh!« Es klang wie das Drehbuch für einen Gruselfilm!

Frau Westermann unterbrach die Zählung.

»Wir wollen uns nicht vorstellen, was bei der nächsten Elternversammlung los ist, wenn eines der Kinder DAS zu Hause erzählt, Frau Bergmann! Ich sehe es schon kommen, ich bin dann schuld, weil sich da psychische Traumata festsetzen und nachts eingenässt wird! Jetzt muss ich von vorn anfangen zu zählen, helfen Sie doch mal bitte! Bleibt jetzt stehen, Lorelei! … drei, vier … sieben!«

Ich sagte nichts und zählte, wie mir geheißen wurde. Sowohl Frau Westermann, die Eisaufsicht Frau Seidel als auch ich kamen nur auf dreiundzwanzig. Wir zählten sicherheitshalber die Köppe noch mal nach, wissen Se, manchmal erfasst man ja einen Doppelnamen falsch, aber so oft wir auch zählten, es blieben dreiundzwanzig.

Frau Westermann wurde ganz nervös. Also, noch nervöser, als sie den ganzen Tag schon war. Sie holte ihr Klemmbrett und hakte ab, aber noch bevor sie durch war, hatte die Lorelei entdeckt, dass ihre neue beste Freundin Pernilla-Petunia weg war. Die kleine Primel, die vorhin die Biofantenwurststulle den Erdmännchen füttern wollte.

Wir ließen die Kinder erst mal in Zweierreihen antreten und sich an die Hand fassen, damit nicht noch eins wegkommt, und schwärmten dann zur Suche aus.

Die große Boa, die kurz zuvor die Ratte gefressen hatte, schlängelte sich ins Fenster. Sie hatte eine große Beule auf einem guten halben Meter, da, wo man denken könnte, es wäre der Bauch. Ich zog die Schnute spitz und schätzte. Aber beim besten Willen, das konnte nicht durch das Verschlingen eines Kindes von gut acht Jahren gekommen sein. Nein, nein. Das war die Ratte.

Ich sagte nichts.

Im Gegensatz zu Krassalda-Jan, der auf einmal rief: »Guckt mal, der Löwe hat ein ganz blutiges Maul und einen riesigen Knochen!«

»JAN! Also wirklich! Hör auf, solche Horrorgeschichten zu erzählen!«, schimpfte ihn die Westermann. Mir wurde jedoch auch ganz mulmig. Umso größer war unser aller Erleichterung, als die kleine Abgängige auf einmal um die Ecke geschlendert kam.

Frau Westermann zischte mir zu, dass wir kein großes Aufheben um die Angelegenheit machen sollten, damit zu Hause kein Kind erzählt, dass die Primel kurz verschwunden gewesen war. »Nun aber rasch, Pernilla, wir wollen weiter!« Pernilla-Petunia war noch mal bei den Erdmännchen gewesen, hatte sich beim Tierpfleger entschuldigt und ihre Biofantenwurststulle zurückverlangt, weil sie die nämlich an die Zicken und Schafe im Streichelgehege verfüttern wollte. Das durfte jedoch auch nicht sein, denn den Viechern sollte nur extra gekauftes artgerechtes Futter aus einem Automaten verabreicht werden. Eine Handvoll kostete jedoch fünf Euro, was jegliche Diskussion erübrigte. Es gab aber kein großes Gequengel, denn Frau Westermann zog den Joker und verkündete: »Kinder, nun wollen wir alle Eis essen gehen!«

Na, da waren aber alle ganz fix am Büdchen. Nun kam der große Auftritt von Frau Seidel, die ja eigens vom Elternausschuss geschickt worden war, um zu überwachen, dass auch jedes Kind das richtige Eis in der korrekten genehmigten Menge zu sich nahm. Sie hatte eine sehr lange Liste mit Anweisungen der Eltern dabei und stellte sich an die Ausgabe des Büdchens. Sie sagte jedem Kind an, was es bestellen darf. Manche guckten erst mal traurig, aber die Frau Seidel hatte die Rechnung ohne die Kinder gemacht. Weil nämlich Klassenausflug war und alle die Sitznachbarn und Freunde gewechselt hatten, tauschten sie nicht nur die Mützen, sondern auch ihr Eis nach Herzenslust untereinander aus. Frau Westermann und ich leckten unsere Kugeln und grinsten in uns hinein. Dafür konnte nun wirklich keiner was, schließlich war extra eine Hubschraubergesandte dabei, die nur diese eine Aufgabe hatte!


Ich war froh, als ich an dem Abend zu Hause war, das sage ich Ihnen, wie es ist. Wir hatten tatsächlich alle vierundzwanzig Kinder ohne größere Mängel wieder ihren Eltern übergeben. Wir haben den ganzen Tag gezählt. Die mussten ja zwischendurch auch ständig austreten! Im Schwimmbad müssen se nie, aber hier im Zoo drängelte ständig ein Kind, dass es mal verschwinden muss. Da musste natürlich hinterher wieder nachgezählt werden. Sehr anstrengend war das, das kann ich Ihnen sagen. Mützen, Haarspangen und sonstige Freundschaftsbeweise wurden noch über mehrere Tage wieder zurückgetauscht, und alle schwärmten von dem schönen Ausflug. Im Sachkundeunterricht malten die Kinder noch bis zu den Ferien hin Erdmännchen, Papageien und eine Schlange mit einer dicken Beule in der Mitte.


Ja, so hatte ich mein Tun. Die Tage flogen nur so dahin, und mit ihnen die Wochen. Ich kam mir mehr und mehr wie eine richtige Lehrerin vor. Mir ging langsam auf, dass es nicht damit getan war, vormittags den Kindern hier und da eine kleine Hilfestellung zu geben und auf dem Pausenhof zu mahnen, dass nicht so getobt wird. Es wurde vor und nach den Stunden noch geredet, erklärt und hinterfragt. Ich guckte Frau Westermann so viel ich konnte über die Schulter, wenn sie die Arbeiten korrigierte. Das eine oder andere gute Wort konnte ich doch für die Kinder einlegen und sie davon abhalten, ihr Motto »Was ich nicht lesen kann, wird nicht gewertet!« immer ganz hart durchzusetzen. Die durfte auch nicht zu streng sein. Genau wie die Kinder sich nicht dümmer stellen durften, als sie waren, durfte sie auch nicht so tun, als könnte sie das alles nicht lesen. Lehrer könnten prima bei der Kripo anheuern, bei der Abteilung für Handschriftenermittlung. Grundgütiger, was die Schüler für Sauklauen haben! Als ob eine Krähe auf dem Arbeitsblatt getanzt hat, sah das manchmal aus. Hier und da sprach ich auch mit den Kindern oder mit den Eltern, na, und wenn ich am Nachmittag nach Hause kam, guckte ich gleich erst mal im Lehrplan nach, was am nächsten Tag so dran ist, und las mich ein. Schließlich wollte ich mich nicht blamieren, wenn mir so ein Neunjähriger was weiszumachen versucht.

Da kam es mir gerade recht, dass sich zu Hause Herr Alex intensiv um das Treppenhaus kümmerte und ich da nicht noch groß reinemachen musste. Das entlastete mich wirklich sehr! Es ist nämlich sonst eine tägliche Last, das gestehe ich Ihnen ganz offen. Der Hausflur ist die Visitenkarte der Hausgemeinschaft, sage ich immer. Jeder Besucher, der reinkommt, kriegt dort einen ersten Eindruck. Wenn da schluderig gewischt ist, weiß man gleich, dass hier … unordentliche Leute hausen, die ihr Leben nicht im Griff haben. Und gerade in meinem Alter muss man ganz doll aufpassen. Ich muss immer damit rechnen, dass mal einer, der auf meine Wohnung scharf ist, die Fürsorge oder sonst was für ein Amt zum Kontrollieren schickt, ob ich wohl noch alleine zurechtkomme oder ob ich eine Betreuung brauche und ins Heim muss. Das kann schnell gehen! Zweimal nicht gebohnert, und schon habe ich einen Vormund, muss um halb sieben ins Bett, und Schwester Sabine zählt mir die Tabletten ab. Nee, nee, da muss ich Obacht geben!

Die Damen Meiser und Berber bei mir im Haus sind dabei keine große Hilfe. Die Meiser schon gar nicht, weil sie einen Bengel hat, der bereits achtzehn ist und für den sie eine Wohnung sucht. Die schielt seit Jahren schon ständig zu mir hoch, ob wohl jeden Morgen auch pünktlich die Jalousie hochgeht. Einmal hat sie den Leichenwagen bei uns in der Straße stehen sehen, da hätten Se die mal rennen sehen sollen! Umso größer war ihre Enttäuschung, dass Rachmeier sich nur einen Dönner geholt hat und ich wohlauf auf dem Balkon saß. Also, von der Seite ist keine Unterstützung zu erwarten, was die Reinlichkeit im Hausflur betrifft, und von der anderen, der Berber, sowieso nicht. In die Küche geht die nur, um sich frischen Protzecko aus dem Kühlschrank zu holen. Die kann auch nicht kochen! Selbst ihre Pizza zum Warmmachen hat sie im Ofen verkohlen lassen, und dafür hat sie sich nicht etwa geschämt, sondern kichernd der Frau Meiser im Flur erzählt: »Doris, ich habe tausend Kalorien verbrannt.« Darauf haben se mit Sekt angestoßen und gekichert. Die beiden finden immer einen Grund, sich einen Sekt »reinzuzimmern«, wie Ariane anmerkte. Kochen kann se nicht, und einen Besen hat die nur, damit sie nicht laufen muss, wenn das Auto mal nicht anspringt.

Aber der Herr Alex, das ist ein ganz anderes Kaliber. Der wohnt oben in der vierten Etage in der Wohngemeinschaft. Er studiert nun schon einige Jahre so vor sich hin und kommt nicht recht vom Fleck, aber ich glaube, Juristerei dauert einfach so lange. Damit ist man nicht nach zwei oder drei Jahren in Schnellbesohlung durch. Ein sehr netter und zuvorkommender junger Mann mit Manieren und Achtung vor dem Alter ist das, der Herr Alex. Immer freundlich, immer hilfsbereit. Ich staune jedes Mal aufs Neue, dass es so etwas noch gibt. Er lässt mich doch noch daran glauben, dass die Jugend von heute nicht ganz verdorben ist. Solange es Menschen wie Herrn Alex gibt, mache ich mir keine Sorgen um die Zukunft. Er ist der Einzige, auf den in Sachen Hausordnung Verlass ist, und erst recht, seit er nun einen kleinen Hund hat. Eine ganz niedliche Mopsdame hat er sich angeschafft, ach, wirklich süß! Er hat sie Doris getauft. Das gab gleich ein bisschen Verstimmung im Haus, weil die Frau Meiser nämlich auch Doris heißt und es nun immer wieder zu bösen Wortwechseln kommt, sobald die Meiser Sätze hört wie »Doris hat eine Pfütze in den Flur gemacht« oder »Doris ist nicht ganz stubenrein«. Am schlimmsten war es jedoch, als Herr Alex einer Studierfreundin von dieser Universität zurief: »Vorsicht, Doris ist läufig!«

Na, da war was los!

Die Meiser, die hinter der Tür gelauscht hatte, weil sie Herrn Alex mit der jungen Frau durch den Spion begucken wollte – wir sind ja alle nur Menschen und wollen wissen, was im Haus los ist, nicht wahr? –, vergaß jede Contenance und riss die Tür auf. Dass sie sich solche Frechheiten verbittet, rief sie, und dass das Konsequenzen hätte. Dass sie eine Rechtsschutzversicherung hat und sie sich das nicht länger bieten lassen würde. Jedes Wort verstand ich auch nicht, wissen Se, meine Wohnungstür ist recht massiv.

Jedenfalls kann man viel über Herrn Alex sagen, aber nicht, dass er nicht reinlich wäre. Er ist nicht nur sofort mit dem Lappen zur Stelle, wenn Doris – also, der Hund – ein Bächlein macht, sondern wischt dann abends auch noch mit Eimer und Feudel richtig durch.

Das kam mir sehr zupass, denn die Arbeit in der Schule nahm mich doch mehr in Anspruch, als ich dachte. Aber gerade wenn man Geld dafür bekommt, will man sich doch nichts nachsagen lassen! Und ich will auch ganz ehrlich sein: Ich war manche Tage so k. o., dass ich mich nach Feierabend erst mal ein halbes Stündchen auf das Schäselong legen und mich ein bisschen ausruhen musste. Mein Katerle ist bei so was ja wie Medizin. Sein Schnurren hat etwas Beruhigendes. Wenn der auf meinem Schoß liegt, senkt das den Blutdruck, die Sorgen fallen ab und man kommt ganz automatisch zur Ruhe. Im Grunde sollten die Krankenkassen jedem Menschen eine Katze bezahlen. Ich meine, für Globuli und solchen Quatsch kommen sie doch auch auf! Das ist ungerecht.

Hildchen Knef hat mal gesungen: »Von nun an ging’s bergab«, und viele finden sich im Alter damit ab, dass das so ist. Aber ich kann es nicht bestätigen, bei mir geht manches auch bergauf, zumindest die Dioptrien und der Blutdruck. Aber da steuerte ich dagegen, indem ich mich, wie von Frau Doktor geraten, nachmittags ein halbes Stündchen aufs Ohr legte.

Es war nicht so, dass mir die Schule keinen Spaß machte. Aber man ist ja doch aus dem Alter raus, wo man morgens aus dem Bett springt wie zwei frisch geröstete Scheiben Brot aus dem Toaster. Ich bin 82 Jahre alt! Wissen Se, ich habe meinen Haushalt und vier Männer zu gießen. Wenn man jeden Morgen zur Schule muss, zehrt das ganz schön. Ich weiß, den Satz hört man jeden Morgen millionenfach von pubertierenden Kindern, aber bei mir ist das was ganz anderes. Ich habe meine Schul- und Arbeitsjahre abgeleistet, glauben Se mir. Und auch wenn ich immer dachte, ich müsste vielleicht noch mal was nacharbeiten, weil ich schon mit sechzig in Rente gegangen bin und heute doch bis siebenundsechzig gearbeitet werden soll, war ich in gewisser Weise beruhigt. Schließlich hatte ich nun was vorzuweisen, wenn mal jemand fragen sollte.

Ich war in die ganze Angelegenheit so reingeschlittert. Das war gar nicht schwer, da musste ich nur in zwei, drei Momenten mal gegen meine Natur die Klappe halten, und schon war ich so was wie eine Lehrerin. Aber aus der Schose wieder rauszukommen, das wollte geschickt angestellt sein. Es war an der Zeit, mich wieder aus der Angelegenheit zu verabschieden, ohne mich aus der Verantwortung zu stehlen. Zumal Kirsten auch langsam misstrauisch wurde, weil ich so oft nicht ans Telefon ging, wenn sie anrief. Wenn die mitkriegte, dass ich arbeiten ging, so richtig regelmäßig und für Geld, na, die wäre aber hergedüst und hätte mit ihrer Wünschelrute in der Schule geprüft, ob wohl die Wasseradern für Muttis Hüfte auch gut verlaufen.

Regelmäßig zur Arbeit bin ich das letzte Mal vor Jahrzehnten gegangen. Ich war das einfach nicht mehr gewohnt. Man kann die Jahre, die man auf dem Buckel hat, nicht leugnen, das Alter drückt und macht einen müde, da beißt die Maus keinen Faden ab. Damals, bei der Reichsbahn, habe ich in Schichten gearbeitet und kam oft erst nach Hause, wenn Kirsten und Wilhelm gerade aufgestanden und zur Schule und zur Arbeit gegangen waren. Da bin ich nicht gleich ins Bett gegangen, sondern habe erst mal meinen Haushalt gemacht, gewaschen, eingekauft und gekocht. Die Familie wollte schließlich was Warmes auf dem Tisch haben, auch wenn Wilhelm im Betrieb hätte essen können und Kirsten in der Schule. Ich habe sie zu sehr verwöhnt, muss ich aus heutiger Sicht sagen. Das Essen hat nämlich gut geschmeckt und war preiswert. Ich weiß das noch wie heute, es gab ausgewogenes Essen, und es wurde frisch gekocht, in jeder Schule und in jedem Betrieb. Die hatten nicht nur einen Hausmeister und ein paar Reinemachefrauen, sondern auch eine eigene Küche, in der etliche Frauen jeden Tag kochten. Da war nichts mit »schneller Teller« und Mikrowelle! Kein Räderessen, das schon um halb zehn am Morgen lauwarm geliefert wird und labberig schmeckt. Gertrud hat auch in der Großküche gearbeitet und kennt sich bis heute aus: Am Montag gab es meist Nudeln mit Tomatensoße und gebratene Jagdwurst dazu, dienstags Spinat mit Kartoffeln und Spiegelei, am Mittwoch eine Nudelsuppe, mal mit Rind, mal mit Huhn und immer mit Gemüse der Saison. Donnerstags gab es Grützwurst oder Pluntwurst oder, wie man heute sagt, »Tote Oma« mit Sauerkohl und Kartoffeln und am Freitag meist einen Eintopf, mal Erbsensuppe, mal Linsensuppe und mal Bohnen. Und jeden Tag Nachtisch! Entweder Apfelmus, Schokoladenpudding oder rote Grütze, aber manchmal auch einen Apfel oder eine Handvoll Kirschen.

So was ist ja heute angeblich nicht mehr zu finanzieren. Damals kostete das für die Kinder einen kleinen Elternbeitrag, die Lehrkräfte zahlten etwas mehr, denn die verdienten ja auch auskömmlich. Der Staat gab den Rest dazu. Heute wird angeliefert, was ein »Käterer« billigst aus Tüten und eingeflogenen Erdbeeren aus China zusammengerührt hat, weil frisch kochen angeblich viel zu teuer ist. Lieber zahlt der Staat dann hinterher für die Folgen, nämlich dass die Kinder Fettleber haben oder ein Magenband brauchen, weil sie nur Süßkram in sich reinstopfen und auseinandergehen wie die Hefeklöße im handwarmen Backrohr. Vielen Eltern ist es auch zu teuer, ein paar Euro für Schulessen beizugeben. Lieber stecken sie ihnen jeden Morgen einen Schein zu, damit sie sich auf dem Weg was am Kiosk, beim Bäcker oder beim Dönnermann kaufen können. Das ist dann meist Brötchen mit Majonäse statt Butter oder Dönner oder Pommies und Cola. Cola hat es bei uns nie gegeben, nur ganz selten Brause! »Davon kriegen Kinder schlechte Zähne und Läuse im Bauch«, sagte Oma Strelemann immer. Das mit den Läusen war zwar Quatsch, aber trotzdem wussten sie schon, dass zu viel Zucker ungesund ist.

Ich wollte mich nicht »davonmachen«. Aber dieses regelmäßige Arbeiten, das konnte ich einfach nicht mehr. Es wurde mir zu viel. Dafür hätte bestimmt auch jeder Verständnis, und wenn nicht, müsste ich eben mal wieder mein Alter erwähnen oder bei Wetterumschwung den Rollator nehmen und damit subtil auf meine operierte Hüfte hinweisen. Ich hatte da auch schon eine Idee, wie ich etwas Gutes für die Kinder tun konnte, was sich aber auf mehr Schultern als meinen beiden verteilte. Mir schwebte da eine Initiative von uns Alten vor, mit der wir die Schulküche wieder in Gang bringen würden.


Dazu brauchte ich aber Hilfe, und zwar reichlich. Unbedingt musste ich Gertrud als Köchin reaktivieren, doch es führte zunächst kein Weg dahin. Nicht, dass ich es nicht versucht hätte! Gertrud ist aber recht träge und meint, sie hätte in ihrem Leben genug gearbeitet. »Sport und Turnen füllt Gräber und Urnen«, sagt sie immer mürrisch, wenn ich sie mit Mühe zum Aqua-Strampeln, also zu dieser Wassergymnastik, mit Fräulein Tanja geschleift kriege. Und seit sie wieder verheiratet ist, genießt sie ihr Rentnerdasein erst recht. Wenn Gertrud Frauen in unserem Alter trifft, fragt sie immer: »Und? Genießen Sie schon, oder müssen Sie noch jeden Tag kochen?« Als könnte sie es nicht abwarten, nichts mehr tun zu müssen. Na, es sei ihr gegönnt! Aber für mich wäre das nichts, jeden Tag auf der Couch aufgetaute Schwarzwälder Kirschtorte essen und fernsehen? Da wird man doch träge! Gertrud und Gunter sitzen aber stoisch an der Kaffeetafel, spachteln Kuchen in sich rein und hängen vor der Flimmerkiste. Die gucken mit Vorliebe Ratesendungen. Ob der Herr Pommes raten lässt oder der Pflaume oder der Jauch ist ihnen ganz egal. Da muss ich regelrecht mit Engelszungen reden, dass die mal mitkommen zum Rentnertanz oder zum Nachbarschaftstreff. »Wenn zu viele alte Leute unter sich sind, wird nur noch über schon gelebtes Leben geredet, nicht über das, was noch kommt. Das ist nicht gut«, sagt Gertrud immer. Da hat sie in gewisser Weise recht, aber das sprach ja nur dafür, sich für Jüngere zu engagieren. Das legte ich mir gleich als Argument zurecht, wenn sie wieder mit dem Satz käme.

Zum regelmäßigen Spaziergang am Sonntag, da gehen sie mit. Gunter ist sowieso eher in sich gekehrt, und Gertrud hält ihn auch noch unterm Pantoffel und macht ihn sich gefügig. Denken Se nur, er darf seine Hörgeräte nur am Sonntag einsetzen! Ja. Unglaublich. Gertrud hat ausgerechnet, dass es billiger ist, den Fernseher lauter zu stellen als ständig neue Batterien für seine Lauscheinsätze zu kaufen.

Jedenfalls sitzen die beiden da den ganzen Tag in ihrer schlecht gelüfteten Wohnstube, gucken sehr laut Ratesendungen und gehen nur mit dem Hund raus, wenn der Gassi muss. »Das wäre wirklich nicht schlecht, wenn ich die für ein paar Stunden am Tag in die Schule gelockt bekäme«, dachte ich bei mir. Da musste es doch Möglichkeiten geben! Die basteln doch heute alle ständig irgendwelche Projekte zusammen und finden Töpfe, aus denen es Geld gibt. Man muss dem Quatsch nur den richtigen Namen geben, dann winken die das durch und überweisen. Ich sah das schon vor mir: Wir könnten die alte Schulküche wieder herrichten. Die Räume waren ja da! Den Speiseraum gab es noch, er hieß jetzt nur Mensa. Die taufen ja alles um. Dort rupften die wenigen, die warm zu Mittag aßen, die angelieferten lauwarmen Büchsen auf und verbrachten ihre Pause damit, halb gare Erbsen auf der Gabel zu balancieren. Das ist immer das Zeichen, dass es angeblich gesund ist, wenn das Gemüse noch hart ist und der Spargel beim Kauen knirscht. Und Pudding, Pudding gibt’s da überhaupt nicht dazu. Immer nur Quarkspeise, die ist billiger. Und die Kartoffeln sind so hart wie der Spargel, wenn es denn mal welchen gibt. Neumodische Kochsitten!

Für die Küche bräuchte man zwei Frauen vom Fach, gern schon im Rentenalter. Bestimmt gab das Arbeitsamt noch was dazu. Man musste da nur mal richtig sauber machen und gucken, wo man Gemüse und Fleisch günstig, aber gut herkriegt.

Da fiel mir gleich Frau Herold ein. Die war wie gemacht dafür! Frau Herold war die Mutti von Lydia-Hyazinta oder so. Züntja. Was weiß ich, es ist ja auch egal. Frau Herold schlug sich beruflich mit Fördermitteln rum und kannte sich prima mit Verordnungen, Erlassen und Richtlinien aus, in denen der ganze Krams geregelt ist. Sie war auch im Elternbeirat und immer vorne dabei, wenn es ums Engagieren für die Kinder ging. Die sprach ich einfach an, als sie das blumige Töchterchen abholte.

»Frau Herold, ich erzähle Ihnen erst mal, wie ich mir das gedacht habe. Ich weiß, das geht alles nicht so einfach und Sie müssen da was um die Ecke stricken und konstruieren, das ist mir klar. Dafür sind Sie zuständig, da redet Ihnen keiner rein. Passen Se auf: Wir haben hier neben dem Speisesaal die alte Küche. Da muss mal aufgeräumt und durchgewischt werden, damit das der Hygieneinspektion standhält, aber es ist noch fast alles an Kochgerät da. Das muss ergänzt und auf den neuesten Stand gebracht werden. Dafür brauchen wir ein bisschen Geld und ein paar Leutchen. Ich kann Ihnen den Günter Habicht anbieten, der Mann ist so frisch Rentner, der ist noch fast grün hinter den Ohren. Und meine Freundin Gertrud, die ist … sagen wir mal, sie ist als Rentnerin schon etwas erfahrener. Etwa so wie ich. Sie weiß Bescheid in der Großküche und kann aus allem was Schmackhaftes zaubern. Da müssen wir natürlich noch ein paar mehr Leute finden, ich weiß nicht, ob man nicht …«

Die Herold hatte schon zweimal Schnappatmung markiert und unterbrach mich jetzt jäh.

»Frau Bergmann, stopp! Hören Sie auf, ich komme ja so schnell gar nicht mit. Da steckt so viel Potenzial drin, das müssen wir unbedingt in der Elterninitiativgruppe besprechen.«

»Nee, nee, nee. Das lassen Se mal schön bleiben. Da weiß ich doch schon, was dabei rauskommt, nämlich gar nichts. Die blasen sich nur alle wieder auf und schicken Listen, was alles nicht in den Topf darf, weil die Kinder allergisch sind oder …«

»Nein, ich meine was ganz anderes! Da stecken Dutzende Umweltprojekte und Ideen für ›Jugend forscht‹ drin, wenn man das richtig anpackt. Wir müssen natürlich einen Trägerverein gründen, der die Mittel beantragt … und ich muss mit der Marlene sprechen.«

Wie sie mir erklärte, war Marlene eine Freundin, die sich bei der Rettung von Lebensmitteln engagierte. Also nicht in dem Sinne, dass sie zur Tafel ging oder nachts kopfüber in Mülltonnen nach abgelaufenem Joghurt grub, sondern sie hatte eine Bescheinigung vom Senat, dass sie geschult im Umgang mit Lebensmitteln ist, und war nun in einer Rundrufliste von etlichen Supermärkten, Fleischereien, Hofläden und Bäckereien. Mehrmals pro Woche kriegte sie Bescheid, und dann durfte sie dort antreten und abholen, was noch gut, aber kurz vorm Verfallsdatum war. Das waren mal zehn Kilo Hackfleisch, dreißig Brötchen und zwei Kilo Krabbensalat und in der nächsten Woche eine ganze Stiege Schlagsahne und acht Netze Kartoffeln, von denen ein paar schon grüne Stellen hatten, die man aber prima rausschneiden konnte. Je nachdem, was der wählerische Kunde beim Einkauf so verschmäht hatte. Die besagte Freundin war dafür verantwortlich, dass die geretteten Lebensmittel auch wirklich nicht verkamen, und verteilte das Essen dann an ein Netzwerk von ebenso engagierten Freundinnen. Die wollte Frau Herold nun für unsere Küchenidee gewinnen.

»Und wenn Sie sagen, Frau Bergmann, dass Ihre Freundin improvisieren kann?«

»Na, Sie werden staunen! Gertrud hat zu DDR-Zeiten gekocht, als es nichts gab. Die musste gucken, wie sie Kartoffelpuffer macht, ohne dass sie Kartoffeln hatte!«

Bei der Herold ratterte es im Oberstübchen, das konnte ich sehen. Die ging im Kopf schon die ganzen Behörden und Förderprogramme durch. Ich wusste, dass die zu was zu gebrauchen war und dass man mit der arbeiten konnte!

»Ich stelle mir das auf jeden Fall so vor, dass wir hier wenigstens einmal die Woche den Schülern und Lehrern ein gesundes Mittagessen anbieten können. Wenn es häufiger klappt, umso besser, aber für den Anfang sollten wir uns nicht zu viel vornehmen. Glauben Se mir, bei uns im Nachbarschaftstreff haben wir auch ein Seniorenfrühstück einmal die Woche organisiert. Die glucken da jetzt immer bis Mittag zusammen und reden. Das wird hier nicht anders. Was meinen Se, auf was für Einfälle die Leute kommen, wenn sie erst mal zusammensitzen, essen und reden! Da werden Ideen geboren und Pläne geschmiedet, dass wir noch staunen werden. Wir müssen nur erst mal einen Anfang haben. Wegen meiner machen wir einen Eintopf, gerne auch ohne Fleisch, und wahlweise Bulette dazu oder eben auch nicht. Und die Kinder können beim Gemüseschnippeln helfen …«

»… Projektwoche GESUNDE ERNÄHRUNG!«

»Ich sehe schon, Sie verstehen, worauf ich hinauswill, Frau Herold.«

Na, und wie wir uns verstanden! Das Ziel war klar, und die Herold war genau die Richtige. Ab und an erzählte sie mir in den nächsten Wochen was von »ländlichem Raum«, »interkultureller Begegnung« und all solchem Kram, aber vor allem schaffte sie es, Geld zu besorgen. Sie fummelte da mit ganz vielen Amtsstuben rum, und wir konnten loslegen.

Gertrud war erst wenig begeistert, dass sie mithelfen sollte. Genau wie ich es erwartet hatte, brachte sie Norbert als Grund vor. »Der braucht seinen Auslauf, Renate, ich kann nicht weg.« Na, dazu sagte ich gar nichts, sondern nahm nur die Leine vom Garderobenhaken und drückte sie Gunter in die Hand. Kurz sollte dann noch Gunters Bandscheibe als Ausrede herhalten, aber damit lief sie auch ins Leere. »WAS hat die Doktorn noch mal gesagt? Dass Gunter sich bewegen soll. Jeden Tag Spaziergänge und zweimal die Woche eine Stunde ins Schwimmbad. Hast du mir erzählt, es ist noch keine Woche her! Trudchen, genug der Ausreden. Wir werden gebraucht!« Murrend, aber im Stillen doch neugierig erklärte sie sich bereit, am nächsten Mittwoch das erste Mal zur Schule zu kommen.

Beim Habicht war es etwas schwieriger. Nicht, weil ich nicht wüsste, wie man mit dem umgehen muss. Es war gar nicht so leicht, den mal zu Hause zu erwischen. Der Mann hat ja Hummeln im Hintern und ist selten daheim. Entweder treibt der sich mit diesem Kneipenbesitzer mit dem Toupet, der nebenher singt, auf »Konzerttournee« rum, oder er radelt mit dem Drahtesel durch den Kiez und kontrolliert, ob auch jeder sein Hundehäufchen wegmacht und solche Sachen. Seit er Opa geworden ist, lungert er nun auch immer wieder auf dem Spielplatz rum. Sein kleiner Enkel Jonathan liegt zwar noch im Kinderwagen, aber den schiebt er trotzdem zu den Spielplätzen der Umgebung und mahnt jeden, die leeren Trinkpäckchen auch ja in die Papierkörbe zu schmeißen.

Ich lief also die Spielplätze ab und hatte Glück, schon am dritten traf ich ihn an. Er war ja gar nicht zu übersehen mit dem schicken Kinderwagen und seinem Maurermützchen, das er trug.

Irgendwie hatte ich den Eindruck, der wollte sich aus dem Staub machen, als er mich kommen sah. Er zuckte zusammen und machte schon die Bremse vom Kinderwagen los, aber zum Glück plärrte der Kleine auf und er musste ihm den Nuckel reinschieben.

»Na, Herr Habicht, der Kleine kriegt wohl langsam Hunger?«

»Ja, Frau Bergmann. Wir müssen dringend nach Hause! Die Windel scheint auch voll zu sein.«

»Ach, da begleite ich Sie ein Stück. Ich wollte Sie nämlich was fragen.«

»Ich habe gar keine Zeit. Wenn die Windel voll ist, liegt er sich wund!«

»Jaja. Ach, wissen Se, meine Tochter ist ja damals noch mit Baumwollwindeln …«

»… ja. Sagt meine Mutter auch immer!«

»Ihre Frau Mutter, ach! Wie geht es ihr denn?«

»Gesund und munter, Frau Bergmann. Wir müssen wirklich los.«

»Der Kleine. So friedlich! Gucken Se nur, er ist wieder eingeschlafen. Ja, grüßen Sie Ihre Mutter doch bitte von mir. Wir haben seinerzeit so nett geplaudert, als sie zu Besuch war. Nee, wie er die Schnute verzieht mit dem großen Nuckel, das ist aber auch zu putzig! Aber dass Sie ihm keinen Honig drantun! Mein Wilhelm hat Kirstens Nuckel ja immer in Honig getunkt und ihn ihr reingeschoben. Dann war sie kurz ruhig, aber später schrie sie um so mehr. Honig ist gar nicht gut für kleine Kinder.«

»Jaja, ich weiß.«

»Was ich Sie fragen wollte … Ich weiß, Sie sind viel unterwegs, und wie Sie sich um den Kleinen kümmern, das ist auch allerliebst. Aber ich hätte da eine Bitte.«

»Aber nicht wieder die Gartensparte!«

»Nein, nein!«

»Den Campingplatz gibt es ja nicht mehr. Oder hat sich die … wie hieß die doch gleich … Hat die sich das anders überlegt?«

»Katharina. Mit H.«, konnte ich aushelfen. Ja, das Kreuzworträtsel zahlt sich aus, meine kleinen grauen Zellen funktionieren noch besser als die von so einem jungschen Kerl von Anfang sechzig!

»Katharina. Ja, stimmt.«

»Das weiß ich nicht, Herr Habicht. Passen Se auf, da hat ein Hund …«

Er zog den Kinderwagen stramm nach links, um nicht in das Häufchen zu fahren, und begann augenblicklich laut und ausfallend zu schimpfen.

»Wenn ich die erwische, die ihre Köter auf die Straße ka…«

»Na! Herr Habicht! Das Kind!«

Der sollte sich mal daran gewöhnen, nicht solche Worte zu verwenden. Nicht nur, weil sein Enkel größer wird und das aufschnappt, sondern auch, weil ich das bei den Kindern in der Schule nun wirklich nicht brauchen konnte. Die waren mir mit ihren »Ey Alda«, »Krass Bruda« und »Guckst du du Opfa« schon unverschämt genug. Ich musste nicht noch mehr unanständige Worte hören!

»WENN ICK DIE ERWISCHE, PACK ICK DIE AM KRAGEN UND STECKE SIE MIT DER NASE IN DEN HAUFEN VON IHREM HUND!«

Ich wollte diese Maßnahme jetzt nicht mit ihm diskutieren, zumal er einen strammen Schritt angeschlagen hatte und ich fast aus der Puste kam. Eine alte Dame so zu hetzen, na, wenn ich nicht was von ihm gewollt hätte, hätte ich dem was erzählt!

»Passen Se auf, Herr Habicht. Sie sind ein oller Knurrhahn, das weiß ich. Aber in Wahrheit haben Sie einen weichen Kern. Wie Sie mit Kindern umgehen, das ist ganz wundervoll! Nicht nur jetzt mit Ihrem Enkelchen, nein, ich weiß noch genau, wie Sie damals im Garten den Schulkindern den Naturlehrpfad erklärt haben und ihnen was von Erbsen und Kaninchen erzählt haben. Für so was haben Sie doch ein Händchen!«

Ich weiß doch, was man Männern sagen muss, damit die sich gebauchpinselt fühlen! Nun, beim Habicht spannte sich eine ordentliche Wampe unter dem Polohemd, da gab es reichlich zu pinseln. Aber ich musste gar nicht mehr sagen, er war von den zwei Sätzen schon ganz geschmeichelt.

»Ach, na, das ist doch ganz was anderes! Kinder sind ja unsere Zukunft! Denen muss man doch helfen, ihren Weg zu finden.«

»Genau, Herr Habicht, ganz genau. Mein Reden. Und da bietet sich eine ganz großartige Gelegenheit.«

Ich erzählte ihm kurz von unserem »Projekt« und dass ich ihm dabei die Rolle zugedacht hatte, auf alles Handwerkliche und Organisatorische ein Auge zu haben. Ich musste ja vorsichtig sein und wollte ihm nicht gleich sagen, dass er da hämmern, schrauben und malern sollte. Dann wäre der mir vielleicht noch von der Stange gegangen! Aber ich kenne den mittlerweile ein bisschen, und irgendwie sind ja auch alle Männer gleich: Wenn man ihnen ein paar Brocken hinwirft, auf die sie Appetit haben, fangen sie gleich an, Aktivitäten zu entfalten und behaupten hinterher, es war alles ihre Idee.

Das hatte auf jeden Fall prima geklappt. Opa Habicht war Feuer und Flamme. Der kleine Jonathan schlief friedlich im Wagen. Die angeblich vollgelehmte Windel war wohl ein Fehlalarm, und von Hunger war auch nichts mehr zu hören. Ach, in dem Alter schlafen sie noch viel, die Kleinen, und leben von Luft und Liebe. Habicht hatte den Schritt verlangsamt und sich meinem Tempo angepasst. Ich hatte auch schon fast Seitenstechen!

»Überlegen Se mal, Oma Berchmann, in ein paar Jahren kommt Jonathan auch in die Schule. Die Zeit vergeht so schnell. Und wenn er dann sagen kann: ›Die Schulküche hat mein Opa damals wieder mit in Gang gebracht‹, na, da ist man doch stolz!«

Ja, da sagte der was! Das wären eigentlich meine Worte gewesen, um ihn zu überzeugen, wenn er sich bockbeinig gestellt hätte. Aber das war gar nicht notwendig, er hatte es selbst schon erkannt. In unseren Kindern leben wir weiter. Ihnen gehört die Zukunft, und wenn wir Alten noch Energie und Ideen haben, dann stecken wir sie gern in die Kleinen!


Diese Worte standen ein bisschen als Motto über unserem Projekt. Das dauerte natürlich alles, bis die mit ihren Anträgen durch waren, bis das Geld floss und wir den Kessel zum ersten Mal anheizen konnten. Als Gertrud erst mal die Kochhaube wieder aufhatte, war sie wie ausgewechselt und übernahm sofort das Regiment in der Küche. Sie ließ Kartoffeln schälen, Erbsen verlesen und Kräuter schnippeln. Ach, mir ging das Herz auf! Habicht richtete Absperrbänder vor der Essensausgabe ein und kontrollierte, ob jeder auch die Finger gewaschen hat. Er hatte sogar seinen Freund aus der Kneipe überredet, ein paar Lieder zu singen, was wiederum Frau Schlode zum Kochen brachte. Also, jetzt nicht mit am Herd, sondern innerlich, denn so eine Gelegenheit wollte sie natürlich ungern verstreichen lassen. Sie ließ ihre Bläserfrauen »Daddy Cool« dagegen anpusten, und da strich der Tony Cordino die Segel und ging heim.

Frau Lossack-Klauenseil lotste mich mit zwei, drei Unterschriften so elegant wieder aus dem Vertrag, wie sie mich reingemogelt hatte. Es war besser so. So viel Freude es auch machte, mit meinen Jahren ist man dem anstrengenden Schulalltag auf Dauer einfach nicht mehr gewachsen. Es etablierte sich, dass unser Verein, den die Herold zusammengezimmert hatte, jeden Donnerstag kochte. Danach wurde gemeinsam gegessen. Wer wollte, gab eine kleine Spende, und zu meinem Erstaunen ließen sich die meisten Lehrer da nicht lumpen. Selbst die, die bei der Kaffeekasse mogelten und seit Jahren kein Päckchen Krönung mehr für die Gemeinschaftsmaschine mitgebracht hatten, gaben hier großzügig. Nach dem Essen saßen viele noch beieinander und redeten. Eltern und Großeltern kamen dazu, und auch Ilse und Kurt kamen vorbei und brachten Gemüse aus dem Garten – Zuckini wachsen ja, als würden sie dafür bezahlt, wenn es warm ist! Seit Kurt sogar frischen TÜV vom Herzdoktor hatte, düsten sie wieder häufiger umher. Ilse half bei den Hausaufgaben, und auch ich schaute der einen oder anderen La-Le-Lu-Petunia immer wieder gern über die Schultern.

So gefiel mir das besser. Die Kinder hatten mich, obwohl ich manchmal streng gewesen war, doch ein bisschen in ihr Herz geschlossen, und ich staunte nicht schlecht, als sie mir ein großes Plakat überreichten, auf das sie Fotos von sich geklebt hatten. Mit großen Buchstaben stand der Name jedes Kindes darunter. Ob das ein Hinweis sein sollte, weil ich damit immer durcheinanderkam? »Wir wünschen einen schönen Ruhestand«, stand groß darüber. Herrje, so was hatte ich vor über zwanzig Jahren schon mal von meinen Kollegen der Bahn gekriegt.

Nun war es aber wohl endgültig mein Ruhestand, in den ich mich zurückzog, dachte ich wehmütig für einen kurzen Moment. Aber wirklich nur für einen ganz kurzen Moment, denn da sah ich aus dem Augenwinkel, dass Lasse-Laurin »Silvester« mit Y schrieb. Da ging ich aber dazwischen!

Ach, ich war zufrieden mit meinem Unruhestand. Ich half, wo ich konnte, aber meinem Alter angemessen und verteilt auf mehr Schultern. Und ich hatte nun endlich auch wieder mehr Zeit für meinen Haushalt und meine Handarbeiten. Gleich als Erstes machte ich mich an einen warmen Pullover für Frau Westermann.

Einen, der über den Bauch reicht!