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Ian
Unter uns, ich bin ein Arschloch. Ja, ich sage es selbst, damit Sie es nicht tun müssen.
Sie glauben mir nicht? Hier ist ein Crashkurs in Sachen Ian Bradley:
Der anthrazitgraue Anzug, den ich gegenwärtig trage, kostet mehr als mein erstes Auto. Ich bin einen Meter fünfundachtzig groß, schwarzes Haar, blaue Augen, und ich trainiere jeden Tag, also bin ich der Passende für diesen Anzug, wenn Sie verstehen, was ich meine.
Mit zweiunddreißig bin ich Investmentbanker – Führungsebene, was sonst – bei Wolfe Investments. Und sagen wir einfach Arbeite hart, feiere wild ist hier das unausgesprochene Firmenmotto.
Ich habe ein Eckbüro, ein siebenstelliges Einkommen, eine protzige Wohnung im Finanzdistrikt von Manhattan, und ich schlafe niemals zweimal mit derselben Frau – denn ich muss es nicht.
Habe ich erwähnt, dass ich in Yale war? Es ist mir gelungen, meinen Abschluss als einer der Jahrgangsbesten meines Fachs zu machen und all die üblichen Collegesünden zu begehen. Sowohl ein blühendes Gesellschaftsleben zu führen als auch eine gefeierte Sportskanone in der Ivy League zu sein ist kein einfaches Unterfangen, lassen Sie sich das gesagt sein.
Also, wie bereits erwähnt – ich bin im Großen und Ganzen ein Wall-Street-Arschloch vom Feinsten.
Aber hassen Sie mich nicht schon jetzt, denn Folgendes steht nicht auf dem Ian-Bradley-Poster:
Im Gegensatz zum Rest meiner Mannschaftskameraden habe ich diese Ivy-League-Ausbildung keinem Treuhandvermögen und vier Generationen von Yale-Alumni zu verdanken, die mich durch die Tür bugsiert haben. Es waren eher drei Jobs auf einmal, ein akademisches Stipendium und ungefähr eine Tonne Kredite.
Als ich ein kleiner Junge war, war mein Löffel aus Plastik, nicht aus Silber, und er wurde mir von einer launenhaften, aber freundlichen Tankstellenbediensteten in South Philly gereicht, weil die meisten meiner Pflegeeltern einen Scheiß darauf gaben, ob ich etwas aß oder nicht.
Das kuschelige Eckbüro, von dem ich Ihnen gerade erzählt habe? Dass es meins ist, verdanke ich schierer Willenskraft und ungefähr einem Jahrzehnt ohne Schlaf.
Und obwohl dieses siebenstellige Einkommen mir ein protziges Dach über dem Kopf in Manhattan beschert, unterstützt es auch Pflegekinder in Philly bei einer Collegeausbildung, wenn sie bereit sind, dafür zu arbeiten.
Haben Sie schon angefangen, spöttisch und langsam Beifall zu klatschen? Ja, das ist fair. Aber der Punkt ist, dass es niemals eine einzige verdammte Sache gegeben hat, die ich nicht durch gnadenlos harte Arbeit und Mordsstress bekommen habe.
Bis sie kam.
Und da beginnt meine Geschichte wirklich.
Woche 1: Montagnachmittag
Es ist nachmittags um drei am »Tag der Fusionen«, und ich brauche mehr Koffein.
Montag ist der Tag der Woche, an dem ein Haufen Firmenfusionen angekündigt werden. Für meine Kollegen und mich bei Wolfe Investments bedeutet das eine Menge Arbeit. Wir müssen uns die Liste vornehmen, Anrufe tätigen und versuchen herauszufinden, was riesig ist, was Beachtung erfordert und was keinen Menschen zu kümmern braucht unter all den Deals. Mit anderen Worten, es ist notwendig, aber eine Arbeit, bei der man ganz benommen vor Langeweile wird, vor allem nach einer langen Nacht und, nun … in meiner Welt gibt es nur lange Nächte.
Ich verlasse mein Büro, um zu Starbucks zu laufen, und sobald ich das tue, wird die Bürotür gegenüber geöffnet, und eine atemberaubende Brünette in einem engen roten Kleid schenkt mir ein träges Lächeln. »Hi Ian.«
Ich erwidere das Lächeln meiner Kollegin. »Joss.«
Sie lehnt am Türrahmen und kreuzt strategisch die Arme vor der Brust, um ihr Dekolleté zu betonen, bevor sie mich einer langsamen Musterung unterzieht. »Viel zu tun?«
Subtilität ist nicht ihre starke Seite. Scheiße, es ist niemandes starke Seite hier bei Wolfe.
»Ich fürchte, ja.«
Ihre Augen werden schmal. »Ich habe dich länger nicht gesehen.«
Sie hat mich täglich gesehen. Sie meint nur, dass sie mich nicht nackt gesehen hat seit dem einem Übermaß an Gin geschuldeten Fehler letzte Woche, den zu wiederholen ich nicht die Absicht habe. Nicht weil sie nicht heiß ist, sondern weil ich so was nun mal nicht wiederhole.
Sobald die Herausforderung vorüber ist, erstirbt auch der Reiz.
Ich bin nicht stolz darauf, ich war einfach schon immer so – eine fehlerhafte Verdrahtung, nehme ich an.
»Tut mir leid, hatte viel zu tun.« Ich zwinkere ihr zu, dann wende ich mich ab und gehe durch den Flur davon.
»Ist Kennedy da?«, ruft sie mir nach.
Ich grinse schwach über die allzu durchschaubare Frage. Wenn sie versucht, mich eifersüchtig zu machen, irrt sie sich in zwei Punkten. Ich werde nie eifersüchtig, und Kennedy Dawson fängt mit niemandem aus dem Büro etwas an. Selbst wenn er es täte, fasst mein Freund niemals eine Frau an, die ich abgelegt habe. Die Männer an der Wall Street haben einen Ehrencodex.
»Ich habe keinen Schimmer«, antworte ich über meine Schulter.
Ich schicke meiner Montagsbarista bei Starbucks eine Nachricht, um sie wissen zu lassen, dass ich in fünf Minuten da bin (es ist völliger Quatsch, in der Schlange zu warten, wenn einem ein Zwanzigdollartrinkgeld gewährleistet, dass das gewünschte Getränk für einen bereitsteht), als ein Paar exzellenter Frauenbeine im Pausenraum meine Aufmerksamkeit erregt.
Ich verlangsame meine Schritte und versuche festzustellen, womit ich es hier zu tun habe. Ich erkenne die Waden nicht. Auch den Hintern und die schlanke Taille nicht, und ich würde mich definitiv an den langen, blonden Pferdeschwanz erinnern, der genau das Richtige ist, um Cheerleader-Fantasien bei einem Erwachsenen zu nähren.
Heiß. Sehr heiß.
Trotzdem, ich habe eine Menge zu erledigen, und ich will gerade vorbeigehen, als ich die Frau mit sich selbst sprechen höre. »Wie kann es acht Wahlmöglichkeiten für Milch geben?«
Ich lächele über die aufrichtige Verwunderung in ihrer Stimme. Dann schiebe ich beide Hände in die Taschen und trete in den Pausenraum, um mich aus erster Hand davon zu überzeugen, ob das Gesicht so toll ist wie der Körper. »Nun, ich bin kein Experte, aber spontan fallen mir Vollmilch ein, entrahmte Milch, magere Sojamilch, ungesüßte Mandelmilch, gesüßte Mandelmilch mit Vanille, Kokosnuss …«
Beim Klang meiner Stimme wirbelt sie herum, und ich zucke unwillkürlich zurück, als ich sie von Angesicht zu Angesicht sehe.
Nicht weil ich sie kenne, sondern weil ich sie kennenlernen will. Für einen ziemlich bizarren Moment fühlt diese Frau sich so an, als sei sie für mich bestimmt.
Das Merkwürdige? Sie ist nicht mal mein Typ.
Ich mag Frauen mit kokettem Lächeln, schnellem Lachen, großartigen Körpern und vollstem Verständnis für das, wonach ich suche: Spaß für nur eine Nacht.
Diese Frau … ich weiß nicht recht, ob sie es als Spaß verstehen würde, wenn ich ihr auf den Hintern schlüge. Ihr blondes Haar ist in der Mitte gescheitelt, und aus ihrem Braves-Mädchen-Gesicht zurückfrisiert. Sie ist in der oberen Etage nicht besonders gut ausgestattet, und obwohl der Schwung ihrer Hüften einen zweiten Blick wert ist, sind ihre Bluse und ihr adretter Rock ganz geschäftsmäßig, ihr BH wahrscheinlich weiß und aus Baumwolle. Oder schlimmer noch, beige und aus Baumwolle. Von ihrer Handtasche, die riesig und braun und hässlich ist, will ich hier gar nicht reden.
Nichts an ihr bis auf die tollen Beine erklärt, warum es mich in allen zehn Fingern juckt, sie Zentimeter für Zentimeter auszupacken.
Wenn da nicht die Brille gewesen wäre.
Ja, es ist definitiv die Brille, die die Sache für mich besiegelt.
Ein sexy schwarzes Gestell mit einer vagen Ausstrahlung von nicht immer brave Bibliothekarin  – pures Fantasiefutter. Die Brille betont den sexy Blick ihrer großen blauen Augen, und in diesen Augen steht ein Ausdruck, der durch und durch …
… argwöhnisch ist.
Sie hält einen Aktenordner in einer Hand und tippt damit gegen ihre andere Hand, sagt kein Wort, sondern unterzieht mich nur einer gründlichen Musterung.
Als sie den Blick hebt, erwarte ich das bewundernde Lächeln, das ich normalerweise von Frauen bekomme, aber sie wirkt … gelangweilt?
Was mich aus dem Gleichgewicht wirft. So sehr, dass ich statt einer glatten Anmache mit dem Kopf auf die Maschine auf der Theke deute. »Brauchen Sie Hilfe damit?«
Sie zieht die Brauen hoch. »Brauche ich Hilfe womit? Auf Knöpfe zu drücken?«
Du darfst jederzeit auch meine Knöpfe drücken.
Ihre Augen werden schmal, und ich gewinne den Eindruck, dass sie mir meinen unausgesprochenen Gedanken angesehen und ihn für mangelhaft befunden hat. Ich bin verärgert. Und fasziniert. Es ist viel zu lange her, seit ich das letzte Mal vor einer Herausforderung gestanden habe.
Ich schiebe mich einen Schritt näher an sie heran und gehe auf die Espressomaschine zu. Die Frau wirkt nicht im Mindesten durcheinander wegen meiner Nähe, daher lehne ich mich an die Maschine und tätschele den Deckel mit der Hand. »Sie brauchen bloß ein Wort zu sagen. Ich wäre überglücklich, Ihnen den heißen Automaten hier erklären zu dürfen, kleine Lady«, füge ich übertrieben gedehnt hinzu.
Sie zahlt mir das mit gleicher Münze heim und klimpert mit den Wimpern, eine Geste, die durch die Brille noch spöttischer wirkt. »Oh, könnten Sie das tun?«
Ich lächele und genieße sie mehr, als ich erwartet habe. »Was trinken Sie denn?«
»Kaffee.«
Ich verdrehe die Augen. »Welche Art?«
»Mit Koffein«, sagt sie, zieht einen der Firmenbecher hervor, stellt ihn unter die Düse und drückt auf die standardmäßige Kaffeevariante.
»Langweilig«, erkläre ich.
»Klassisch«, kontert sie.
Ich schenke ihr ein träges Lächeln. »Ich bin auf dem Weg zum nächsten Starbucks. Erlauben Sie mir, Ihnen einen richtigen Kaffee zu spendieren.«
Sie hebt ihren Becher. »Der hier reicht mir.«
»Sie würden mit etwas anderem besser fahren«, sage ich und senke die Stimme.
Sie überrascht mich mit einem Lachen, und sie lacht nicht kokett oder atemlos, sie lacht mich aus. »Ernsthaft? Funktionieren diese Sprüche sonst bei Ihnen?«
»Ehrliche Antwort?« Ich schenke ihr ein kleines Lächeln. »Ja.«
»Nun«, sie nippt an ihrem Kaffee, »lassen Sie es mich wissen, wenn ich Betörung heucheln soll.«
Bei mir würdest du gar nichts heucheln, Süße.
Ich strecke meine rechte Hand aus. »Ian Bradley.«
Sie ignoriert die Hand und nickt. »Schön, Sie kennenzulernen.«
Ich beuge mich vor und flüstere: »Das ist der Punkt, an dem Sie mir Ihren Namen nennen.«
Sie beugt sich vor und flüstert zurück: »Das ist der Punkt, an dem Sie den Fingerzeig kapieren, dass ich nicht interessiert bin an dem, was Sie anbieten.«
Herausforderung angenommen.
Sie macht Anstalten, um mich herumzugehen, und hat offensichtlich vor, sich zu entfernen, aber das werde ich nicht zulassen. Ich trete einen Schritt nach vorne. »Gehen Sie mit mir was trinken.«
»Nein, danke.« Sie klingt beinahe erheitert in ihrer Zurückweisung.
»Warum nicht?« Ich halte den Tonfall unbeschwert, aber die Wahrheit? Ich will es wissen. Es kommt nicht oft vor, dass eine Frau Nein zu mir sagt, und noch seltener ist es, dass mich das kümmert. Aber ich stelle mir gerade vor, wie sie nackt vor mir steht, und sie könnte beim besten Willen nicht desinteressierter wirken.
»Oh, aus so vielen Gründen«, entgegnet sie mit einem hinterhältigen Lächeln, während sie ihren Ordner benutzt, um auf meinen Hals zu zeigen. »Zum Beispiel dieser frische Knutschfleck.«
Ich widerstehe dem Drang, das Mal mit der Hand zu verdecken. Zum Teufel mit der kleinen Barkeeperin von gestern Nacht mit dem Hang zum Vampirismus.
»Hm«, überlege ich laut. »Sind Sie sicher, dass es ein Knutschfleck ist? Vielleicht ist es eine Reaktion auf was immer meine Reinigung mit diesem Hemd gemacht hat.«
Die mysteriöse Blondine hebt ihre Kaffeetasse. »Nun, das ist ein weiterer Grund. Ich mag Männer mit Ausschlag nicht.«
Ich lache, faszinierter denn je von ihrer scharfen Zunge. »Wer sind Sie?«
»Jemand, bei dem Sie es bedauern werden, dass Sie ihn auf einen Kaffee eingeladen haben«, antwortet sie mit einem kleinen Ich-habe-ein-Geheimnis- Lächeln.
»Warum …«
»Ian.«
Ich drehe mich zu der Störung um und mäßige meinen Ärger, als ich Kate sehe, meine Assistentin. Sie wirkt …
Entsetzt.
Ich richte mich auf und vergesse Blondie einen Moment lang. »Kate, was liegt an?«
Sie schluckt und wirft einen nervösen Blick auf die Frau neben mir. »Ich habe überall nach Ihnen gesucht. Sie gehen nicht an Ihr Telefon …«
»Scheiße, ich habe vergessen, nach meinem letzten Meeting die Stillschaltung zurückzudrücken«, sage ich und hole mein Handy aus meiner Tasche. Und tatsächlich, ich habe vier versäumte Nachrichten und drei versäumte Anrufe, alle von Kate.
Bei ihrer ersten Nachricht rutscht mir der Magen in die Kniekehlen; bei der zweiten setzt mein Herz einen Schlag aus.
Ich sehe Kate an und verstehe jetzt ihren entsetzten Gesichtsausdruck. »Die Börsenaufsichtsbehörde ist hier?«
Scheiße.
Die Securities and Exchange Commission, kurz SEC, ist der Wachhund der Regierung gegen Finanzvergehen, nur dass es kein hilfreicher, nützlicher Wachhund ist.
Nein, die SEC ist wie ein kläffender kleiner Köter, ein Wadenbeißer, der das ganze Haus vollscheißt und unterm Strich eine riesige Nervensäge ist mit null Wertschätzung gegenüber jedermann außer dem eigenen Ego.
»Hinter wem sind sie her?«, frage ich.
Aber ich weiß es bereits. Ich habe lange genug mit Kate zusammengearbeitet, um diesen Ausdruck auf ihrem Gesicht zu deuten, um zu wissen, dass irgendetwas nicht stimmt.
Sie sind hinter mir her.
Und als die namenlose Blondine hinter mir lässig an ihrem Kaffee nippt, wird mir plötzlich klar, warum Kate so entsetzt wirkt.
Es liegt nicht nur daran, dass die SEC gegen mich ermittelt …
Es liegt daran, dass ich gerade mit der zuständigen Ermittlerin geflirtet habe.
Ich drehe mich langsam zu der Frau um, und sie macht sich nicht einmal die Mühe, ihre Erheiterung zu verbergen, als sie sich den Ordner unter den Arm klemmt und endlich die Hand ausstreckt, um sich vorzustellen.
Gewohnheitsmäßig schüttele ich ihre Hand, obwohl sich Eiseskälte in mir ausbreitet, als unsere Blicke sich treffen. Sie ist dahin, meine Fantasie von dem braven Mädchen und der Bibliothekarin, und an ihre Stelle rückt mein Albtraum: die Börsenaufsichtsbehörde.
Mein offensichtliches Unbehagen entlockt ihr ein noch breiteres Lächeln. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr Bradley. Ich bin Lara McKenzie von der SEC. Und ich bin hier, um Sie davon in Kenntnis zu setzen, dass gegen Sie ermittelt wird, und zwar wegen Insidergeschäften.«