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Lara
Woche 1: Dienstagnachmittag
Ich hole gerade meinen Tacker aus meiner Schachtel mit Bürozeug, als es an der Tür zum Konferenzraum klopft.
Ich schaue auf und ziehe überrascht die Brauen hoch, als ich den letzten Menschen, den ich erwartet hätte, in der Tür lehnen sehe.
Ian Bradley ist makellos gekleidet in einen hellgrauen Anzug mit schwarzer Krawatte, und er hält zwei schaumige Getränke in den Händen.
Ich klicke zweimal mit dem Tacker und mustere ihn im Versuch, ihn zu durchschauen. Sein Gesichtsausdruck ist freundlich, aber seine blauen Augen sind berechnend.
»Mr Bradley.«
»Ms McKenzie.« Er rührt sich nicht von der Stelle.
»Möchten Sie hereinkommen?«
Er grinst. »Möchten Sie dieses Klammergerät weglegen?«
Sobald ich das tue, tritt er vor, stellt eins der Getränke auf den Tisch und mit einer Drehung seines Handgelenks lässt er es über den Tisch schlittern. Wenn irgendjemand anderer das getan hätte, wäre der Becher umgekippt und das Getränk ausgelaufen, aber Ian lässt den Becher einfach perfekt über den Tisch und in meine wartende Hand gleiten.
Ich hebe den Starbucksbecher hoch und mustere ihn. »Wirklich. Bestechung?«
»Die Barista hat versehentlich zwei gemacht. Ich könnte den anderen einfach Kate geben …«
»Ah, ja, Ihre Assistentin«, stürze ich mich auf die unverfängliche Aussage. Ich hatte Kate Henley am vergangenen Tag kennengelernt, und mein erster Eindruck von der zierlichen Brünetten war, dass sie eins der besten Pokerfaces hat, die ich je gesehen habe.
Mein Urteil, nachdem ich heute versucht habe, sie zu einem Gespräch zu verleiten?
Das beste Pokerface, das ich je gesehen habe.
»Sie hat gesagt, dass sie seit fünf Jahren für Sie arbeitet«, füge ich hinzu.
»Mmh.« Er geht zum Fenster und schaut hinab. »Sie hat Ihnen das blöde Konferenzzimmer gegeben. Das andere hat eine bessere Aussicht.«
»Ich bin nicht wegen der Aussicht hier.«
»Nein, Sie sind wegen J-Conn hier«, erklärt er und dreht sich wieder um.
Es ist ein berechenbares Spiel, nach Informationen zu fischen. Na schön, er hat recht. Ich bin wegen J-Conn hier, und es überrascht mich nicht besonders, dass Wolfe dies an erster Stelle vermutet.
Aber das hier ist nicht mein erstes Rodeo.
Ich erwidere nichts, sondern halte sorgfältig Ausschau nach irgendwelchen Zeichen von Nervosität bei ihm und finde keine.
»Warum jetzt?«, fragt er leise. »Warum seid ihr wegen einer Firma hinter mir her, die vor zehn Monaten bankrottgegangen ist?«
»Ich habe nicht gesagt, dass es so ist.« Er wird es herausfinden, sobald ich anfange, Fragen zu stellen, aber das ist nicht heute. Und ich habe nicht die Absicht, dieses Spiel zu seinen Bedingungen zu spielen.
Nicht dass es ein Spiel wäre.
Aber wie er mich beobachtet und die Starbucksdrinks … offenbar hält er es für ein Spiel.
»In Ordnung, lassen Sie uns hypothetisch sagen, dass Sie wegen J-Conn hier sind«, spricht Ian glattzüngig weiter. »Was müsste passieren, um mich auf Ihren Radar zu bringen?«
Ich schiebe den Becher beiseite, ohne einen Schluck zu trinken. »Hypothetisch müssten wir eine Quelle haben«, antworte ich und erzähle ihm nichts, was er nicht bereits weiß. »Jemanden, der angedeutet hat, Sie hätten Insiderkenntnisse die Zukunft der Firma betreffend gehabt.«
»Wer ist die Quelle?«
Ich schnaube. »Wirklich. Sie bringen mir einen überteuerten Kaffee und denken, ich würde einfach alles erzählen?«
»Oder Sie könnten in Verzückung geraten.« Er zwinkert mir zu.
Diesmal verdrehe ich die Augen. »Ich habe gehört, dass Sie ein Frauenheld sind, aber ich gestehe, es fällt mir wirklich schwer, mir das vorzustellen.«
»Ach ja?« Er verschränkt die Arme und setzt sich auf die Kante des Konferenztischs. »Was haben Sie denn so gehört? Vielleicht dass ich verstehe, meine Hände einzusetzen? Dass ich, wenn ich mit einer Frau zusammen bin, immer dafür sorge, dass sie zuerst …«
Ich hebe eine Hand. »Stopp.«
Gütiger Gott, ist es heiß hier drin? Ich widerstehe dem Drang, einen Knopf meiner Bluse zu öffnen.
Er feixt, dann schaut er auf mein ignoriertes Getränk hinab. »Kosten Sie den Mokka, Ms McKenzie.«
»Nein, danke«, lehne ich energisch ab und versuche mir ins Gedächtnis zu rufen, dass ich Lara McKenzie von der SEC bin, nicht Lara-McKenzie, das Ian-Bradley-Groupie.
Er stößt einen verärgerten Seufzer aus, als sei ich ein widerspenstiges Kind, dann steht er auf und kommt auf mich zu. Einige Schritte entfernt bleibt er stehen, und ohne den Blickkontakt zu lösen, greift er nach dem Becher, den ich beiseitegeschoben habe, und hält ihn mir hin. »Kosten Sie.«
»Diese Höhlenmann-Methode funktioniert vielleicht bei anderen Frauen, aber …«
»Oh, jetzt kapiere ich«, unterbricht er mich und macht Anstalten, das Getränk beiseitezustellen. »Sie haben Angst. Sie mögen Ihre Linien gerade, Ihre Farben schwarz und weiß, Ihren Kaffee langweilig. Gott behüte, dass Sie etwas Neues ausprobieren, dass Sie ein wenig leben …«
Bevor ich mich bremsen kann, strecke ich die Hand aus und grapsche nach dem Getränk. Meine Finger streifen seine, und die Berührung ist so unerwartet elektrisierend, dass ich das verdammte Ding fast fallen lasse.
Er kommt eine Spur näher. Nicht um mich einzuengen oder einzuschüchtern oder zu küssen, sondern für eine wisperleise Verführung, die ungefähr eine Million Mal effektiver ist als seine bisherigen Anmachsprüche.
Für einen schrecklichen Augenblick möchte ich mich an ihn lehnen, möchte die Lippen über sein Kinn ziehen, ich möchte …
Nun, zur Hölle, durchzuckt mich die Erkenntnis. Der Mann ist vielleicht wirklich so gut wie sein Ruf.
Ich darf es ihn nur nicht wissen lassen. Ich werde es ihn nicht wissen lassen.
Ich bleibe, wo ich bin, lehne mich leicht an den Tisch und nehme Blickkontakt auf, während ich die Lippen öffne und den grünen Strohhalm in den Mund nehme. Ich trinke einen Schluck von dem kalten, herrlich süßen Getränk und stoße einen behaglichen Laut aus, wie ich ihn noch nie im Leben von mir gegeben habe.
In seinen Augen lodert Überraschung auf, dann Verlangen, und ein Weilchen habe ich keine Ahnung, wer hier wen verführt, wer dem anderen einen Schritt voraus ist.
Ian lächelt träge, ein Lächeln, das winzige Fältchen um seine Augen zaubert. »Gut gespielt, Ms McKenzie.«
»Zurück zu Ihnen, Mr Bradley.« Ich nehme einen Siegesschluck – der Kaffee ist wirklich köstlich. »Sie wollen sexy Katz und Maus spielen, das Spiel kann ich auch, und ich werde gewinnen.«
Ich wende mich ab, um weiter meine Schachtel auszupacken, als ich seine Finger spüre, die sich um mein Handgelenk legen und fest genug zufassen, um meine Aufmerksamkeit zu erregen, aber nicht so fest, dass es sich bedrohlich anfühlt. »Sie werden nicht gewinnen, Ms McKenzie. Ich habe zu hart gearbeitet, um wegen etwas, das ich nicht getan habe, verurteilt zu werden.«
Er ist gut, aber auch sauer, und ich nutze meinen Vorteil und hole zu einem Überraschungsangriff aus. »Ich weiß, dass Sie nicht mit Arnold Maverick im Bett waren«, sage ich. »Aber das heißt nicht, dass Sie keinen Kontakt zu ihm hatten.«
Ian blinzelt. »Wer zum Teufel ist Arnold Maverick?«
Verdammt, er ist gut. Er ist entweder ein wirklich guter Lügner oder … ehrlich.
»Arnold Maverick war der CEO von J-Conn«, erkläre ich.
Er denkt einen Moment lang nach, dann lässt er mein Handgelenk los, als er begreift. »Er war in den Nachrichten. Der Softwareguru, der vor einigen Monaten Selbstmord begangen hat. Sie glauben, er hätte mir den Tipp wegen J-Conn gegeben?«
Ich nehme noch einen Schluck von meinem Getränk und lasse mein Schweigen für mich reden. Ich werde weder bestreiten noch bestätigen …
Zu meiner Überraschung ist er nicht sauer und defensiv, sondern lächelt und ist wieder ganz der charmante Ian. »Lassen Sie mich sehen, ob ich das richtig verstanden habe … eine anonyme Quelle, die Sie nicht identifizieren wollen, behauptet, ich hätte einen Insidertipp von einem Angestellten von J-Conn bekommen, der jetzt tot ist und nichts bestätigen kann, weder so noch so. Das ergibt eine bequeme Anschuldigung, nicht wahr?«
»Wir folgen lediglich dem Protokoll, Mr Bradley.«
»Fantastisch«, murmelt er und stöbert in meinem Bürokram herum. »Wissen Sie, ich bin nicht der Einzige mit Sprüchen. Meine mögen von der Anmachvariante sein, aber sie sind erheblich besser als Ihr ausweichender SEC-Jargon.«
»Das war kein Spruch …«
»Und ob es einer war«, unterbricht er mich und greift nach einem Stift und einem Block mit Post-its. Er kritzelt etwas auf ein Blatt, wirft den Stift zurück in die Kiste und gibt mir den Klebezettelblock.
Ich schaue hinab, als er aufsteht. »Was ist …«
»Meine E-Mail-Zugangsdaten – bei der Arbeit und privat. Darauf haben Sie doch sehnlichst gehofft. Ich habe nichts zu verbergen.«
Ich starre immer noch überrascht auf das Post-it, als er davonschlendert und sich noch einmal umdreht, nachdem er die Tür zum Konferenzraum bereits geöffnet hat.
»Oh, und Ms McKenzie.«
Ich hebe den Blick.
»Auf meinem persönlichen E-Mail-Konto befinden sich einige unartige Fotos. Viel Spaß damit.« Er zwinkert mir zu.
Verdammt. Ich hasse es zu wissen, dass ich sie wahrscheinlich öffnen werde.