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Ian
Woche 1: Donnerstagmorgen
»Alter.« Matt verlangsamt seinen Schritt und läuft locker neben mir her. »Als du gefragt hast, ob ich joggen gehen will, hättest du erwähnen können, dass du versuchst, einen olympischen Rekord aufzustellen.«
»Du hast vier Ironmans hinter dir«, stelle ich fest und gebe mir Mühe, wieder zu Atem zu kommen.
»Genau. Weil mir die Schwimmerei und das Fahrradfahren gefallen. Wenn mir das Laufen gefallen würde, würde ich Marathon laufen wie Prefontaine damals.«
Ich verlangsame mein Auslauftempo, bis ich nur noch gehe. »Hey, Kennedy«, rufe ich. »Lass gut sein!«
Mein anderer bester Freund schaut nicht zurück, aber ich weiß, dass er mich gehört hat, weil er sein verdammtes Sprinttempo verlangsamt, bis auch er nur noch geht, und dann stehen bleibt und darauf wartet, dass Matt und ich ihn einholen.
Kennedy ist nicht einmal eine Spur außer Atem, zum Teufel mit dem Mann. Wir sind alle gut in Form, aber von uns dreien ist Kennedy der Läufer. Bei Matt geht es nur ums Gewinnen, und ich … nun, um ehrlich zu sein, ich mag einfach eine gute, altmodische Stunde im Fitnessstudio, vorzugsweise mit einer heißen Trainerin.
Aber heute habe ich die Jungs überredet, mit mir zu laufen. Ich sehe sie im Büro zwar ständig, doch heute brauche ich sie als Freunde, nicht als Kollegen.
Und es gibt keine besseren Freunde als diese beiden Männer.
Matt Cannon, Kennedy Dawson und ich sind alle gemeinsam bei Wolfe groß geworden. Wir haben im selben Jahr angefangen und im selben Großraumbüro gearbeitet, sogar als wir noch Rivalen waren. Als Investmentbanker steigst du entweder auf oder bist raus – du schaffst es auf den nächsten Level, kriegst einen Burn-out oder wirst verdrängt.
Wir haben es alle drei geschafft. Wir sind immer noch Rivalen und kämpfen um dieselben Klienten, dieselben Budgets, aber wir sind trotzdem Freunde. Verdammt, vielleicht sind wir gerade deswegen Freunde. Wir sind alle auf unsere eigene Art und Weise Kämpfer.
Matt ist das Hirn. Und er ist jetzt achtundzwanzig und damit jünger als Kennedy und ich, aber jeder, angefangen vom kleinsten Aktienhändler bis zum CEO in der obersten Etage hält ihn für ein Wunderkind. Der kleine Scheißer hat weiß Gott wie viele Klassen übersprungen, im Alter von neunzehn Jahren seinen Abschluss an der Cornell-University gemacht, dann hat er mit zweiundzwanzig die Wall Street im Sturm erobert.
Zu Matts großem Glück wissen die Frauen von New York City, dass er inzwischen erwachsen ist. Blond, blauäugig, charmant und abscheulich clever ist der Mann eine fast so große Hure wie ich.
Und wenn Matt durch sein Hirn hierher gelangt ist und ich durch schiere Willenskraft und harte Arbeit, ist Kennedy Dawson eine große Nummer in der Wall Street, einfach weil es sein verdammtes Schicksal ist.
Anders als der blonde Matt, sind der dunkelhaarige Kennedy und seine Familie seit einer Ewigkeit im Finanzgeschäft, sein Treuhandvermögen ist groß genug, um sicherzustellen, dass er heute kündigen könnte und trotzdem mehr Geld hätte, als Matt und ich zusammen in unserem ganzen Leben jemals sehen werden.
Doch es ist mehr als das Bankkonto. Kennedy stammt von altem Geld ab, und das merkt man. Seine Wohnung hat eine gottverdammte Bibliothek, seine Mutter trägt Perlen, er trinkt nur Single-Malt-Scotch, er ist Mitglied in zwei verschiedenen Country Clubs, und er sieht aus wie einer der Kennedys (nach dem er benannt ist).
Er ist auch ein kleiner Nerd. Er steht auf Museen, und seine Vorstellung von einem wilden Freitagabend ist die Lektüre eines Philosophiebandes und eines Geschichtsbuches über den Zweiten Weltkrieg. Wenn es uns doch einmal gelingt, ihn zum Feiern mitzuschleppen, bemerkt er garantiert nicht einmal, wie gnadenlos die Frauen hinter ihm her sind und über die Grübchen, die er lächerlich findet, in Verzückung geraten.
Matt beginnt ein Stretching. »Echt, du bist gerannt, als sei der Teufel hinter dir her.«
»Wenn die SEC dir im Nacken sitzen würde, würdest du auch rennen«, wirft Kennedy ein.
»Ich bin gerannt.«
»Da hättest du mich doch glatt täuschen können«, sagt Kennedy, lehnt sich gegen das Geländer am Kai des Hudson Rivers und sieht nach einem Fünfmeilenlauf genauso tipptopp aus wie im Büro.
Matt zeigt Kennedy einen Vogel, dann richtet er seine Aufmerksamkeit wieder auf mich. »Also, was ist der Plan? Wie waschen wir deinen Namen rein?«
Sehen Sie? Das ist Loyalität. Ich habe Ihnen gesagt, dass diese Männer verlässlich sind. Kein einziges Mal, seit diese Sache angefangen hat, haben sie gedacht oder auch nur angedeutet, das Ganze könne etwas anderes sein als beschissenes Pech.
Ich stütze mich auf das Geländer, senke das Kinn auf die Brust und hole tief Luft. »Ich habe keine Ahnung, Mann.«
»Wer ist dein Anwalt?«, fragt Kennedy.
»Weiß ich noch nicht.«
»Verdammt, Ian. Du brauchst einen Anwalt.«
Ich schaue verärgert auf. »Ja, vielen Dank für die brillanten Worte der Weisheit, Dad. Ich habe gesagt, ich weiß es noch nicht, nicht dass ich mir keinen besorgen würde.«
»Du hast am Montag von der Untersuchung erfahren. Heute ist Donnerstag. Was zum Teufel hast du gemacht, wenn du dich nicht mit einem Anwalt bewaffnet hast?«
»Er hat mit der SEC geflirtet«, wirft Matt ein.
Kennedy knurrt: »Was?«
Matt bedenkt mich mit einem dicken, fetten Grinsen, während ich ihn anfunkele.
»Kate hat mich ins Bild gesetzt. Alter, du hast ihr einen Frappuccino spendiert? Das war dein großartiger Plan?«
Kennedy legt sich beide Hände auf seinen üppigen Haarschopf und dreht sich aufgeregt im Kreis.
»Am Anfang habe ich sie auf dem falschen Fuß erwischt. Ich habe versucht, das wiedergutzumachen«, verteidige ich mich, während wir uns auf den Rückweg zu unseren jeweiligen Wohnungen machen.
»Blödsinn«, sagt Matt. »Du hast versucht, den berüchtigten Ian-Charme bei ihr einzusetzen, in der Hoffnung, dass sie Milde walten lassen würde.«
Kennedys Arme sacken herab. »Sag mir, dass er Witze macht. Sag mir, dass es eine andere Erklärung dafür gibt, warum du dir nicht die Zeit genommen hast, nach einem Anwalt zu suchen, statt der SEC Getränke mit Schlagsahne zu servieren.«
»Zu Ians Verteidigung möchte ich erwähnen, dass Schlagsahne mich zu so manch interessanter Begegnung mit Frauen geführt hat«, bemerkt Matt und hebt die Hände zu einer Dehnübung über den Kopf.
Verdammt. Jetzt muss ich mir wegen einer Vision von Lara McKenzie, nur bekleidet mit Schlagsahne und ihrer Bibliothekarinnenbrille, ein Stöhnen verkneifen.
»Unser Grandpa hier hat jedoch recht. Du brauchst wirklich auf der Stelle einen Anwalt«, sagt Matt, dessen Gesicht ernst geworden ist. »Kate hat alle Details ausgegraben, die es über diese Frau zu wissen gibt. Sie ist gut. Verliert keine Fälle, zögert keinen Augenblick, vermasselt nichts wegen einer Formalität. Macht keinen Rückzieher. Niemals.«
»Klingt nach jemandem, den wir kennen«, stellt Kennedy mit einem vielsagenden Blick in meine Richtung fest.
»Genau, weil ihr zwei so umgängliche Menschen seid«, blaffe ich und verliere langsam die Geduld mit dem Vortrag. »Hört mal, ich arbeite daran.«
»Arbeite härter. McKenzie wird dich ins Gefängnis schicken, wenn sie kann, Mann.«
Ich reibe mir das Gesicht, während Matt Kennedy einen Boxhieb versetzt. »Das hättest du dir jetzt auch verkneifen können.«
»Er muss die Sache ernst nehmen«, blafft Kennedy zurück.
Das reicht jetzt. »Ich nehme die Sache ernst. Ich weiß, dass ich tief in der Scheiße sitze. Denkt ihr, ich hätte mir die beiden letzten Tage den Daumen in den Hintern gesteckt? Ich habe ein Dutzend Telefonanrufe getätigt …«
»Spar dir die Mühe«, unterbricht Kennedy mich. »Du brauchst Vanessa Louis.«
»Oh, definitiv«, stimme ich ihm zu. »Vorher fange ich noch ein Einhorn.«
»Du wirst es nicht wissen, bis du es versuchst …«
»Ich habe es versucht. Denkst du, ich hätte nicht als Erstes an sie gedacht?«, gebe ich zurück. Vanessa Louis ist die beste Strafverteidigerin im Wirtschaftsrecht in der Stadt, das weiß jeder. »Ihr Büro hat gesagt, sie habe mich auf die Warteliste gesetzt. Ihr zwei seid gut mit Zahlen … verratet mir, wenn ich der Sechsundachtzigste auf der Liste bin, wie gut stehen meine Chancen?«
»Erheblich besser, wenn du ein wenig Hilfe hast«, sagt Kennedy.
»Guter Plan, Dawson. Ich werde einfach einige Münzen in einen Wunschbrunnen werfen. Besser noch, kennt jemand von euch einen Dschinn?«
»Ich habe mehr an so etwas gedacht wie Hinzuziehung der besten Problemlöserin der Stadt«, sagt Kennedy.
Matt stöhnt. »Nein. Jeder andere, nur nicht …«
»Ich habe nicht gesagt, dass du mit ihr sprechen musst«, bemerkt Kennedy.
Wir drei sind weitergegangen, während wir geredet haben, daher stehen wir jetzt vor meinem Wohnhaus. Ich wippe ein wenig auf den Fersen zurück und grüble über Kennedys Vorschlag nach. »So eine schlechte Idee ist das gar nicht.«
Eine, die mir zuerst hätte einfallen sollen, wenn ich nicht so abgelenkt gewesen wäre …
»Es ist eine verdammt gute Idee«, beteuert Kennedy. »Ruf sie an. Und um der Liebe Christi willen, rede nicht noch einmal mit der SEC, bevor du einen Anwalt hast.« Kennedy läuft bereits langsam weiter zu seinem eigenen Wohnhaus einige Blocks entfernt. »Cannon, versuch Schritt zu halten.«
Matt funkelt Kennedys Rücken an, dann nickt er mir zum Abschied zu.
Ich hebe grüßend die Hand und betrete meine Lobby, dankbar für den Schwall klimatisierter Luft. Dankbar, wie ich es an jedem verdammten Tag bin, ein Dach überm Kopf zu haben, das ich mein Eigen nennen kann – eins, bei dem ich mir keine Sorgen zu machen brauche, am nächsten Tag hinausgeworfen zu werden, wenn jemand meiner müde wird.
Ja, ich weiß. Pflegekindprobleme. Aber Sie hätten sie ebenfalls. Glauben Sie mir.
Die Halle ist groß und modern, die Einrichtung vom Feinsten. Das Gebäude hat achtundfünfzig Stockwerke. Ich wohne im sechsundfünfzigsten. Es ist nicht das Penthouse, aber hey, wie wir bereits festgestellt haben, lassen Herausforderungen mich aufblühen.
Ich öffne die Tür zu meinem Wohnzimmer und werfe die Schlüssel auf den Beistelltisch. Meine Wohnung ist der Inbegriff einer Junggesellenbude – großer Fernseher, schwarzes Ledersofa, Sideboard, Barwagen, großes Bett, das ganze Drum und Dran.
Ich schenke mir ein Glas Wasser ein und kippe es mit drei Riesenschlucken hinunter, während ich auf meinem Handy meine E-Mails checke. Da ist eine von einem One-Night-Stand vor einigen Monaten, nicht jugendfrei, ein Kussgesicht-Emoji und ein Foto von ihr in ihrem Bett. Nackt.
Ich grinse, als mir wieder einfällt, dass Lara McKenzie Zugang zu meinen E-Mails hat. Das sollte ihre prüde kleine Welt ordentlich durchblasen.
Mein Schwanz zuckt, und ich begreife meinen Fehler – an Lara zu denken und gleichzeitig an blasen. Verdammt.
Was ist das nur mit dieser Frau?
Dass ich sie nicht haben kann? Dass sie mich nicht will? Ich nehme eine Dusche, während derer ich mich um die Angelegenheit kümmere, wenn Sie wissen, was ich meine, während ich mir Lara McKenzie in nichts als Schlagsahne und Brille vorstelle. Dann ziehe ich Boxershorts und ein Unterhemd an, bevor ich in die Küche gehe, um mir einen Kaffee zu machen.
Mein Handy summt. Eine Nachricht von Kennedy. Ruf sie an.
Es ärgert mich, aber er hat recht. Ich brauche einen Anwalt, und nicht nur einen guten. Ich brauche den besten. Ich brauche Vanessa Louis.
Kennedy liegt außerdem richtig damit, dass ich Lara McKenzie ignorieren muss, bis ich einen Rechtsbeistand habe. Ich würde gern denken, dass ich jeder Falle ausweichen kann, die sie mir stellt, aber ich wäre ein Idiot, meine Willenskraft mit einer Frau zu messen, die mein Blut so in Wallung bringt wie Lara.
Ich scrolle durch meine Favoriten, bis ich die Nummer finde, nach der ich gesucht habe.
»Hey«, sage ich in der Sekunde, als sie nach dem Hörer greift. »Ich brauche dich.«