13
Ian
Woche 2: Freitagabend
Meine Anwältin wird mich umbringen.
Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass die Bosse mit ihrer Anweisung, mit der SEC zusammenzuarbeiten, nicht das hier im Sinn hatten.
Ein Abendessen in einem behaglichen französischen Bistro im East Village ist zudem nicht gerade das, was ich geplant hatte. Hölle, ich erinnere mich nicht einmal an meinen Plan. Er ist verpufft, sobald ich hereinkam und Lara ganz allein dasitzen sah und sie so unerwartet zerbrechlich wirkte, dass mir das Herz wehtat.
Ich hätte mich umdrehen und wieder gehen sollen.
Stattdessen hat mich das vollkommen seltsame Verlangen gepackt, sie von der Verlegenheit abzulenken, dass man sie versetzt hatte. Ich habe dem Burschen eine halbe Stunde gegeben, aufzutauchen und sie zum Lächeln zu bringen.
Er ist nicht aufgetaucht.
Blödmann.
Oder vielleicht bin ich der Blödmann. Denn obwohl Lara im Moment die drohende Wolke verkörpern dürfte, die über mir steht, muss ich, selbst wenn ich sie erwürgen möchte, zugeben, dass sie gut aussieht. Okay, mehr als gut.
Ihr Haar ist zu seinem gewohnten Pferdeschwanz frisiert, aber sie hat den Pferdeschwanz auf eine Seite gezogen und über ihre Schulter drapiert – eine nackte Schulter, dank des trägerlosen Kleides, das nicht tief genug ausgeschnitten ist, um mich zu peinigen, das aber so eng ist, dass es gewisse Fragen aufwirft, die ich mir nicht stellen sollte.
Ein Kellner nähert sich uns. »Kann ich Ihnen etwas zu trinken
bringen, Sir?«
»Ich nehme, was sie trinkt«, antworte ich und deute mit dem Kopf auf den Wein.
»Sehr gut. Soll ich den Gruß aus der Küche bringen, oder lassen wir uns Zeit?«
Lara öffnet den Mund, aber ich komme ihr zuvor. »Wir lassen uns definitiv
Zeit.«
Sie verdreht die Augen, als der Kellner unterwürfig nickt und sich zurückzieht. »Sehr wohl, Sir.«
»Also«, beginne ich und beuge mich vor. »Ich werde den Anfang machen. Wen wollten Sie heute Abend treffen?«
»So nicht«, entgegnet sie kühl und nippt an ihrem Wein. »Ich werde mit den Fragen anfangen. Sie haben gesagt, Sie hätten Arnold Maverick nicht gekannt. Sind Sie sich sicher
, dass Sie niemals seinen Weg gekreuzt haben?«
»Ja, hundertprozentig sicher. Ich habe den Mann nicht gekannt. Also, ist das ein fester Freund, mit dem Sie sich treffen wollten, oder …«
»Was ist mit einer Verbindungsperson zu Mr Maverick?«, hakt sie nach. »Jemand, den sie beide kannten?«
»Eine Frage für eine Frage, Ms McKenzie. Das ist der Deal.«
Sie stößt einen frustrierten Atemzug aus, gibt aber nach. »Es war ein Blind Date.«
»Wer hat es für Sie arrangiert?«
»Gabby, meine beste Freundin. Sie kann ein wenig … penetrant sein. Sie macht das ständig und versteht nicht, warum ich nicht genauso bin.«
»Aber Sie haben zugestimmt.«
Lara dreht den Stiel ihres Weinglases zwischen den Fingern und beobachtet, wie der Wein darin sachte von einer Seite zur anderen schwappt. »Ja, es ist eine Weile her, seit …« Sie reißt den Kopf hoch. »Einen Moment. Das war mehr als eine Frage.«
»Hoppla.« Ich grinse.
Ihre Augen werden hinter ihren Brillengläsern schmal, und sie beugt sich vor. »Also, Sie haben Maverick nicht gekannt. Aber Sie müssen jemanden von J-Conn gekannt haben. Es war eine riesige Firma und …«
»Hilfe, Frau, Sie sind wie ein Hund mit einem Knochen.«
Sie mustert mich. »Wenn Sie diese Sache nicht ernst nehmen, Mr Bradley …«
»Niemand
«, blaffe ich. »Ich kenne keine einzige verdammte Person von J-Conn, Ms McKenzie. Ich habe keinen Insidertipp bekommen. Sie können mir glauben oder es lassen, aber es ist die verdammte Wahrheit.«
Ich lehne mich auf meinem Stuhl zurück und nicke dankbar, als der Kellner mir meinen Wein bringt und wieder geht.
»Lieblingsgericht.«
Sie blinzelt. »Was?«
»Was ist Ihr Lieblingsgericht?«
»Warum wollen Sie das wissen?«
»Oh Mann, sind Sie störrisch. Na schön, warum die SEC?«
Sie mustert mich einen Moment lang. »Pizza.«
Ich versuche so angestrengt, ihren Körper in diesem Kleid nicht näher anzuschauen, dass ich einen Moment brauche, um zu registrieren, dass sie etwas gesagt hat. »Was?«
»Mein Lieblingsgericht ist Pizza. Wie haben Sie es geschafft, Vanessa Louis als Ihre Anwältin zu bekommen?«, fragt sie.
Eine halbe Sekunde lang fühle ich mich versucht, hämisch zu grinsen – dass ich die beste Anwältin im Business für mich gewinnen konnte, ist ein Sieg, und das wissen wir beide. Aber aus Gründen, die zu analysieren ich keine Lust habe, ist mir nicht nach einem hämischen Grinsen zumute. Mir ist nicht danach zumute, gegen Lara zu arbeiten.
Ich möchte, dass sie mich als etwas anderes sieht als den verdammten Fall.
»Charme?«, sage ich neckend als Antwort auf ihre Frage.
»Man braucht mehr als Charme, um jemanden wie Ms Louis auf seine Seite zu ziehen«, entgegnet Lara und beobachtet mich eingehend.
»Verdammt richtig. Sie muss glauben, dass sie einen Freispruch erwirken kann. Denn Sie wissen genauso gut wie ich, dass Vanessa Louis nur Mandanten annimmt, von denen sie weiß, dass sie unschuldig sind.«
»Von denen sie denkt,
dass sie unschuldig sind«, korrigiert sie
mich. »Also, wenn Sie niemanden bei J-Conn gekannt haben, wieso hatten Sie dann solches Glück, als die Firma pleitegegangen ist?«
Eigentlich ist sie nicht damit an der Reihe, eine Frage zu stellen, aber ich antworte trotzdem, weil es etwas ist, was sie hören muss, auch wenn sie mir nicht glaubt. »Gutes, altmodisches Bauchgefühl«, sage ich. »Es hat mich beunruhigt, dass J-Conn so lange eine angeblich große Entwicklung immer nur angekündigt hatte. Alle anderen haben die Behauptung, dass sie ein revolutionäres Produkt auf den Markt bringen würden, einfach so hingenommen. Ich nicht. Mein Bauch hat mir gesagt, dass sie nicht das nächste Facebook oder iPhone im Ärmel hatten, daher habe ich verkauft, als alle anderen zu hohen Preisen gekauft haben.«
»Also hat ein Bauchgefühl
Ihnen und Ihren Klienten Millionen Dollar gerettet«, meint sie kopfschüttelnd. Sie nimmt noch einen Schluck von ihrem Wein und runzelt die Stirn, als sie sieht, dass das Glas fast leer ist.
»Sie glauben nicht an Intuition?«
»Ich glaube an Tatsachen, Mr Bradley. Intuition ist nicht mehr als Ihr Unterbewusstsein, das sich an etwas erinnert, das Ihr Bewusstsein vergessen hat und das dann umdeklariert wird.«
Aha.
Ich mustere sie einen Moment lang, als ein entscheidendes Stück des Lara-McKenzie-Puzzles an seinen Platz rückt. Ich bin diese Sache angegangen wie ein Spiel: Gewinner, Verlierer, Jäger, Beute.
Für Lara ist es etwas anderes. Es heißt wahr oder falsch, Recht oder Unrecht.
»Warum sehen Sie mich so an?« Sie rutscht unbehaglich auf Ihrem Stuhl hin und her.
»Die Welt ist nicht schwarz und weiß, Ms McKenzie.«
»Vielleicht nicht für Sie«, entgegnet sie.
Und da ist sie, die Wurzel dieses Schlamassels: Wir leben nicht in derselben Welt. Oder zumindest sehen wir die Welt nicht durch dieselbe Brille.
Die plötzliche Erkenntnis, dass unsere Realitäten vielleicht inkompatibel sein könnten, fühlt sich … inakzeptabel an.
Der Kellner kommt herbei und unterbricht meinen Gedankengang. »Noch ein Glas Wein, Miss?«
Sie sieht mich an, und als unsere Blicke sich treffen, geschieht
etwas zwischen uns – ein stummes Eingeständnis von …
Hölle, ich weiß es nicht. Begehren? Dem Wunsch, die Dinge könnten anders sein?
»Ja, okay«, sagt sie langsam. »Noch ein Glas Wein.«
Ich hebe mein Glas und nippe daran, um mein Lächeln zu verbergen, als der Kellner sich entfernt. »Also, warum die SEC?«
»Wie lange dauert dieses Spiel noch?«
»Nachdem Sie diese Frage beantwortet haben, bekommen wir jeder noch eine weitere.«
Sie verdreht die Augen. »Na schön. Ich bin bei der SEC, weil mich das meinem Traumjob näher bringt.«
»Und der wäre …?«
Sie zeigt auf mich und lächelt. »Das ist Ihre letzte Frage.«
Ich zucke die Achseln. »Okay.« Es überrascht mich ein wenig, dass ich wirklich mehr darüber wissen will, was diese vielschichtige Frau motiviert, die von Struktur und Regeln angetrieben wird. Ich weiß, dass es nicht das Geld ist. Die SEC bezahlt beschissen.
»Das FBI«, sagt sie.
Ich verschlucke mich an meinem Wein. »Was?«
»Sie haben mich danach gefragt, was mein Traumjob ist – es ist das FBI.«
»Oh Gott«, murmele ich und wische mir mit meiner Serviette das Gesicht ab. »Ich glaube, ich muss dieses Dinner noch einmal überdenken …«
Sie lächelt. »Keine Sorge. Ich war nicht in Quantico. Noch nicht.«
»Das ist zugegebenermaßen nicht mein Fachgebiet, aber inwiefern führt die SEC zu einem Job beim FBI?«
»Nun, genau genommen will ich in die Abteilung für Wirtschaftskriminalität. Sie arbeitet eng mit der SEC zusammen, daher überlappt sich das stark.«
»Warum dann überhaupt wechseln?«
Sie beißt sich auf die Unterlippe und sieht dann auf. »Meine Eltern sind beim FBI.«
»Alle beide?«, frage ich und kann meine Überraschung nicht verbergen.
»Ja. Ich bin in Washington DC geboren und aufgewachsen. Sie wohnen beide immer noch dort, sind beide immer noch aktiv beim
FBI.«
Verdammt. »Ich wette, Sie hatten in Ihrer Jugend null feste Freunde.«
Ihr Kopf ruckt ein wenig zurück, und mir wird klar, dass ich einen Nerv getroffen habe. Scheiße.
Ich bin normalerweise geschickter.
»Ich meinte einfach, dass das bestimmt ziemlich einschüchternd war«, versuche ich zu erklären. »Jeder Junge, der ein Mädchen zum Schulball einlädt, befürchtet insgeheim, dass ihr Dad eine Pistole hat. Ihre Eltern hatten beide eine.«
Sie sieht mich über den Rand ihres Glases hinweg an. »Haben Sie es getan?«
»Habe ich was getan?«
»Zum Schulball gehen.«
Diesmal hat sie einen Nerv getroffen, und ich bin dran mit Zusammenzucken. »Nein. Aber andererseits wussten Sie das wahrscheinlich schon.«
»Nein, wusste ich nicht. Meine Recherchen Ihre Vergangenheit betreffend begrenzen sich auf Details, die relevant sein könnten. Verwandte bei J-Conn und so weiter.«
»Sie wissen also, dass ich keine Verwandten habe«, erwidere ich und nehme einen gesunden Schluck Wein.
»Das mit Ihren Eltern tut mir leid«, sagt sie leise.
»Ja. Ich war jung. Ich erinnere mich kaum an sie.«
»Was ihren Verlust bei einem Autounfall umso tragischer macht.« Sie beugt sich vor.
»Ist das der Teil Ihrer Nummer, bei dem Sie den guten Cop spielen?«
Sie lehnt sich zurück und schaut mich an. »Hübsch, Mr Bradley. Sich wie ein Mistkerl zu benehmen, ist eine solide, reife Art, mit Ihrem Schmerz fertig zu werden.«
Ich beiße mir auf die Innenseite meiner Wange, und es fuchst mich, dass sie recht hat. Schneidender Humor ist meine übliche Reaktion auf Bemerkungen über meine Kindheit – sowohl was den Tod meiner Eltern als auch was das Pflegekindstigma betrifft, das folgte.
»Ich habe ein Mädchen zum Schulball eingeladen«, antworte ich. »Sie hat Ja gesagt; ihre Eltern haben Nein gesagt.«
Scheiße. Warum habe ich das gesagt? Das habe ich niemandem erzählt … noch nie.
»Warum haben sie Nein gesagt?«
Eine sarkastische Abwehr rutscht mir beinahe heraus, aber ich schlucke sie herunter und kämpfe gegen den denkbar seltsamsten Drang an … offen zu sein. Ehrlich. Ich will, dass Lara mich so kennt, wie ich sie gern kennenlernen möchte.
Also gebe ich ihr einen aufrichtigen, wenn auch kurzen Einblick. »Selbst nach den Maßstäben der schlechten Gegend, in der ich aufgewachsen bin, habe ich auf der falschen Seite der Gleise gewohnt. Nette Mädchen gehen nicht mit Pflegekindern aus dem Wohnwagenpark auf Bälle.« Ich zwinge mich zu einem Lächeln. »Aber sehen Sie mich jetzt an.«
Sie erwidert das Lächeln, doch es ist ein schwaches Lächeln, und ihr wachsamer Blick bringt mich auf den Gedanken, dass sie etwas sieht, das sonst niemand sieht – nicht einmal Sabrina.
»Ich bin heute Abend versetzt worden«, sagt sie nach einem langen Moment des Schweigens.
»Ich weiß.«
»Haben Sie das vorhin schon gewusst?«
»Ich habe eins und eins zusammengezählt. Er ist ein Narr.«
»Nein.« Sie lächelt noch einmal dieses schwache Lächeln und trinkt den letzten Schluck ihres Weines. »Nur ein Baseballfan.«
»Mets oder Yankees?«
»Yankees.«
»Na bitte.« Ich breite die Hände aus. »Sie sind ohne ihn besser dran.«
»Sind Sie ein Fan der Mets?«
»Was, das steht nicht in meiner Akte?«, necke ich sie.
»Viele Dinge stehen nicht in Ihrer Akte.«
»Wie zum Beispiel?«
Sie zögert. »Die Frau, mit der ich Sie beim Mittagessen gesehen habe …«
»Sabrina Cross, eine Freundin aus Philly.«
»Stehen Sie zwei sich … nahe?«
Ich beuge mich mit einem trägen Lächeln zu ihr vor. »Ist hier professionelle Neugier am Werk, Ms McKenzie, oder etwas anderes?«
Ihre einzige Reaktion besteht darin, ihre Speisekarte zu öffnen und hineinzuschauen, was die verräterischste von allen ist.
Offensichtlich bin ich nicht der Einzige, der hier mit einer verbotenen, unerwünschten Anziehung zu kämpfen hat.
Ich bin hin- und hergerissen zwischen Bedauern und Erleichterung, denn sie ist bei der SEC, ich an der Wall Street – wir sind ungefähr so kompatibel wie ein Wolf und ein Lamm.
Wobei ich beim besten Willen nicht sagen könnte, wer in diesem Szenario wer ist.