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Lara
Woche 3: Freitagmorgen
Ich werde halb blind bei der Lektüre sterbenslangweiliger E-Mails, als ein riesiger Frappuccino vor meiner Nase erscheint.
Ich muss von dem schaumigen Starbucksgetränk zu der Person aufschauen, die es mir bringt, und ich sehe zweimal hin, bevor ich registriere, dass sie es ist.
Kate lässt sich auf den Stuhl auf der gegenüberliegenden Seite des Konferenztischs fallen und nimmt einen Schluck von ihrem eigenen Getränk. »Das ist ein Friedensangebot, Ms McKenzie.«
»Entweder das oder Diabetes in einem Plastikbecher«, erwidere ich, greife danach und deute auf den Schlagsahnehügel. »Sind das Schokostreusel?«
»Allerdings. Und tun Sie nicht so, als würden Sie ihn nicht wollen. Ian hat Ihre Tarnung auffliegen lassen.«
Ich lege den Kopf schräg und überlege, ob ich wissen will, was Ian seiner Assistentin erzählt hat. Ich hoffe bloß, nicht viel, damit ich wenigstens einen Hauch von Professionalität aufrechterhalten kann. Andererseits will ich wissen, ob ihn unser Abendessen in der vergangenen Woche genauso verwirrt hat wie mich.
»Wegen des Kaffees«, fährt Kate fort und wirft mir einen neugierigen Blick zu, »er hat erzählt, er hätte Ihnen vor einigen Wochen einen gebracht.«
Oh. Stimmt. Stimmt ja.
Ich nippe an dem Frappuccino und versuche meine Verlegenheit zu überspielen. Er ist diesmal noch umwerfender. Kalt und süß und voller Koffein.
»Glauben Sie, dass so das Paradies schmeckt?«, frage ich, eine Frage, die mehr an mich selbst gerichtet ist als an sie.
Kate denkt ernsthaft darüber nach. »Entweder so oder wie Käsepommes. Oder wie in diesem Lokal im Village, das Eiscreme aus Keksteig anbietet.«
»Oder wie ein wirklich gutes Croissant. Eins, das buttrig und außen knusprig ist und dann fluffig im Innern.«
Sie zeigt mit ihrem Strohhalm in meine Richtung. »Ja.
So wie sie sie in Paris haben.«
Ein kleiner Anflug von Sehnsucht durchzuckt mich. »Ich bin nie dort gewesen, aber ja … ich kann es mir vorstellen.«
Sie zuckt die Achseln. »In New York gibt es auch ziemlich gute. Aber wenn Sie Croissants lieben, müssen Sie nach Paris gehen.«
Ich nippe noch einmal an meinem Frappuccino. »Eines Tages.« Nachdem ich beim FBI gelandet bin und mir den Arsch aufreiße, um in der Nahrungskette aufzusteigen und mir einen Urlaub und genug Geld für besagten Urlaub zu verdienen …
Kate nimmt einen langen Schluck aus ihrem Strohhalm und saugt die Wangen ein, während sie mich beobachtet. »Paris klappt nicht, hm? Ist es das Geld oder die Zeit, an denen es Ihnen mangelt?«
Ich lache leise über ihre Unverblümtheit. »Beides. Sie reden ja nicht gerade um den heißen Brei herum.«
»Nicht so sehr, nein. Fünf Jahre Babysitting bei meinen Jungs« – sie deutet durch das Büro – »haben jede Unze Taktgefühl, das ich einst besessen habe, ausgelöscht, und das war ohnehin nicht viel.«
»Haben sie Sie hierher geschickt?«
Sie stellt ihren Becher auf den Tisch und rollt ihn zwischen den Händen. »Es könnte
der Vorschlag geäußert worden sein, dass Sie in Gegenwart einer Frau vielleicht eher in ihrer Wachsamkeit nachlassen würden.«
»Hm, klar. Weil wir Mädels insgeheim nichts anderes wollen, als Schokolade zu essen und über Jungs zu tratschen.«
Sie lacht. »Genau das habe ich Kennedy auch gesagt, nämlich dass er uns beide mit dem Vorschlag beleidigen würde. Aber da er sechs Dollar pro Becher für diese Drinks bezahlt hat, habe ich eingewilligt, Sie auszuhorchen.«
»Aber leider werde ich Ihnen nichts erzählen«, füge ich hinzu und lächele, um es ins Harmlose zu ziehen.
»Ja, ich weiß. Aber ich werde trotzdem ein Weilchen hier sitzen
bleiben.« Sie lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück. »Es ist einfach …« Sie atmet aus. »Brauchen Sie nicht auch mal eine Pause? Kennen Sie das Gefühl, dass man bloß für seinen Job lebt, nur um eines Tages aufzuwachen und zu begreifen, dass man praktisch überhaupt nicht lebt?«
Nicht bis vor Kurzem. Nicht bis zu Ian.
Der Gedanke ist so fremdartig, so abwegig, dass ich überrascht blinzele. Es kann doch nicht sein, dass ich zugelassen habe, dass ein Mann, den ich keine drei Wochen kenne, mir so unter die Haut geht.
»Mögen Sie Ihren Job nicht?«, frage ich, damit ich nicht irgendetwas sage, das ich besser nicht sagen sollte.
»Oh doch, ich schätze ihn. Mir fällt nichts ein, was ich lieber tun würde. Er macht einfach« – sie sticht mit dem Strohhalm in die gefrorene Flüssigkeit – »einsam, vermute ich.«
»Kein fester Freund? Eine Freundin?«, frage ich, weil ich keine voreiligen Schlüsse ziehen will.
»Nichts in der Art.« Sie spricht ein wenig abgehackt, was mir verrät, dass hinter der Geschichte mehr steckt.
»Gibt es jemanden, für den Sie sich interessieren?«, hake ich nach. Ich halte die Frage beiläufig, obwohl ich bereits eine gute Vorstellung davon habe, wem ein Stück von Kate Henleys Herzen gehört. Die Frage ist, ob sie es selbst überhaupt weiß.
Ihre Augen verdunkeln sich kurz. Oh ja, sie weiß es.
Aber statt meine Frage zu beantworten, sieht sie mich an. »Was ist mit Ihnen? Sind Sie mit jemandem zusammen?«
»Nein.« Ich lege die Lippen um meinen Strohhalm.
Sie mustert mich. »Ian ist ein guter Kerl, wissen Sie.«
Ich verschlucke mich ein wenig an dem Frappuccino. »Was hat Mr Bradley mit meinem Liebesleben zu tun?«
»Nichts«, antwortet sie, ihre Augen groß und unschuldig.
Ich verspüre einen Moment Panik wegen meines Fehlers, dann sehe ich ihr leichtes Grinsen. Aufgeflogen.
»Sie mögen ihn«, spricht sie mit einem neckenden Lächeln weiter und kaut auf ihrem Strohhalm. »Gerüchten zufolge hatten Sie und Ian letzten Freitag nach Büroschluss ein ›Meeting‹.« Sie schreibt Gänsefüßchen um das Wort Meeting
in die Luft.
»Wir haben über seinen Fall gesprochen, ja«, bestätige ich, und
der Profi in mir kämpft ziemlich halsstarrig mit der neu entdeckten Seite, die nichts lieber will, als alles aus Kate herauszuholen, was es über Ian zu wissen gibt … und nicht aus Gründen, die irgendetwas mit dem Fall zu tun haben.
Kate verdreht die Augen. »Natüüüüürlich.
Ich werde so tun, als würde mir nicht auffallen, dass Sie gerade erröten und dass Sie, wann immer Sie an meinem Schreibtisch stehen, zu Ians Büro hinüberschauen, um festzustellen, ob er da ist.«
Oh, das kann ich schon lange.
»Perfekt«,
gebe ich zurück. »Ich werde so tun, als würde mir nicht auffallen, wie Sie Kennedy Dawson anschauen, wenn er nicht hinsieht.«
Sie kneift die Augen zusammen. »Vorsicht, SEC.«
Ich hebe meinen Becher in einer Geste des Waffenstillstands. »Keine Jungsgespräche mehr?«
Sie tippt mit ihrem Becher gegen meinen. »Nicht bis der Fall erledigt ist. Dann will ich Details.«
»Sobald der Fall erledigt ist, werden Sie mich vielleicht hassen wie die Pest«, antworte ich bedauernd.
»Nein. Ich weiß bereits, wie all dies endet, und ich habe ein ziemlich gutes Gefühl, dass wir Freundinnen sein werden.«
»Selbst wenn ich einen Ihrer Chefs ins Gefängnis schicke?«
Ich erwarte, dass sie sauer wird oder sich aufregt, aber sie schüttelt nur den Kopf. »Hören Sie, ich kenne Ian schon sehr viel länger als Sie. Ian ist ein Guter.«
»Herz aus Gold und so?« Ich lächele.
»Ja«, bestätigt Kate todernst. »Wussten Sie, dass er für Pflegekinder, die die Highschool besuchen, Collegestipendien eingerichtet hat? Oder dass er einmal im Jahr ganze Themenparks für die Jüngeren mietet?«
Ich lehne mich ein wenig verblüfft zurück. »Nein, das wusste ich nicht.«
»Er hat für meinen Master in Betriebswirtschaft bezahlt. Nicht einmal Matt und Kennedy wissen davon.« Sie stößt einen Atemzug aus. »Ich mache mir Sorgen, dass Sie nur die Seite von Ian überprüft haben, die Sie sehen wollen – den Mann, der sich ein Auto gekauft hat, das er nicht braucht, dessen privates Sündenregister dicker ist
als die Bibel.«
Ich schaffe es, nicht äußerlich zusammenzuzucken, aber innerlich fühle ich mich wie ein Miststück. Ein Miststück, weil ich angenommen habe, dass Ian einfach einen Haufen Geld verdient, gut aussieht und entsprechend flirtet, und deshalb ein oberflächlicher Kerl ist.
Doch in mancher Hinsicht macht es die Sache noch schlimmer, die Wahrheit zu kennen. Nach unserem spontanen Dinner in der vergangenen Woche habe ich viel zu viel Zeit damit verbracht, mich zu fragen, was wäre wenn.
Was wäre, wenn ich keine Nachforschungen über ihn anstellen würde? Was, wenn er unschuldig wäre?
»Ms Henley …« Ich breche ab, nicht sicher, was ich sagen will. Ich bin mir überhaupt in nichts mehr sicher.
Sie wirft mir einen wissenden Blick zu. »Wie wär’s, wenn Sie mich Kate nennen würden, ich nenne Sie Lara, und Sie hören mir genau zu, wenn ich Ihnen sage, dass Ian der letzte Mensch ist, der jemals durch Betrug vorangekommen ist. Dieser Job ist seine ganze Identität – diese Welt, die langen Arbeitszeiten, das schnelle Tempo, die Partys, das Geld, das alles. Es ist alles, was er jemals wollte, und ich weiß, dass er das nicht gefährden würde, indem er eine Abkürzung nimmt. Niemals.«
»Er bedeutet Ihnen viel«, entgegne ich leise.
Kate zuckt die Achseln, steht auf, leert ihren Becher und wirft ihn in den Müll. »Natürlich. Aber wichtiger ist, ich respektiere ihn. Er ist einer von den Guten.« Sie streckt einen Finger aus. »Schreiben Sie das in Ihren Wochenbericht.«
Ich empfinde ein seltsames Bedauern, als sie geht, als sei der Raum zu still und meine Gedanken zu laut. Ich wünsche mir, Kate könnte recht haben – dass wir Freundinnen sein könnten, wenn dies vorüber ist.
Die nächste eintreffende E-Mail von meinem Chef überrascht mich.
Haben Sie die sozialen Medien bezüglich des Bradley-Falls überprüft?
Ich schiebe mein Getränk beiseite und klicke auf Antworten.
Ich arbeite dran. Die meisten meiner Schlüsselspieler sind nicht in den sozialen Medien. Es geht nur langsam voran.
Seine Antwort kommt sofort.
Habe gerade einen weiteren Tipp bekommen. Veronica Sparry.
»Das ist großartig, Boss. Immer schön kryptisch bleiben«, murmele ich.
Ich google ihren Namen und richte mich ein wenig höher auf, als ihr LinkedIn-Profil darauf hinweist, dass sie gegenwärtig Technologieberaterin ist, früher aber eine ranghohe Projektmanagerin bei J-Conn war.
Angesichts von Steves Hinweis auf die sozialen Medien schaue ich bei Facebook nach und verdrehe ein wenig die Augen, als ich sehe, dass ihr Profil überhaupt keinen privat markierten Bereich hat. Ich kapiere nicht, wie Menschen ihre persönlichen Fotos jedem neugierigen Perversling – oder einer aufdringlichen SEC-Agentin – öffentlich zugänglich machen können.
Andererseits, wenn ich so aussehen würde wie Veronica Sperry, würde ich vielleicht anders denken. Die Frau ist zauberhaft. Langes rotes Haar, große blaue Augen und eine extrem schmale Taille.
Ich klicke durch ihre Fotos, bei denen es sich größtenteils um eine Sammlung von Selfies mit Schmollmund handelt und feuchtfröhliche Abende mit ihrer Mädchenclique, die alle auf diesen Fotos sorgfältig posieren.
Dann sehe ich es.
Veronica trägt ein mörderisch enges, schwarzes Kleid bei einer Glamour-Party, wenn ich die goldenen Ballons im Hintergrund und das Champagnerglas in ihrer Hand richtig interpretiere. Aber es sind weder die Luftballons noch der Champagner, die mich interessieren. Es ist der Mann, den sie umschlungen hält.
Ich werfe einen Blick auf das Datum des Fotos, und mir wird flau im Magen.
Derselbe Mann, der mir am vergangenen Freitag erzählt hat, er
kenne keine einzige Person von J-Conn, hatte im selben Monat, in dem er seine J-Conn-Aktien verkauft hat, die Zunge in Veronica Sperrys Hals.
Benommen sacke ich auf meinem Stuhl zusammen und nehme einen Schluck von meinem Kaffee. Aber er schmeckt nicht mehr so süß wie zuvor.