18
Lara
Woche 3: Freitagabend, später
»Lara! Verdammt, würden Sie bitte eine Sekunde warten?«
Aus dem Augenwinkel sehe ich Ian ein Bündel Geldscheine auf den Tisch werfen und etwas zu Taya sagen, aber ich gehe bereits auf den Ausgang zu.
Ich habe Glück. Draußen wartet eine riesige Gruppe auf den Zutritt zum VIP-Bereich. Ich schlüpfe hinaus, kurz bevor die Rotte hereinwogt, und ungefähr ein Dutzend beschwipster Gäste halten Ian auf.
Wollen Sie wissen, was ich dort drinnen getan habe?
Tolle Frage.
Ich jedenfalls wüsste wirklich gerne, was ich da gemacht habe. Ich habe mir diese Frage während der ganzen letzten zwanzig Minuten gestellt.
Folgendes weiß ich … Als ich gerade in dem Moment durch die VIP-Lounge geschaut habe, in dem Ian sich mit einem Drink vollgekleckert hat, habe ich mich lebendig gefühlt.
Zum ersten Mal seit langer Zeit.
Ich weiß nicht, was genau es war. Vielleicht einfach schieres Entzücken darüber, dass jemand, der so gut aussieht, letztlich doch nicht perfekt ist.
Oder vielleicht war es die Tatsache, dass ich mich nach Stunden vor einem Computerbildschirm voller Namen und Zahlen unwillkürlich daran erinnert habe, dass ich es mit echten Menschen in der echten Welt zu tun habe.
Ich habe mir gesagt, dass ich mir nur eine Sekunde Zeit nehmen werde, um mich für mein unprofessionelles Benehmen an diesem Nachmittag in seinem Büro zu entschuldigen, dann bin ich hingegangen und habe das mit einem ordentlichen Nachschlag unprofessionellen Tuns getoppt.
Wenn mein Boss das herausfände … Wenn irgendjemand es herausfände …
Bye, bye, FBI.
Kein Empfehlungsschreiben von Steve, und eine wer weiß wie lange Wartezeit, bis sich eine weitere Gelegenheit wie diese auftut.
Nicht dass ich mir wünsche, dass Ian schuldig ist. Ganz im Gegenteil. Es ist nur …
Nun, ich bin total durcheinander, falls Sie das noch nicht gemerkt haben.
Ich bin fast an der Tür, als sich Finger um meinen Arm schließen und mich wieder umdrehen. Ich gerate ein wenig aus dem Gleichgewicht und falle unbeholfen gegen Ians Brust.
Er verhindert, dass ich stolpere, aber die Berührung macht mich nur noch unsicherer.
»Alles okay?«, fragt er.
Verdammter Kerl. Er wirkt aufrichtig besorgt, und das macht es noch viel schwerer wegzugehen.
Ich meine, es ist nicht so, als wollte ich eine Affäre mit dem Mann haben. Ich bin keine Frau, die etwas mit Männern wie Ian anfängt.
Aber … ich mag ihn. Ich mag ihn sehr.
Er bringt mich zum Lachen, und er fordert mich heraus, und …
»Ich muss gehen.«
»Ich helfe Ihnen, ein Taxi zu finden.«
»Mist«, murmele ich. »Ich kann Gabby nicht allein lassen.« Ich hole mein Handy hervor und schicke ihr eine Nachricht.
»Ich begleite Sie zu Ihrem Tisch zurück«, sagt er, während ich tippe. »Oder zurück zu meinem. Oder wir können hier reden.«
Ich drücke entnervt gegen seine Brust. »Verstehen Sie es nicht? Ich gehöre zur SEC. Sie stehen in dem Verdacht, ein Insidergeschäft getätigt zu haben. Wir können das nicht machen.«
Er hebt seine freie Hand und hält mich am Ellbogen fest. »Sie brauchen mich nicht mit Samthandschuhen anzufassen, Lara. Wenn Sie nicht mit mir gesehen werden wollen wegen dieses Makels, können Sie es mir einfach sagen. Ich kann es verkraften.«
Seine Stimme ist hell und neckend, und ein Lachen schäumt in mir auf, bevor ich es verhindern kann. Geschlagen lasse ich den Kopf nach vorn fallen. Nur dass er direkt vor mir steht, sodass meine Stirn auf seiner Brust ruht. Ich will mich zurückziehen, aber er hebt die Hand von meinem Arm und schiebt sie unter mein Haar, um meinen Nacken zu umfassen. Er drückt leicht zu, als wolle er mir etwas von meiner Anspannung nehmen. Und vielleicht kann er das, denn ich erlaube mir, still dazustehen, nur einen Moment, und ich weiß, es ist verrückt, aber als ich mich von ihm löse, fühle ich mich ein klein wenig sicherer.
»Danke.« Meine Kehle ist trocken, und ich räuspere mich und versuche es noch einmal. »Danke.«
Er lässt die Hände sinken. »Gern geschehen.«
Unsere Blicke treffen sich für einen langen Moment, und ich ertappe mich dabei, dass ich mir so sehr wünsche, alles könnte anders sein. Dass ich nicht zur SEC gehören würde. Dass er nicht an der Wall Street arbeiten würde. Dass es keine Untersuchung gäbe. Dass der Einsatz nicht meine Traumkarriere beim FBI wäre im Austausch dafür, dass seine Karriere und sein Ruf auf dem Spiel stehen.
Ich wünschte, er wäre kein berüchtigter Frauenheld. Ich wünschte, ich wüsste, wie man flirtet …
Mein Telefon summt, und ich senke den Blick. Es ist Gabby, die mir mitteilt, dass sie mit ihrem Ex nach Hause fährt, dass sie sich aber mit Freuden ein Taxi mit mir teilen würde, das mich zuerst bei meiner Wohnung absetzt.
Fünftes Rad am Wagen. Genau das, was ich im Moment nicht gebrauchen kann.
Ich schreibe ihr, dass ich zurechtkomme – dass ich mir ein eigenes Taxi rufen werde.
Ich werfe mein Handy zurück in meine Handtasche und sehe zu Ian auf. Er lächelt, aber es ist ein trauriges Lächeln, als wisse er, was ich denke, und würde es verstehen. Weil er genauso empfindet.
»Alles klar bei Ihnen?«, fragt er leise.
»Es geht mir wieder besser, ja.«
»Sie fürchten, man wird uns erkennen.«
Ich ziehe eine Schulter hoch. »Ja.«
»Mehr brauchen Sie nicht zu sagen.« Ian deutet auf meine Handtasche.
Ich überreiche sie ihm widerstrebend. »Ich habe vielleicht einen Fleckentfernerstift da drin, aber er wird bei Ihrem Fleck kaum wirken.«
»Wissen Sie, die meisten Frauen nehmen eine dieser kleinen briefumschlagähnlichen Handtaschen in einen Klub mit, keinen Koffer«, sagt er, während er in meinen Sachen wühlt.
»Nun, für den Fall, dass es nicht schrecklich offensichtlich war, ich bin nicht gerade kluberfahren. Was tun Sie da?«, frage ich panisch, als er einen Tampon beiseiteschiebt.
Er holt mein Etui mit der Sonnenbrille heraus und wackelt damit herum, bevor er mir meine Tasche zurückgibt.
»Wenn Sie feststellen wollen, ob es eine Designertasche ist, kann ich Ihnen versichern, dass sie Ramsch ist.«
Ich verkneife es mir, ihm zu sagen, dass einige von uns sich mit einem fünfstelligen Einkommen begnügen müssen, nicht mit einem siebenstelligen wie seinem.
Er ignoriert mich, öffnet das Etui und nimmt die Sonnenbrille heraus. Dann setzt er sie mir auf und grinst, sichtlich zufrieden mit sich selbst. »So. Perfekte Tarnung.«
Ich schiebe die Brille mit dem Finger zwei Zentimeter auf meiner Nase nach unten und mustere ihn über den Rand der Gläser hinweg. »Ernsthaft? Es ist fast ein Uhr nachts.«
»Die Leute werden denken, Sie seien berühmt, und sich fragen, wer Sie sind.«
»Fantastisch. Denn ich hatte wirklich gehofft, dass sie mich noch mehr anstarren würden.«
Er deutet mit dem Kinn auf meine Handtasche. »Also, was diesen Fleckentfernerstift betrifft …«
Ich schüttele den Kopf. »Keine Chance. Aber wenn es Ihnen peinlich ist …«
Nach einem schnellen Blick, um festzustellen, dass wir uns im Schatten in der Nähe des Notausgangs befinden und niemand sonst hier ist, trete ich einen Schritt näher an ihn heran und knöpfe den obersten Knopf seines Hemdes zu.
Ja, das ist richtig. Ich ziehe Ian Bradley wieder an.
Ich versuche, mich lässig zu benehmen, beinahe mütterlich und geschäftsmäßig. Aber dann streifen meine Finger versehentlich seine Kehle, und wir müssen beide so tun, als hätten wir es nicht bemerkt. Oder zumindest tue ich so. Vielleicht hat er es wirklich nicht bemerkt.
Ich zupfe sein Einstecktuch heraus – denn ja, der Mann trägt tatsächlich eins – und stecke die Ecken in den Halsausschnitt seines jetzt zugeknöpften Hemdes, sodass es wie ein lächerliches, diagonal gebundenes Tuch aussieht.
Habe ich erwähnt, dass das Einstecktuch lavendelfarben ist?
»Bitte schön«, sage ich.
Er senkt den Blick und streicht sich mit einer Hand über die lilafarbene Seide. »Das ist schön. Ein wirklich männlicher Look.«
Ich nicke zustimmend und setze die Sonnenbrille wieder richtig auf. »Wie ein Lätzchen für den Mann. Ein Jammer, dass Sie es nicht vorhin getragen haben, bevor Sie Ihren Drink verschüttet haben.«
Er sieht mich erwartungsvoll an. »In Ordnung. Sind wir verkleidet genug, um wie Bonnie und Clyde von hier zu verschwinden?«
Ich wünsche es mir. So sehr. Aber … »Ian.«
Er seufzt. »Ich bin begeistert, dass wir uns beim Vornamen nennen, aber dieser Ton gefällt mir nicht.«
Ich ziehe die Brauen hoch. »Kennen Sie diesen Ton überhaupt?«
»Ich habe einmal davon gehört. Er signalisiert Zurückweisung, nicht wahr? Ist mir noch nie passiert. Bis jetzt.«
Ich öffne den Mund und will ihm sagen, dass ich noch nie so gefühlt habe, wie ich mich in seiner Gegenwart fühle, aber es kommt kein Wort heraus. Ich weiß nicht, ob ich schlau bin oder nur ein Feigling. Aber als er die Kuppe seines Daumens sanft auf meine Unterlippe drückt, weiß ich, dass ich eine Närrin bin.
Er schenkt mir ein schnelles Lächeln. »Kommen Sie. Besorgen wir Ihnen ein Taxi nach Hause. Ihre Freundin wird bestimmt nicht so bald wieder auftauchen.« Einen Moment später führt er mich hinaus in die warme Nachtluft.
»Woher wussten Sie, dass die Alarmanlage nicht losgehen würde?«, frage ich und deute auf den Notausgang.
»Die Alarmanlage wurde vor ein paar Monaten ausgeschaltet. Es sind zu viele betrunkene Paare nach draußen gestolpert, um rumzumachen.«
»Sprechen Sie aus Erfahrung?«
Er zwinkert mir zu. »Würden Sie es gern wissen?«
»Ich fürchte, ich weiß es bereits«, brumme ich.
»Aber, aber, Ms McKenzie«, neckt er mich. »Haben wir denn heute gar nichts darüber gelernt, voreilige Schlüsse zu ziehen?«
»Sie sind also nicht durch diesen Nebeneingang gekommen und haben mit Klubhäschen rumgemacht?«, frage ich.
»Doch, habe ich«, antwortet er, tritt auf den Gehsteig und hebt eine Hand, um ein Taxi heranzuwinken.
»Na also«, murmele ich, außerstande, den mürrischen Unterton aus meiner Stimme herauszuhalten.
»Was es auch kosten mag«, sagt er und sieht mich nicht an, als ein Taxi vor uns anhält. »Wenn ich mit Ihnen rummache, wird es nicht an der Hauswand eines zwielichtigen Klubs passieren. Und ich werde mich definitiv daran erinnern.«
»Wie meinen Sie das, wenn ?«, frage ich und starre ihn an. »Ich habe Ihnen gesagt …«
Er legt mir eine Hand auf den Mund und öffnet mit der anderen Hand die Taxitür.
»Wo wohnen Sie?«, fragt er und nimmt mir die Hand vom Gesicht, damit ich antworten kann.
Zu verwirrt, um klar zu denken, nenne ich meine Adresse, die er an den Fahrer weitergibt, bevor er mir bedeutet einzusteigen.
Ich nehme meine Sonnenbrille ab und schiebe mich auf die Rückbank. »Ian …«
Er legt mir spielerisch einen Finger auf die Lippen. »Für Sie Mr Bradley. Erst mal.« Er zwinkert mir zu und schließt die Tür.
Ich drehe mich um, als das Taxi vom Straßenrand abfährt, und beobachte, wie er den Arm hebt und ein weiteres Taxi für sich selbst heranwinkt. Als es anhält, wendet er sich zu mir um und grinst, als wisse er, dass ich ihn beobachte.
Er gerät außer Sicht, als mein Taxi nach rechts abbiegt, und ich lasse mich gegen die Rückenlehne sinken und schüttele den Kopf. »Unglaublich.«
Aber ich lächele.