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Lara
Woche 4: Montagabend
Ich nippe an meinem Wein und denke über die Liefermöglichkeiten auf meiner Restaurant-App nach. »Thailändisch oder chinesisch, thailändisch oder chinesisch«, überlege ich laut mit niemandem.
Ganz gleich, wofür ich mich entscheide, ich habe die feste Absicht, die tollsten Sachen zu bestellen. Einer der Nachteile des Zusammenlebens mit einem Model ist, dass man immer jede Menge Kohl und mageres Eiweißzeugs im Haus hat. Wenn sie doch mal zustimmt, sich Essen liefern zu lassen, dann für gewöhnlich mit speziellen gotteslästerlichen Anweisungen wie: »Bereiten Sie es bitte nicht mit Fett zu.«
Was, frage ich Sie, ist der Sinn von köstlichem gebratenen Reis, wenn nicht das Öl?
Heute Abend ist Gabs bei dem Mann, mit dem sie eine On-off-Beziehung unterhält, daher darf ich
bestellen, was immer zum Kuckuck ich will.
Ich trinke noch einen Schluck Wein, dann rümpfe ich die Nase. Ich bin beileibe kein Weinsnob, aber selbst mir fällt auf, dass er abscheulich ist. Er war sowieso schon billig, und die Tatsache, dass er seit Tagen offen ist, hat ihn nicht besser gemacht.
Widerstrebend kippe ich ihn in den Ausguss. Ich hätte wirklich gern ein Getränk für Erwachsene gehabt, um mich davon abzulenken, dass heute Montag ist und ich seit Freitagabend nichts von Ian gehört habe.
Das sollte mir gleichgültig sein. Ich sollte erleichtert sein.
Genau wie ich erleichtert sein sollte, dass ich ihn heute bei Wolfe nicht gesehen habe. Stattdessen fühle ich mich ein wenig … bäh.
Als seien alle Farben etwas weniger leuchtend, wenn er nicht in der Nähe
ist.
Es klopft an meiner Tür, und ich stoße ein leises Stöhnen aus, denn es besteht eine neunzigprozentige Wahrscheinlichkeit, dass es Mrs Peonta von gegenüber ist, die täglich ihre Schlüssel vergisst. Wir haben einen Ersatzschlüssel, und ich hätte nichts gegen die Störung einzuwenden, wenn sie nicht jede Begegnung als Chance nutzen würde, mir zu sagen, dass Frauen in meinem Alter zu ihrer Zeit schon drei Kinder gehabt hätten.
Ich schaue durch den Spion und zucke zurück. Es ist definitiv nicht Mrs Peonta.
Um mich davon zu überzeugen, dass ich keine Halluzinationen habe, halte ich das Gesicht wieder an die Tür.
Nein, immer noch da. Ich sehe immer noch Ian Bradley in meinem Flur stehen, eine Flasche unter einem Arm, während von seinen Fingern ein Beutel von irgendeinem Restaurant baumelt.
Ich lege eine Hand auf mein hämmerndes Herz. All das, nur weil ich den Mann durch ein Guckloch gesehen habe. Wann habe ich mich in ein solches Mädchen
verwandelt?
Er verdreht die Augen angesichts meiner Verzögerungstaktik. »Machen Sie die Tür auf, Ms McKenzie.«
»Was tun Sie hier?«, rufe ich durch die Tür.
»Ich versuche, Ihnen etwas zu essen zu bringen.« Er hebt die Tüte hoch. »Außerdem will ich in Ihr Höschen«, fügt er laut hinzu, offensichtlich zum Vergnügen meiner Nachbarn. »Vielleicht kann ich herausfinden, ob Ihre Vorhänge passend sind zu Ihren …«
»Oh, um Gottes willen«, sage ich, reiße die Tür auf und ziehe ihn in die Wohnung. »Wie alt sind Sie?«
»Alt genug, um zu wissen, was ich will, und schlau genug, um zu wissen, wie ich es kriege«, antwortet er mit einem Augenzwinkern, bevor er die Tüte und den Wein auf meine Küchentheke stellt.
»Haben Sie irgendeine Ahnung, wie viel Ärger wir beide kriegen würden, wenn irgendjemand wüsste, dass Sie hier sind?«, frage ich. »Der Interessenkonflikt, wenn wir außerhalb der Arbeit miteinander verkehren …«
Ich habe diesen Spruch das ganze Wochenende über einstudiert, habe den Rest aber vergessen, weil Ian Bradley in meiner Wohnung ist, und für etwas, das so unwiderruflich falsch ist, fühlt es sich … total richtig
an.
Bevor ich registrieren kann, was geschieht, öffnet Ian all meine Küchenschubladen und stöbert darin, bis er einen Korkenzieher gefunden hat. »Wein? Ich weiß, Sie haben im Restaurant weißen bestellt, aber das hier ist ein großartiger roter. Lassen Sie ihn mich nicht allein trinken, Lara.«
Es ist mein Vorname, der die Sache entscheidet. Mir war noch nie klar, dass die einfache Benutzung des Namens einer Person als Vorspiel ausreichen kann, aber seit dem Abend im Klub habe ich darüber nachgedacht, wie mein Name von Ians Zunge rollt. Es fühlt sich denkbar verführerisch an.
Es zieht die Brauen hoch. Also?
»Okay«, stimme ich langsam zu. »Ein
Glas Wein.«
»Perfekt«, sagt er und öffnet die Flasche.
»Ian. Was machen Sie hier?«
Er wendet den Blick ab, schenkt uns beiden ein Glas ein und reicht mir eins davon.«
»Dazu kommen wir noch.« Er nippt an seinem Wein und sieht sich um, betrachtet meine winzige Wohnung. »Hübsch.«
»Ja, Ihr Penthouse kann meiner Wohnung garantiert nicht das Wasser reichen«, antworte ich, betrachte mein Zuhause und sehe, was er sieht. Secondhandsofa. Fernseher, der auf zwei Weinkisten prangt, die Gabby aus dem Müll des Spirituosenladens stibitzt hat. Ein Küchentisch, auf dem zusammengerollt eine alte Ausgabe des Wall Street Journal
unter einem der Beine liegt, damit er nicht wackelt.
»Ich wohne nicht in einem Penthouse«, antwortet Ian sachlich. »Noch nicht. Aber es steht auf meiner Liste von Dingen, die ich vor meinem vierundvierzigsten Geburtstag erreichen will.«
»Klar. Und wie stehen Ihre Chancen?«, frage ich.
Er dreht sich wieder zu mir um, sein Lächeln träge und verführerisch, als er mir in die Augen schaut. »Haben Sie nicht zugehört? Wenn ich mir etwas vornehme, bekomme ich immer, was ich will.«
Die Art, wie er mich ansieht, macht klar, was er will: mich.
Und plötzlich ist mir warm, und ich bin ein wenig atemlos, aus Gründen, die nichts mit dem Wein zu tun haben.
Ich schaue weg, und er lässt mich vom Haken. Lässt den Wein in seinem Glas kreisen und schnuppert daran, wie reiche Leute das instinktiv zu tun scheinen.
»Wollen Sie das vielleicht nicht doch aus einer Schnabeltasse trinken? Oder sich ein Lätzchen umbinden?«
Er legt den Kopf schräg und mustert mich. »Ich habe überlegt, ob ich der Einzige bin, der an diesen Abend im Klub denkt.«
»Ich habe daran gedacht«, gebe ich zu. »Und dass es unpassend für uns ist, außerhalb des Jobs Zeit miteinander zu verbringen.«
»Ganz meine Meinung«, sagt er zu meiner Überraschung, dann stöbert er in der Tüte von dem Restaurant, aus dem er uns eine Mahlzeit mitgebracht hat, und fördert eine Frühlingsrolle zutage. Er beißt hinein und bietet mir die andere Hälfte an. »Was der Grund ist, warum ich in professioneller Mission hier bin.«
Ich nehme die Frühlingsrolle entgegen und sage mir, dass ich es tue, weil ich Hunger habe, nicht weil er der attraktivste Mann auf Erden ist und ich mich wie eine Idiotin benehmen werde, wenn ich nicht irgendetwas in den Mund bekomme.
»Wie haben Sie meine Wohnung überhaupt gefunden?«, frage ich in dem Versuch, mich abzulenken.
»Sie haben mir Freitagnacht Ihre Adresse genannt, als Sie in das Taxi gestiegen sind. Dann habe ich mit einer Ihrer Nachbarinnen draußen Süßholz geraspelt, und sie hat mir Ihre Etage verraten. Sie hat mich außerdem gebeten, Ihnen auszurichten, dass Ihre Eizellen verrotten.«
Ich stoße einen Grunzlaut aus. Herzlichen Dank, Mrs Peonta.
»Okay, ich frage noch einmal«, sage ich und schlucke den Bissen Frühlingsrolle herunter (kross gebraten, köstlich). »Warum sind Sie hier?«
»Wie ich schon sagte. In professioneller Eigenschaft.«
Ich hebe mein Weinglas und werfe einen vielsagenden Blick auf die Tüte vom Restaurant.
»Hat die SEC keine Arbeitsdinner?«
»Doch, es ist nur …« Ich hole Luft und versuche, mich zu erden. »Das fühlt sich nicht an wie ein solches Dinner. Ich bin mir nur zu bewusst, dass ich meine Yogahose anhabe und dass Sie zum ersten Mal keine Krawatte tragen. Dass Sie mir etwas zu essen mitgebracht
haben und dass Wein im Spiel ist. Dass Sie in meiner Wohnung sind und über meiner Duschstange BHs drapiert sind …«
Er dreht sich um und marschiert bereits in Richtung Badezimmer.
»He!«, rufe ich, als mir klar wird, was er vorhat. »Ich meinte nicht …«
Es ist zu spät. Er streckt bereits den Kopf ins Bad. »Sehr
praktisch, Ms McKenzie«, bemerkt er. Dann dreht er sich um und kommt wieder den Flur entlang. Er verdreht die Augen. »Gütiger Gott, Frau, Sie sind zu jung und zu heiß für diesen altmodischen Scheiß. Haben Sie noch nie etwas von Spitze gehört?«
Ich reibe mir die Schläfe. »Okay, Sie haben meine Unterwäsche gesehen. Ich hoffe, es war befriedigend, denn es ist das einzige Mal, dass Sie sie sehen werden.«
»Abwarten«, antwortet er und kehrt in die Küche zurück. »Holen Sie zwei Teller raus. Wir können reden, während wir essen.«
»Ian.« Ich warte, bis er mich anschaut. »Sie sollten wirklich gehen. Der Fall ist noch nicht abgewickelt.«
Sein spielerischer Blick wird ernst. »Ich weiß. Deshalb bin ich hier.«
»Ich kann nicht …«
»Hören Sie mich einfach an. Bitte. Wenn Sie immer noch wollen, dass ich gehe, wenn wir mit dem Essen fertig sind, werde ich verschwinden.«
Ich öffne den Mund, um zu protestieren, aber er kommt einen Schritt näher, sein Gesicht ernst, als er nach meinen Händen greift.
»Versetzen Sie sich in meine Lage. Drehen Sie diese Sache eine Sekunde lang um. Tun Sie so, als seien Sie
diejenige, die angeklagt wird, das Gesetz gebrochen zu haben. Sie wissen nur, dass Sie nichts Unrechtes getan haben, aber Ihr Wort steht gegen das einer mysteriösen Person, die lügt. Was tun Sie? Lassen Sie zu, dass jemand Ihr Leben ruiniert – und Sie entweder ins Gefängnis bringt oder Ihnen die Karriere entreißt, die Sie lieben –, oder würden Sie alles in Ihrer Macht Stehende tun, um das zu verhindern?«
Er atmet schwer, und in seinen blauen Augen steht ein drängender, flehender Ausdruck. Und genau wie Freitagabend, als er seinen Drink verschüttet hat, sehe ich in ihm nicht einen verwöhnten Playboy und Frauenhelden, sondern einen Mann – einen Menschen.
Einen Menschen, der durchaus unschuldig sein könnte.
»Lassen Sie uns in dieser Sache zusammenarbeiten, Lara, bitte. Auf diese Weise werden wir alles schneller aufklären können.« Er legt seine Stirn an meine, nur für einen Moment, und es ist seine Verletzlichkeit, die meine Gegenwehr lahmlegt.
»In Ordnung«, stimme ich leise zu. »Aber Ian, wenn Sie bleiben, dürfen Sie das niemandem erzählen. Definitiv nicht Ihrem Anwalt. Nicht einmal Ihren dicksten Kumpeln.«
Er zieht sich zurück, und einer seiner Mundwinkel zuckt in die Höhe. »Meine dicksten Kumpel?«
»Matt Cannon und Kennedy Dawson. Auch Kate und Sabrina nicht. Niemand darf davon erfahren.«
»Darf ich Matt und Kennedy erzählen, dass Sie sie meine dicksten Kumpel genannt haben? Sie werden begeistert sein.«
»Ich meine es ernst, Ian.« Ich senke den Blick und verleihe meiner größten Angst Ausdruck. »Ich könnte meinen Job verlieren.«
Er drückt meine Hände. »Lara, Sie können mir vertrauen.«
Ich riskiere es, den Blick zu heben. Es ist ein Fehler, denn er ist nah – sehr nah. Und ich habe mir noch nie etwas so sehr gewünscht, wie herauszufinden, ob Ian so gut küsst, wie ich es vermute.
Ich löse mich aus seinem Griff, trete schnell einen Schritt zurück, räuspere mich und mache mich daran, uns Teller herauszuholen.
»Ich hoffe, Sie mögen thailändisches Essen«, bemerkt er und öffnet den Rest der Kartons. Er tut so, als sei gerade überhaupt nichts passiert. »Ich habe eine kleine Portion von allem besorgt.«
»Wow. Buchstäblich von allem«, sage ich und betrachte hungrig die unzähligen Häppchen. Er nimmt mir beide Teller ab, um sie zum Tisch zu tragen, und ich schnappe mir einen Stapel Papierservietten und die Weinflasche.
Er schlüpft aus seinem Anzugjackett, und wir lassen uns am Tisch nieder, und obwohl ich gewappnet bin für eine intensive Welle Verlegenheit, ist da nichts dergleichen. Nun, abgesehen von der Tatsache, dass ich mir sehr bewusst bin, dass sein Anzug wahrscheinlich mehr kostet als meine Monatsmiete.
»Gut, worüber wollten Sie reden?« Ich spieße ein Stück Huhn auf und stecke es mir in den Mund.
Ian holt tief Luft, und statt zu essen, greift er nach seinem Weinglas und lehnt sich auf seinem Stuhl zurück. »Beweise.«
Ich halte mitten im Kauen inne. »Ich kann wirklich nicht sagen …«
»Sie haben keine, nicht wahr?«, fragt er herausfordernd.
Meine Hand erstarrt, und der Stein, der mir im Magen liegt seit meinem Gespräch mit Steve, drückt.
Mein Boss war schon immer voreingenommen, aber er schien auch immer fair zu sein. Er ist sogar derjenige, der mich regelmäßig daran erinnert, dass jede Geschichte zwei Seiten hat und dass es unser Job ist herauszufinden, welche Seite die Wahrheit sagt.
Die Tatsache, dass Steve nicht einmal die Möglichkeit in Betracht ziehen will, Ian könnte die Wahrheit sagen, beunruhigt mich. Sehr sogar. Und doch wäre es, wenn ich Ian das anvertrauen würde, eine direkte Verletzung meiner Aufgabe als Ermittlerin.
Ich lege meine Gabel beiseite, hole tief Luft und sehe ihm in die Augen. »Sie sagen immer wieder, dass sie keine Verbindung zu J-Conn haben, und die Beweislage bestätigt das, aber das ändert nichts daran, dass irgendjemand
da anders denkt.«
»Doch Sie wissen nicht, wer dieser Jemand ist, oder?«
Ich schüttele den Kopf. Obwohl mir klar ist, dass ich eine gefährliche Grenze überschreite, begreife ich doch, dass dieser Fall nicht schwarz-weiß ist. Es gibt da definitiv einen schummrig grauen Bereich, und Ian und ich befinden uns mitten darin. Gemeinsam.
»Nein, ich weiß es nicht«, bestätige ich leise. Mein Boss will es mir nicht verraten.
Er reibt sich das Gesicht. »Wenn wir den Namen der Quelle hätten, wäre diese ganze Sache vorüber«, sagt er. »Es muss jemand sein, der einen Rachefeldzug gegen mich führt.«
Ich denke langsam das Gleiche, aber das kann ich Ian nicht sagen. Nicht, bis ich mir alles
angesehen habe, bis ich einen Punkt auf jedes I
gemacht habe, einen Strich durch jedes T
. Ich bin nah dran, aber ich bin noch nicht so weit.
Bis dahin muss ich nach den Regeln spielen.
»Es ist auch möglich, dass die Quelle jemand ist, der den Schutz der SEC braucht.«
Ian zieht die Brauen hoch.
»Das wäre nicht ungewöhnlich«, füge ich hinzu. »Wir bei der SEC tun alles in unserer Macht Stehende, um Whistleblower zu schützen. Ihr Ruf und manchmal sogar ihr Leben stehen von dem Moment an auf dem Spiel, in dem sie vortreten. Das ist der Grund, warum wir zuerst die inoffiziellen Untersuchungen anstellen, bevor wir förmlich ermitteln.«
Ian schnaubt. »Was, Zeugenschutz in der Wirtschaftskriminalität?« Sein Ton ist sarkastisch, aber als ich nichts erwidere, klappt sein Unterkiefer herunter.
»Wirklich?«, fragt er. »Sie könnten eine Quelle vertraulich halten, weil Sie denken, dem Informanten droht Gefahr?«
Ich zucke die Achseln. »Das geschieht durchaus.«
Er verdreht die Augen. »Das muss ich erst mal sacken lassen. Sie glauben wirklich, diese Person ist in Gefahr? Er lügt
, Lara. Und je länger er im Verborgenen bleibt, umso weniger Zeit haben meine Anwältin und ich, seine Behauptungen zurückzuweisen.«
»Das hier ist kein Film von John Grisham, Ian.«
»Nun, es ist auch kein verdammter Disneyfilm. Sie haben selbst gesagt, Sie hätten keine Beweise gefunden, also, warum gibt es immer noch einen Fall?«
»Weil ich noch nicht fertig bin!«, rufe ich. »Ich bin nahe dran. Ich habe noch keine Beweise gefunden, aber ich hätte keine Selbstachtung, und Sie hätten keine Achtung vor mir, wenn ich jetzt aufgeben würde.«
»Na schön«, blafft er, leert sein Weinglas und erhebt sich mit schlecht verhohlener Ungeduld. »Behalten Sie das Essen. Genießen Sie den Wein«, sagt er und schlüpft wieder in sein Anzugjackett.
»Ian, warten Sie. Ich dachte …«
»Entweder stehen wir auf derselben Seite oder nicht, Ms McKenzie.
Entweder Sie denken, ich sei unschuldig, oder Sie denken, ich habe mich eines Insidergeschäfts schuldig gemacht. Sie hatten mehr als genug Zeit, sich zu entscheiden«, fügt er grimmig hinzu und wendet sich zum Gehen.
»Das einzuschätzen obliegt nicht Ihnen«, entgegne ich und strecke instinktiv die Hand aus, lasse sie aber wieder fallen, bevor ich seinen Ärmel berühren kann. »Ich verdiene damit meinen Lebensunterhalt, und ich sage Ihnen, dass ich noch nicht fertig bin.
Ich habe noch nicht alle Akten durchgearbeitet; ich muss immer noch ein halbes Dutzend Leute befragen …«
»Vergessen Sie das alles!«, ruft er, wirbelt wieder zu mir herum und kommt mir so nah, dass mir der Atem stockt.
Einen Moment lang schließt er die Augen und holt tief Luft, als ringe er um Selbstbeherrschung. Als er die Augen wieder öffnet, ist sein Blick sanfter, aber nicht weniger intensiv. Er berührt mich sachte am Kinn, sodass ich mein Gesicht seinem entgegenhebe.
Ich weiß nicht, was mich mehr aus der Fassung bringt, das verzweifelte Drängen in seiner Stimme oder das Gefühl seiner Finger auf meinem Gesicht.
»Halten Sie mich für schuldig?«
Ich seufze. »Es ist nicht so einfach …«
»Antworten Sie nicht als Ms McKenzie. Antworten Sie als Lara. Halten Sie mich für schuldig?
«
Ich schließe die Augen, um seinem durchdringenden Blick auszuweichen. Die SEC-Ermittlerin in mir weiß genau, was ich tun sollte – ihm die Tür zeigen und ihm sagen, dass ich über seinen Fall nicht sprechen kann. Aber so einfach ist das nicht. Zum ersten Mal in meinem Leben hat mich meine gewohnte kühle Objektivität im Stich gelassen, und an ihre Stelle ist etwas Kompliziertes und Furcht einflößendes getreten – etwas, das ich mehr will, als ich je zuvor irgendetwas anderes gewollt habe, selbst das FBI …
»Ian«, flüstere ich flehend. »Bitte.«
Ich weiß nicht, worum ich bitte, aber er weiß es.
Er umfasst mit beiden Händen sanft mein Gesicht und zieht mich näher heran. Sobald sein Mund sich über meinem schließt, sind mir Recht und Unrecht verdammt egal, schwarz und weiß, Regeln und Protokolle.
Das Einzige, was mich interessiert, ist er, sind die Gefühle, die er in mir weckt.
Seine Lippen erobern meine mit absoluter Besitzgier, sein Kuss ist so selbstbewusst wie geübt. Aber es ist das Verlangen darin, das mein Untergang ist. Die Verzweiflung in der Art, wie er mich an sich gedrückt hält …
Allzu bald löst er die Verbindung wieder, schwer atmend, während er mir in die Augen sieht. »Finden Sie es heraus«, sagt er rau und tritt zurück. »Und lassen Sie mich wissen, wann
Ms McKenzie
Lara einholt.«
»Ian, warten Sie …«
Aber er wartet nicht. Er geht ohne ein weiteres Wort zur Tür hinaus.
Ich berühre meine geschwollenen Lippen und registriere vage, dass mein Handy mit einer hereinkommenden Nachricht summt. Ich grapsche danach, in der Hoffnung, dass er es ist.
Er ist es nicht. Eigentlich hat er, wenn ich recht darüber nachdenke, noch nicht einmal meine Handynummer.
Die Textnachricht kommt von meinem Dad.
Gute Neuigkeiten. Gerüchten zufolge stockt die Abteilung für Wirtschaftskriminalität ihr Personal auf. Ich habe VIELLEICHT einen Weg gefunden zu erwähnen, dass in naher Zukunft ein Empfehlungsschreiben für meine Lieblingstochter kommen wird …
Die Nachricht wird begleitet von einem Emoji, einem zwinkernden Gesicht.
Es ist eine Premiere für meinen Dad, sowohl das Emoji als auch das Signalisieren von Unterstützung. Ich schließe die Augen und versuche, die Frustration abzuwehren, dass ich endlich alles bekomme, was ich mir wünsche …
Und dabei habe ich schreckliche Angst, dass das, was ich wirklich brauche, gerade zu meiner Wohnungstür hinausgegangen ist.