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Ian
Woche 4: Donnerstagabend
»So, so. Die SEC macht jetzt Hausbesuche«, sage ich, wende mich von Lara ab und gehe zu der nun verlassenen Bar hinüber.
Zu verärgert, um mir einen richtigen Cocktail zu machen, schnappe ich mir eine Flasche offenen Rotwein und fülle ein Glas damit.
»Was trinken Sie?«, blaffe ich Lara an.
»Pinot Grigio. Aber Ian. Sie brauchen nicht …«
Ich habe die Flasche bereits aus dem Eiskübel gezogen und gehe auf Lara zu. Ohne sie anzusehen, fülle ich ihr Glas auf. Ich kann sie nicht ansehen. Noch nicht. Ich habe zu große Angst, dass sie den wahren Grund erkennen wird, warum ich ihr aus dem Weg gegangen bin – den wahren Grund, warum ich so verdammt wütend auf sie bin.
Weil ich sie will.
Doch mein Herz fürchtet sich davor, dass sie mich nicht will.
»Ich bin nicht wegen des Weins hergekommen«, sagt Lara leise.
Ich stelle die Flasche zurück in den Kübel und greife nach meinem Rotweinglas. »Nein? Was war dann der Plan? Warten, bis alle anderen Wein trinken, in der Hoffnung, dass sie mich dann mit Schmutz bewerfen?«
Sie stellt ihr Glas auf den Couchtisch und verschränkt die Arme vor der Brust. »Sie sind wütend auf mich. Warum?«
Die Frage macht mich sauer, weil … ich habe keine Ahnung.
Ja, ich bin wütend, aber ich weiß nicht, ob meine Wut überhaupt noch gegen sie gerichtet ist. Größtenteils bin ich wütend auf mich selbst, weil ich eine Frau will, die mich im Augenblick für fähig hält, ein Krimineller zu sein. Ich will sie mehr, als ich jemals irgendetwas oder irgendjemanden gewollt habe, aber sie ist sich immer noch
nicht sicher, ob ich ins Gefängnis gehöre oder nicht.
»Na schön«, faucht sie, als ich keine Antwort gebe. »Schmollen Sie ruhig schweigend vor sich hin. Aber ich bin ebenfalls wütend, Ian. Sie kommen in meine Wohnung, Sie geben mir das Gefühl … und dann ignorieren Sie meine Existenz …«
Ich wirbele herum. »Also beschließen Sie, in eine Party in meiner Wohnung zu platzen?«
»Kate hat mich eingeladen! Das war die einzige Chance, die ich hatte, und ich …«
»Nun, es ist eine Chance, die Sie ungenutzt hätten verstreichen lassen sollen. Ich habe Ihnen nichts zu sagen.«
Schmerz flackert in ihren Augen auf, und ich verspüre einen Anflug von Bedauern.
Aber bevor ich mich entschuldigen kann, wird der Schmerz wieder durch Ärger ersetzt, und sie stolziert mit ausgestrecktem Finger auf mich zu.
»Ich müsste Sie nicht nach Feierabend aufspüren, wenn Sie sich während des Arbeitstages nicht rarmachen würden«, sagt sie. »Wie viele Nachrichten habe ich Ihnen hinterlassen? Wie viele Nachrichten von Kate haben Sie ignoriert? Wie viele E-Mails habe ich geschickt?«
Ich schiebe ihre Hand weg und trete näher an sie heran. »Oh, tut mir ja so leid, dass ich meinen Terminkalender nicht frei gemacht habe, um Ihnen zum neunhundertsten Mal
mitzuteilen, dass ich unschuldig bin, obwohl Sie keine Absicht hatten, mir zu glauben.«
»Betrachten Sie es mal von der anderen Seite, Ian.«
Ich schnaube, und sie versetzt mir einen Stoß gegen die Schulter.
»Nein, halten Sie einfach den Mund und hören Sie zu. Sie haben neulich das Was-wäre-wenn-
Szenario durchgespielt; jetzt bin ich an der Reihe. Stellen Sie sich vor, Sie seien ein SEC-Agent, und Ihr Boss, den Sie respektieren und der Ihnen ein Empfehlungsschreiben für Ihren Traumjob ausstellen wird, sagt Ihnen, es gebe einen verlässlichen Tipp, der einen sagenhaft reichen Wall-Street-Banker der Insidergeschäfte beschuldigt. Als seit über fünf Jahren bei der SEC-tätiger Ermittler wissen Sie aus Erfahrung, dass diese Tipps öfter stimmen als nicht – Sie wissen, dass Menschen tatsächlich betrügen, und Sie werden dafür bezahlt, die Wahrheit herauszufinden.
Was würden Sie tun, Ian? Der einzige Grund, warum Sie das alles so aufregt, ist der, dass Sie stolz auf Ihre Arbeit sind und gekränkt darüber, dass jemand Sie des Betrugs bezichtigt. Und deshalb verlangen Sie von mir, ich soll einfach blind Ihrem Wort vertrauen. Nur weil Sie so charmant sind?«
Ihre Ansprache geht mir an die Nieren. So hatte ich es nicht betrachtet, und verdammt, sie hat recht.
Doch mein Stolz … der Anteil in mir, der will, dass sie an mich glaubt – nein, der ihren Glauben an mich braucht
…
Dieser Anteil bekommt die Oberhand, als ich den Mund öffne.
»Wenn Sie mir etwas zu sagen haben, können Sie eine Nachricht bei Kate hinterlassen.«
Ihre Lippen öffnen sich in einer Mischung aus Entrüstung und Schock, aber sie erholt sich schnell, geht um mich herum und stellt einen Stuhl zwischen uns. »Na schön. Ich werde ein offizielles Memo an Ihr Büro schicken.«
Sie stolziert zum Beistelltisch, wo eine einsame Handtasche steht, die übrig geblieben ist. Es ist die hässliche braune, die sie überall mit hinschleppt. Sie zerrt die Tasche hoch, schiebt sich die Riemen über die Schulter, geht zur Wohnungstür und reißt sie auf. Aber statt hindurchzumarschieren und sie hinter sich zuzuschlagen, wirbelt sie noch einmal zu mir herum, ihre Augen blau und flammend hinter ihren Brillengläsern.
»Wissen Sie, ich dachte, ich hätte mich geirrt. Ich dachte an diesem ersten Tag, als Sie sich auf dem Gehsteig wie ein totaler Mistkerl benommen haben … da dachte ich – hoffte
– es sei ein Schild, eine Nummer, die Sie abziehen, um das Wall-Street-Spiel zu spielen und die Tatsache zu verbergen, dass Sie unter der Oberfläche eigentlich ein anständiger Kerl sind. Aber das war keine Nummer, oder? Die Nummer haben Sie abgezogen, als Sie sich nett verhalten haben. Der nette Ian ist der unechte.«
Ihr Vorwurf trifft mich, aber ich kann mich nicht dazu überwinden, es zu bestreiten. Ich weiß nicht mehr, wer der echte Ian ist. Nicht, wenn sie in der Nähe ist.
»Ich habe Ihnen bereits mitgeteilt, was ich will«, sage ich leise und wende mich ab. »Ich will, dass Sie an mich glauben.«
»Warum zum Teufel glauben Sie, dass ich hier bin, Ian? Warum
versuche ich wohl, Sie aufzuspüren? Sie sagen mir, dass ich es Sie wissen lassen soll, wenn die Frau und
die SEC Sie für unschuldig halten, aber dann geben Sie mir nicht mal eine Chance dazu, verdammt.«
Ich fahre herum, sowohl angesichts ihres Zorns als auch wegen der Worte selbst. »Was?«
Sie hebt das Kinn. »Ich habe meine Untersuchung abgeschlossen. Ich habe gestern alles fertig gemacht und heute Nachmittag meinen Bericht geschrieben.«
Ich bin ein verfluchter Idiot.
Ich war so elend sauer auf sie, dass sie die Ermittlung nach diesem Kuss fortgesetzt hat, dass ich während der vergangenen drei Tage meine ganze Willenskraft aufgeboten habe, um alles zu vermeiden, was mit ihr zu tun hatte – sie zu sehen, mit ihr zu reden, mir zu gestatten, dass sie mir etwas bedeutet, und dass ich sie will.
»Ich empfehle, Ihren Fall abzuschließen«, fügt sie leise hinzu. »Keine formelle Untersuchung.«
Das Rauschen in meinen Ohren verstummt zu absolutem, unheimlichem Schweigen, und ich weiß nicht, ob ich mich verhört habe. »Was?«
Sie sieht mir in die Augen und hebt selbstbewusst das Kinn. »Es gibt keine Beweise, die darauf hindeuten, dass Sie in Bezug auf J-Conn einen Tipp bekommen haben. Das habe ich in meinem Bericht geschrieben. Ich gebe ihn morgen ab.«
Ich trete einen Schritt näher an sie heran. »Was ist mit Ihrem Empfehlungsschreiben für das FBI? Das kriegen Sie ohne die formelle Untersuchung nicht, stimmt’s?«
Diesmal weicht sie meinem Blick aus. »Nicht Ihr Problem, Ian.«
Lara geht in den Flur und schließt die Tür hinter sich, und ein Weilchen – zu lange – stehe ich reglos da, meinen unberührten Wein in der Hand.
Hölle, so wird dies auf keinen Fall enden.
Ich stelle mein Glas auf die Bar und reiße die Tür auf. »Lara.«
Sie steht am Aufzug und drückt auf den Knopf, aber ich weiß, dass sie mich hören kann. »Verdammt, McKenzie.« Ich gehe auf sie zu und fluche abermals, als ich das Piepen des ankommenden Aufzugs höre.
Die Türen öffnen sich, und sie steigt ein.
»Lara!« Ich mache einen schnellen Schritt, klemme die Hand in die sich schließenden Türen und hoffe inbrünstig, dass die Aufzugsensoren des Gebäudes etwas taugen.
Die Türen öffnen sich wieder, und ich halte sie offen und funkele Lara an, die gelassen dasteht. »Was denn?«
Ich drücke auf den Notfallhalteknopf des Aufzugs. »Wo zum Teufel wollen Sie hin?«
Ihre Augen füllen sich mit Tränen, und ich komme mir vor wie ein Arschloch. Ich bin
ein Arschloch.
Sie schüttelt den Kopf, und ihr Kinn zittert. »Ich kann das nicht, Ian. Ich kann Ihre Spielchen nicht spielen. Ich weiß nicht, was ich tun soll, wenn Sie mich an einem Tag wollen und am nächsten dann sauer auf mich sind und mich nicht mehr wollen.«
»Ich haben nie aufgehört, dich zu wollen«, knurre ich, umfasse mit beiden Händen ihr Gesicht und wische sanft die Zwillingstränen fort, die ihren Augen entkommen sind. »Ja, ich bin wütend. Du denkst, ich will dich? Glaubst du, ich genieße es, dass die Frau, um die während des vergangenen Monats meine sämtlichen Gedanken gekreist sind, bei der SEC ist? Glaubst du, es gefällt mir, dass dies das erste Mal ist, dass ich je so empfunden habe, aber du …«
Lara beugt sich vor, legt mir die Hände auf die Brust und drückt ihren Mund auf meinen.
Ich stöhne wonnevoll und ziehe sie enger an mich.
Ich habe meinen fairen Anteil an Frauen geküsst – mehr als meinen fairen Anteil. Aber ich hatte niemals ein solches Verlangen, eine Frau zu küssen, wie ich es bei dieser Frau empfinde, noch nie das Gefühl, als würde ich es für den Rest meines Lebens bedauern, wenn ich meine Chance nicht nutze.
Ich lege die Finger um ihren Pferdeschwanz.
Mein.
Ich will diese anstrengende, vielschichtige Frau für mich haben.
Ich knabbere an ihrer Unterlippe. Gib dich hin.
Sie kapituliert tatsächlich mit einem leisen Stöhnen, und ich nutze die Situation schamlos aus. Meine Zunge huscht neckend über ihre Unterlippe, bevor sie in ihren Mund gleitet, um den Kuss zu vertiefen.
Ihr Kuss ist zuerst schüchtern. Ihre Zunge zaghaft, als sie meine berührt. Dann wandern ihre Hände von meinen Handgelenken empor, um sich in mein Haar zu schieben, und ich verliere jedwede Kontrolle.
Mit einem Stöhnen drücke ich sie an die Wand des Aufzugs. Der Aufzug ist immer noch auf Notfallhalt geschaltet und piept uns eine entrüstete Warnung zu, aber ich ignoriere es. Hölle, ich registriere es kaum. Es gibt nur uns, ihre Hände in meinem Haar, meine Hände auf ihrem Rücken, ihren Hüften.
Der Kuss ist atemlos und hektisch und so verdammt heiß, dass es mich in allen Fingern juckt, die Hände unter ihren Rock zu schieben und herauszufinden, ob sie feucht und weich und willig ist.
Lara reißt sich mit einem Keuchen von mir los. »Ian.«
»Hmm.«
Meine Lippen finden ihren Hals, und ich genieße ihr unwillkürliches Stöhnen.
Sie drückt gegen meine Schulter. »Warte. Stopp.«
Ich halte inne und ächze. »Das sind die beiden Worte, die ich am wenigsten mag.«
Lara stößt ein kleines Lachen aus, als sie sich aus meiner Umarmung windet, ihre Brille gerade rückt und genauso benommen aussieht, wie ich mich fühle.
Ich will sie enträtseln. Ich strecke abermals die Hand aus, aber sie tritt weiter zurück.
»Ich … ich muss das Tempo drosseln, nur ein klein wenig«, sagt sie und fährt sich mit einer zittrigen Hand über ihren langen Pferdeschwanz. »Ich habe meinen Bericht noch nicht abgegeben. Offiziell durchleuchte ich dich immer noch.«
Ich knurre frustriert, obwohl ich verstehe. Ihr Job ist ihr so wichtig wie meiner mir. Bisher habe ich sie darin nicht besonders gut unterstützt, aber ab jetzt fange ich damit an.
»Wann reichst du ihn ein?«, frage ich.
»Ich muss ihn noch einmal durchlesen, dann werde ich ihn morgen Vormittag an meinen Chef schicken.«
»Perfekt. Lass uns anschließend essen gehen.«
Sie lacht. »Ian.«
»Zu schnell? Ich kann es stattdessen zum Abendessen einrichten.
Wenn ich irgendetwas bin, dann flexibel«, sage ich und grinse fröhlich.
Sie beißt sich auf die Lippe. »Ich weiß nicht, ob ich derartige Dinge genauso gut im Griff habe wie du«, antwortet sie leise. »Eigentlich kann ich so was nicht.«
»Was denn?«
»Oberflächlicher … Sex, Affären.«
Es wäre nicht zwanglos oberflächlich. Es wäre keine Affäre.
Der Gedanke trifft mich unerwartet und überrumpelt mich derart, dass ich erleichtert bin, dass ich es nicht laut ausspreche.
»Es wäre nur ein Abendessen. Zwei Menschen, die eine Mahlzeit miteinander teilen.« Mein Tonfall ist unbeschwert, darauf bedacht, nicht zu verraten, wie ungewöhnlich – und unvertraut – diese Bitte für mich ist.
Sie mag nicht auf oberflächlichen Sex stehen, aber ich stehe nicht darauf.
Ich lade Frauen nicht zum Abendessen ein, einfach weil ich Zeit mit ihnen verbringen will. Wie Kate ziemlich unverblümt bemerkt hat, habe ich keine Dates. Jedenfalls nicht als Mittel zu irgendetwas anderem, als flachgelegt zu werden.
Aber ich will ein Date mit Lara. Ich will sie zum Lachen bringen und mehr über ihr Leben erfahren und herausfinden, wie man ihr diesen Traumjob beim FBI beschaffen kann, und ich will dabei sein, wenn sie den Anruf bekommt.
Ich will das alles.
Ich sitze so was von in der Tinte wegen dieser Frau.
»Ich denke darüber nach.« Sie zeigt auf die Aufzugtüren. »Raus.«
Verdammt. So habe ich mir das nicht vorgestellt. »Aber …«
»Ich fahre in die Lobby hinunter. Du gehst zurück in deine Wohnung.«
Ich habe genug Deals mit halsstarrigen, widerstrebenden Investoren abgeschlossen, um zu wissen, wann es an der Zeit ist, mich zurückzuziehen.
Fürs Erste.
»In Ordnung«, sage ich mit einem ungezwungenen Lächeln.
Ich trete zu den offenen Türen und bleibe stehen, als ich auf gleicher Höhe mit ihr bin. Ihr stockt der Atem, und obwohl ich ihren Mund von Neuem verschlingen möchte, ist mein Verlangen, sie zu
überraschen, noch größer.
Ich streife mit den Lippen ihre Wange und lächele, als sie halb erleichtert, halb enttäuscht seufzt. Dann trete ich zurück in den Flur, ohne mich von ihr abzuwenden.
»Auf Wiedersehen, Ian.«
»Gute Nacht, Lara. Wir sehen uns morgen.«
Es ist ein Versprechen. Eine Garantie, dass dies nicht vorüber ist.
Ich sehe sie schlucken, als sie den Notfallknopf löst, und als unsere Blicke sich treffen, bevor die Türen sich schließen, weiß ich, dass sie es weiß.