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Lara
Woche 4: Freitagmorgen
Ich packe im Konferenzraum von Wolfe, der mir während der vergangenen Wochen als Büro gedient hat, gerade alles zusammen, als Kate mit zwei Bechern hereingeschlendert kommt.
Einen davon reicht sie an mich weiter.
»Oh, danke«, sage ich und nehme ihn in Empfang. »Aber ich habe bereits …«
Ich schaue auf den Inhalt hinab. Nicht der Kaffee, den ich erwartet habe.
Ich sehe auf. »Orangensaft?«
»Mit einem Spritzer von etwas Kribbeligem.« Sie zwinkert mir zu, tippt mit ihrem Becher gegen meinen und nimmt einen Schluck von ihrem heimlichen Mimosa.
Ich zögere. Streng genommen ist es Alkohol im Dienst.
»Oh, kommen Sie«, beschwatzt sie mich. »Es ist Freitag, und wir feiern. Außerdem ist heute Ihr letzter Tag hier. Die bei der SEC werden Sie schon nicht gleich feuern, oder?«
Ich versuche, mein Zusammenzucken bei der Anspielung auf meinen Jobstatus zu verbergen. Nicht dass ich mir Sorgen mache, man könne mich feuern – keiner der hohen Tiere der SEC wird auch nur einen Scheiß auf einen Schluck mit Champagner versetztem Orangensaft geben. Sie werden es nie erfahren.
Aber ich mache mir Sorgen um die Konsequenzen meines Berichts.
Ich habe ihn heute Morgen abgeschickt und noch nichts gehört. Ich habe versucht, Steve anzurufen – drei Mal. Er ist nicht ans Telefon gegangen. Ich weiß nicht, ob er einfach beschäftigt ist oder …
Ob er sauer ist.
Was dumm ist. Ich habe meine Arbeit gemacht. Ich habe mir alles angesehen – E-Mails, Dateien, soziale Medien, Browserverläufe auf den Firmencomputern. Ich habe jeden Stein umgedreht, auch solche, die ich normalerweise nicht umdrehe, und nichts gefunden. Es gibt null
Beweise, dass Ian sich eines Insidergeschäfts schuldig gemacht hat. Nichts lässt darauf schließen. Gar nichts.
Meine wöchentlichen Statusberichte haben das die ganze Zeit über ausgesagt.
Aber während mein Gewissen rein ist, sind meine Träume … nebelhaft. Ich werde eines Tages beim FBI sein, das weiß ich. Aber ich brauche einen hochkarätigen Fall, um dort hinzugelangen.
Das war nicht dieser Fall, ganz gleich, wie überzeugt Steve davon war, dass er es sein würde.
Dafür habe ich mir einen Schluck Champagner verdient. Außerdem ist Orangensaft da drin! Vitaminzufuhr, nicht wahr?
»Na also«, sagt Kate, als ich einen Schluck nehme.
Sie späht in den Pappkarton auf dem Tisch. »Es wird komisch sein ohne Sie hier.«
»Gut komisch?«
»Nun, alle werden weniger angespannt sein, wenn die SEC hier nicht mehr herumlungert, so viel steht fest.«
»Das ist eigentlich immer so«, sage ich und werfe meinen Tacker in den Karton. »Im Einsatz gewinnen wir eher keine Freunde unter den Kollegen.«
»Wie sieht es innerhalb der SEC aus? Da haben Sie bestimmt einige Freunde.«
Ich zucke die Achseln. »Ich bin freundlich zu allen. Aber es ist nicht wie hier, wo Menschen jeden Tag in das gleiche Büro kommen. Wir haben einen Stützpunkt, aber meistens sind wir irgendwo anders vor Ort. Und selbst wenn ich im Büro bin, sind um mich herum größtenteils verheiratete Männer, die kein Interesse daran haben, sich mit einer Mittzwanzigerin anzufreunden.«
»Könnte schlimmer sein«, bemerkt Kate. »Es könnte ein Haufen verheirateter Männer sein, die Interesse hätten an einem kleinen Techtelmechtel mit einer Mitzwanzigerin.«
»Stimmt.«
»Haben Sie Ian heute Morgen schon gesehen?«
Mein Glas hält auf halbem Weg zu meinem Mund inne, und ich hoffe, es verbirgt mein Erröten.
Wie dieser Mann küsst …
Kate mustert mich. »Geht es Ihnen gut?«
Mir ist ein wenig heiß, aber ja, alles in Ordnung.
»Yep!« Es kommt zu forsch heraus, und Kates Augen werden schmal.
»Was ist passiert, nachdem wir alle gestern Abend gegangen sind?«
»Ich habe ihm von meinem Bericht erzählt. Er war erleichtert. Ich bin gegangen.« Nachdem wir im Aufzug rumgemacht haben.
Ernsthaft, funktioniert die Klimaanlage heute hier nicht?
Kate wirft mir einen skeptischen Blick zu. »Sie hätten ihm in einer E-Mail von dem Bericht erzählen können.«
»Ehrlich gesagt teile ich den Personen, gegen die ich ermittele, meine Ergebnisse immer persönlich mit.«
Es ist wahr. Es ist keine SEC-Vorschrift oder dergleichen. Es wird nicht einmal zwangsläufig empfohlen. Aber es ist Teil meiner eigenen Prozedur. Es fühlt sich an wie ein menschlich anständiges Verhalten – ob ich das Leben eines Menschen auf den Kopf stelle oder ihm sein Leben zurückgebe, es ist eine Angelegenheit, bei der ich das Gefühl habe, ich sollte demjenigen in die Augen sehen und es ihm sagen, verstehen Sie?
Natürlich hat es noch nie dazu geführt, dass ich begrapscht wurde. Also nicht dass seine Hände zu irgendwelchen Bikinibereichen vorgestoßen wären. Ich hatte mir einfach gewünscht …
Ich nehme noch einen großen Schluck von dem Champagner, dann stelle ich den Becher auf den Tisch, bevor ich noch alles austrinke.
»Nun, danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben«, sagt Kate und lässt sich auf einen Stuhl fallen. »Er ist heute Morgen wirklich gut gelaunt. Ich glaube, ich habe ihn sogar pfeifen hören.«
»Ach ja?« Die Information verursacht einen Kitzel, der durch mich hindurchschießt und der nichts mit professioneller Zufriedenheit zu tun hat.
Kate zuckt die Achseln. »Hätten Sie nicht auch gute Laune, wenn
man Ihnen gerade mitgeteilt hätte, dass Sie nicht ins Gefängnis müssen?«
»Er hätte ja nicht zwangsläufig in den Knast gemusst. Manchmal handelt es sich einfach um eine saftige Geldstrafe und den Verlust eines Jobs, aber für einige Menschen kann das genauso vernichtend sein.«
»Die Geldstrafe hätte Ian nicht gekratzt.«
»Einige dieser Männer verlieren alles in allem siebenstellige Summen. Ganz zu schweigen von ihren Jobs.«
»Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass es ihm nicht ums Geld geht«, erwidert sie. »Und ich denke, das wissen Sie.«
Ich schaue zu Boden. Ich weiß es durchaus.
Der Ian, den ich im Laufe der letzten paar Wochen kennengelernt habe, trägt kostspielige Anzüge, trinkt überteuerten Wein und bewirtet auf Partys seine Gäste mit Kaviar, ja, aber das ist nur die oberste Schicht. Genau wie der Frauenheld, der so gern flirtet, nur eine Schicht ist. Der Mann darunter ist freundlich und großzügig und vielleicht ein klein wenig verletzlich.
»Lara.« Kates Stimme ist sanfter, als ich gewohnt bin, und ich schaue auf. »Spielen Sie nicht mit ihm. Bitte.«
Ich schlucke und nicke, sage jedoch nichts. Ich war so beschäftigt damit herauszufinden, wie ich mich selbst vor Ian schützen kann, dass mir der Gedanken gar nicht gekommen ist, dass Ian vielleicht vor mir beschützt werden muss.
Dass er vielleicht genauso verunsichert ist wie ich, wenn auch auf eine andere Weise.
Kate schaut in ihren Becher. »Verdammt, schon leer. Ich habe mir gesagt, dass ich nur einen trinken kann, bis ich mit den wöchentlichen Berichten fertig bin. Ich fürchte, es heißt zurück an die Arbeit.«
Der plötzliche Anflug von Traurigkeit, der mich bei ihren Worten durchzuckt, überrascht mich. Ich war so konzentriert darauf, was immer zum Kuckuck zwischen Ian und mir ist, dass mir gar nicht klar war, dass dies ein Lebewohl ist. Kate ist zu einer Freundin geworden oder zumindest zu einer Person, mit der ich gern befreundet wäre.
Ich werde auch Kennedy und Matt vermissen, sogar Sabrina in all ihrer prachtvollen Stacheligkeit. Es ist eine Gruppe, zu der ich gern
dazugehören würde …
Wenn die Dinge nur anders lägen.
Kate steht auf. »Hören Sie, ich weiß, das könnte merkwürdig sein, aber wenn Sie jemals irgendwann Lust haben auf einen Lunch …«
Mein Lächeln reicht von einem Ohr zum anderen. »Dazu hätte ich große Lust.«
»Gut.«
»Hey, Kate«, sage ich, als sie schon fast an der Tür ist. »Ist Ian in seinem Büro?«
Als sie sich wieder umdreht, ist ihr Grinsen ein ganz klein wenig schelmisch. »Er hatte um neun ein Meeting, aber das sollte inzwischen zu Ende sein. Bis elf hat er frei.« Sie lehnt sich an die Tür. »Wofür brauchen Sie ihn? Ich meine, der Fall ist unter Dach und Fach, oder? Und Sie haben ihm diese Botschaft gestern Abend überbracht. Also …«
»Kate.«
»Ja?«
Ich greife nach meinem Mimosa und nippe daran. »Was läuft da zwischen Ihnen und Kennedy?«
Ihr Grinsen verschwindet. »So
gute Freunde sind wir nun auch wieder nicht, SEC.«
Ich lächele. »Genau.«
Kate zeigt mit dem Finger auf mich. »Ich wusste, dass ich Sie mögen würde.«
Ich lächele immer noch, als ich durch den Flur zu Ians Büro gehe. Es ist nach zehn, wenn er also seinen Neun-Uhr-Termin nicht überzogen hat …
Ian sitzt hinter dem Schreibtisch, ganz auf seinen Computerbildschirm konzentriert.
Ich beobachte einen Moment, wie er etwas tippt. Ich bin es gewohnt, ihn in seinem Charmebolzenmodus zu sehen, aber mir ist klar, dass seine professionelle Persönlichkeit auch noch eine andere Seite hat. Dieser Machertyp ist sehr konzentriert, sehr fokussiert und … sehr heiß.
Er trägt heute eine dunkelrosafarbene Krawatte, aber sie sieht alles andere als feminin aus, gepaart mit seinem dunkelgrauen Anzug, den breiten Schultern und dem markanten Kinn.
Der Mann ist der Traum jeder Frau.
Und er hat mich zum Abendessen eingeladen.
Ian greift nach einem Stift und stutzt, als er mich in der Tür stehen sieht und drückt zweimal auf den Knopf für die Mine. »Hallo Leisetreterin. Komm herein.«
»Hi«, sage ich und bin ein wenig durcheinander, als ich die Tür schließe.
Er macht Anstalten aufzustehen, aber ich hebe eine Hand, um ihn zu bremsen. »Warte. Wenn du einfach … ich muss etwas sagen, und das kann ich nicht, wenn du so … nah bist und so weiter.«
Ian schenkt mir ein verwirrtes Grinsen. »In Ordnung. Was ist los?«
»Du hast mich zum Essen eingeladen.«
Sein Blick ist ruhig. »Ja.«
»Warum?«
»Weil ich gern esse.« Er lächelt.
»Ian, ich meine es ernst.«
Er steht auf und kommt auf mich zu. »Weil ich dich mag, Lara. Was zum Teufel muss ich tun, um das zu beweisen? Es von einem Flugzeug an den Himmel schreiben lassen? Mir ein Tattoo stechen lassen? Es öffentlich machen?«
Bei seinen Worten schlägt mein Magen einen Purzelbaum, und ich kann mein törichtes Grinsen nicht verbergen.
»Hast du deinen Bericht schon eingereicht?«, fragt er und greift nach meiner Hand.
»Ja.«
Seine Augen flackern vor Erleichterung. »Also wird nicht mehr wegen Insidergeschäften gegen mich ermittelt? Du
ermittelst nicht mehr gegen mich?«
»Korrekt.«
Er zieht mich zu einem Kuss an sich, und ich bin bereit dafür. Verdammt, ich komme ihm auf halbem Weg entgegen, lege ihm die Hände um die Taille, während er mit seinen mein Gesicht umfasst.
Ich erinnere mich nicht daran, mich jemals so hungrig gefühlt zu haben, so verwegen. Ja, wir sind in seinem Büro. Ja, uns kann jeder sehen. Aber im Moment, mit seinen Händen überall auf mir, ist mir das egal. Mir ist alles egal, außer meinem Verlangen nach mehr.
Ohne die Verbindung zu lösen, greift er hinter mich und schließt die Tür ab.
»Meine Wohnung«, sagt er, zieht seinen Mund von meinem weg und streift damit an meiner Kehle hinab. Mein Kopf fällt mir in den Nacken, und ich stoße ein kleines Stöhnen aus, als er meinen Hals küsst. »Sieben Uhr.«
»Ich kann nicht bei einem ersten Date in deine Wohnung kommen.«
Sein Mund kehrt zu meinem zurück. »Warum nicht? Du hast gesagt, dass du nicht willst, dass uns jemand sieht.«
Ich stoße ein frustriertes Schnauben aus. »Ich weiß, aber …«
»Ich bin ein wirklich
guter Koch«, unterbricht er mich mit einem lasziven Lächeln.
Das lässt mich stutzen. »Ach ja?«
»Überhaupt nicht. Aber ich habe ein sehr gutes Restaurant an der Hand, das nach Hause liefert.«
»Ian …«
Ich erinnere mich nicht daran, was ich sagen wollte. Dieses ganze Gespräch hat in Kusspausen stattgefunden, und mit jedem Zusammentreffen unserer Münder fällt es mir schwerer zu denken. Und erheblich schwerer, Nein zu sagen. Ich bin mit dem Gedanken hierhergekommen, dass wir diese Sache vielleicht langsam angehen lassen könnten …
Dann wandern seine Hände über meine Hüften, und er vertieft den Kuss, und langsam klingt unmöglich. Ganz und gar nicht nach dem, was ich will.
Ich will das hier. Ich will solche Gefühle, die ich empfinde, wenn ich mit ihm zusammen bin, will fühlen, was ich empfinde, wenn er mich berührt.
»Du willst rüberkommen«, sagt er und beugt sich leicht vor, um mir einen Kuss in den Ausschnitt meiner Bluse zu drücken.
»Ach ja?«, bringe ich heraus, als seine Handfläche an meinem Schenkel hinaufwandert und seine Finger unter meinen Rock kriechen.
»Mm-hmm.« Seine Finger gleiten an der Innenseite meines nackten Oberschenkels empor.
»Aber …«
Seine Fingerspitzen streichen sachte über die Vorderseite meines Slips, und ich kann mich an überhaupt nichts mehr erinnern. Nicht an das, was ich in der Vergangenheit gesagt habe, nicht, warum ich dies nicht tun sollte …
Dann gleiten seine Finger unter den Bund, und ich erinnere mich nicht einmal mehr an meinen eigenen Namen.
Er stöhnt, als er entdeckt, wie feucht ich bin.
Ich keuche auf, klammere mich an ihn und versuche zu verhindern, dass meine Knie unter mir nachgeben, als seine schlauen Finger all die richtigen Stellen finden.
Ich kenne diese Frau nicht, die Frau, die einem geschniegelten Playboy erlaubt, sie an eine Bürotür zu drängen und ihr die Hand unter den Rock zu schieben, aber im Moment will ich diese Frau sein, und sei es auch nur für diesen kurzen paradiesischen Augenblick.
»Ian.« Ich streiche ihm über die Schultern.
Er zieht sich mit einem Stöhnen zurück.
»Nein, hör nicht auf«, murmele ich mit heiserer Stimme und ziehe ihn näher heran, zu angetörnt, um verlegen zu sein.
Er stößt ein gequältes Lachen aus und legt seine Stirn an meine. »Ich muss. Ich kann dich nicht auf diese Weise hier nehmen.«
Warum zum Teufel nicht?
Ich spreche die Frage nicht laut aus, aber er scheint sie trotzdem zu verstehen und streicht mit seinen Lippen über meine. »Du bist anders. Lass mich dir zeigen, dass du anders bist.«
So frustriert mein Körper ist, so sehr jubiliert mein Herz. Wie könnte es auch etwas anderes tun? Ist es nicht die Fantasie einer jeden Frau, diejenige zu sein, die den Unzähmbaren zähmt?
Er zieht die Hand unter meinem Rock hervor und streicht ihn mit der anderen wieder glatt.
Ian küsst mich auf die Wange, und seine Lippen bewegen sich an meinem Ohr. »Sieben Uhr. Meine Wohnung. Bitte
.«
Ich wende den Blick nur eine Sekunde ab und versuche, meine Gedanken zu sammeln, da fällt er auf die Orchidee auf dem Tisch. Das verdammte Ding sieht prächtig aus.
Ich schlucke, und meine Augen werden unerwartet feucht, so stark sind meine Gefühle für diesen Mann, dass ich sie nicht einmal ansatzweise benennen könnte.
Ich nicke. »Sieben Uhr.«