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Lara
Woche 5: Montagmorgen
Realistisch betrachtet weiß ich, dass ich nicht anders aussehe als sonst. Derselbe Pferdeschwanz. Dieselbe Brille. Derselbe rosa Lippenstift. Dieselben schlichten Pumps, derselbe schwarze Rock, den ich schon eine Million Mal getragen habe, dieselbe blaue Bluse, die seit Jahren Teil meiner Bürooutfits ist.
Aber ich fühle mich anders, und als ich am Montagmorgen bei der SEC in den Aufzug steige, erfüllt mich Paranoia, jemand könnte etwas bemerken. Jemand könnte mich ansehen und nicht nur denken, sie hat es getan, sondern dass alle wissen, mit wem ich zusammen war, und auch, dass ich mehr will, und …
»Du machst dich lächerlich«, murmele ich vor mich hin, da niemand im Aufzug ist, der meine Moralpredigt mitbekommt. »Menschen haben jeden Tag Sex. Mach jetzt keine große Sache daraus.«
Aber es ist eine große Sache, denn der Sex mit Ian war nicht einfach Sex. Es war jede Menge Sex, definitiv. Aber es sind auch andere Dinge passiert. Mahlzeiten. Gespräche. Gelächter.
Es sind die anderen Dinge, die mich in einem Knoten aus Glück und Entsetzen gefangen halten.
Es ist die Tatsache, dass ich ihn mag, nicht nur im Schlafzimmer, sondern auch außerhalb. Es ist die Tatsache, dass er witzig und klug ist und auf eine Weise rücksichtsvoll, wie ich es nie erwartet hätte. Es ist das Eingeständnis, dass ich selbst jetzt darüber nachdenke, wann ich ihn das nächste Mal sehen werde und ob er mich anrufen wird.
»Jämmerlich«, schimpfe ich und steige aus dem Aufzug aus in die Lobby der SEC. Obwohl Lobby ein starkes Wort für den Eingangsbereich ist. Er besteht eher aus einer Handvoll trauriger Stühle und einem hässlichen Couchtisch mit einigen bestenfalls drei Monate alten Zeitschriften.
Ich lächele und winke Ida zu, der Empfangsdame, und sie winkt müde zurück, ohne ihr Gespräch mit der Person am anderen Ende ihrer Telefonleitung zu unterbrechen.
Ich bin ungefähr fünf Schritte weit gekommen, als mir klar wird, dass mein schlimmster Albtraum diesen Morgen betreffend wahr ist. Alle sehen mich an. Es wird reichlich getuschelt.
Sie wissen Bescheid. Sie wissen, dass ich etwas mit einem Verdächtigen hatte.
Nein, nicht mit einem Verdächtigen, schreit mein Gehirn. Er hat nichts Unrechtes getan, und du hast abgewartet, bis du genau wusstest, dass du privat mit ihm verkehren durftest.
Das ist der rationale, schwarz-weiße Teil meines Gehirns. Der andere Teil, der auf Nuancen programmiert ist, zieht lediglich eine Braue hoch.
»Hi, McKenzie«, ruft einer der Ermittler und kommt mit ausgestreckter Hand auf mich zu. »Gute Arbeit.«
Ich schüttele ihm ein wenig perplex die Hand, denn sein Ton ist aufrichtig und ohne einen Hauch von Spott. Der Kommentar gute Arbeit gilt nicht der Tatsache, dass ich dem Interessenskonflikt so gut ausgewichen bin, sondern 
Ich weiß es nicht.
Im Allgemeinen, wenn die Erkenntnisse einer informellen Ermittlung gegen eine förmliche sprechen, bekommt man ein Kopfnicken, und dann heißt es »der Nächste bitte« in unserer Elf-Uhr-Konferenz.
Was noch verwirrender ist, ist die Tatsache, dass ich auf dem Weg zu meinem Büro weitere ähnliche Reaktionen erlebe, einschließlich zweier hochgereckter Daumen von Leuten, die gerade telefonieren.
Was zum …?
»Morgen, Lara!« Als ich mich umdrehe, sehe ich Evie Franklin, Steves Assistentin, die in alles ihre Nase steckt, auf mich zukommen.
»Morgen«, antworte ich mit einem Lächeln. »Hübsche Frisur.«
Sie hebt eine Hand an ihren Heiligenschein leicht krisseliger, blonder Locken. »An manchen Tagen lohnt es sich einfach nicht, gegen die Feuchtigkeit zu kämpfen. Haben Sie gewusst, dass Frauen in den Achtzigern für solche Haare bezahlt haben? Was gäbe ich nicht für eine Zeitmaschine.«
»Ganz meine Meinung«, sage ich und versuche, freundlich zu sein.
Sie wirft mir einen schiefen Blick zu. »Mit diesem glatten Haar? Das glaub ich nicht, Schätzchen. Und waren Sie in den Achtzigern überhaupt schon auf der Welt?«
»War ich.« So gerade eben. »Außerdem habe ich mir mit meinem Dad Unmengen alter Musikvideos angesehen.«
»Alt?« Sie stemmt in gespielter Entrüstung eine Hand in die Hüfte.
Ich hebe die Hände in lachender Kapitulation. »Wenn Sie keine Schaufel haben, mit der ich mir ein Loch graben kann, werde ich mich jetzt aus diesem Gespräch zurückziehen.«
»Ja, ja. Ich lasse Sie vom Haken, wenn Sie mir nachher zeigen, wie man Instagram benutzt. Es scheint meine beste Chance zu sein, Fotos von meinen kleinen Enkelkindern zu sehen, und ich kriege es nicht hin.«
»Selbstverständlich. Ich komme in der Mittagspause bei Ihnen vorbei.«
»Perfekt. Jetzt gehen Sie hinein und suchen Sie Steve auf, sobald Sie so weit sind, okay? Er ist bis zehn frei und will Sie sprechen.«
Bei dem Gedanken durchzuckt mich ein kleiner Stich der Nervosität. Ich habe nichts von ihm gehört, seit ich am Freitag meinen Bericht abgeliefert habe, und … es ist seltsam. Der Mann ist normalerweise grenzwertig auf sofortige Kommunikation bedacht, nur in Ians Fall ist er sonderbar und eher angewidert, wenn ich das Gespräch mit ihm suche.
»Geht klar«, sage ich, lege meine Handtasche beiseite und schalte meinen Computer ein.
»Übrigens, schöne Arbeit an dem Fall«, ruft sie über ihre Schulter.
»Hey, Evie?«, sage ich, bevor sie verschwinden kann. »Ist irgendwas im Busch?«
Sie blinzelt verwirrt. »Wie meinen Sie das?«
»Alle scheinen den Eindruck zu haben, ich hätte etwas … Außergewöhnliches getan«, antworte ich.
»Na, und ob, Babe. Sie haben den Fall wasserdicht gemacht.«
»Ja, aber …«
»Evie!«
Wir drehen uns beide um und sehen einen der Bosse die Hände ungeduldig hochwerfen.
»Oh Mist«, murmelt sie. »Ich muss mich sputen, Schätzchen.«
Ich stoße den Atem aus. »In Ordnung.«
Aber sie hört mich nicht einmal mehr; sie ist bereits weg.
Ich beginne meinen Karton von Wolfe auszupacken, beschließe dann aber abzuwarten. Wenn Steve einen neuen Fall für mich hat, werde ich ohnehin einfach alles wieder zusammenpacken müssen.
Auf dem Weg zu seinem Büro mache ich auf eine Tasse Kaffee im Pausenraum Halt. Als ich an dem Getränk nippe, erschauere ich. Sagen wir einfach, es ist nicht ganz das Kaliber, das ich in den Büros von Wolfe genossen habe. Dort konnte man zwischen drei verschiedenen Kaffeemaschinen wählen, von denen jede einzelne hundert verschiedene Milchoptionen anbot.
Und manchmal brachten einem Leute tolle Getränke von Starbucks mit.
Du arbeitest nicht in einer Regierungsbehörde, um dich verhätscheln zu lassen, rufe ich mir ins Gedächtnis. Es ist auch nicht so, als wäre das FBI für seinen tollen Kaffee bekannt.
Kopfschüttelnd gehe ich zu Steves Büro, lächele schwach über einige hochgereckte Daumen und ähnliche Komplimente, während ich versuche, die böse Vorahnung zu ignorieren, dass etwas ganz und gar nicht stimmt. Seine Tür ist geschlossen, und Evie telefoniert, aber sie bedeutet mir einzutreten.
Ich klopfe an und höre Steves scharfes »Yallow«, was, wie ich im Laufe der Jahre begriffen habe, bedeutet: »Hi, kommen Sie rein.«
Ich öffne die Tür, stutze aber, als ich sehe, dass er nicht allein ist. »Oh! Ich bitte um Entschuldigung.«
»Keine Sorge, Ms McKenzie, ich wollte gerade gehen«, sagt der Mann, steht auf und knöpft sein Jackett zu.
Er kommt mir bekannt vor, und meine grauen Zellen überschlagen sich, um ihn unterzubringen. Mittlere Größe, mittlerer Körperbau, mittelbraunes Haar …
Nein, keine Chance.
Er erbarmt sich meiner und streckt die Hand aus. »Jacob Houghton. Ich bin Steves …«
»Schwager«, ergänze ich und schüttele ihm die Hand, während die Puzzleteilchen sich ordnen. »Natürlich. Wir haben uns auf Steves Hochzeit kennengelernt. Entschuldigen Sie. Anscheinend leide ich ein wenig unter Montagmorgenhirnnebel, und dies ist meine erste Tasse Kaffee.« Ich hebe den Becher mit schwarzem Teer.
Er lacht gutmütig. »Verständlich. Sie haben ein paar anstrengende Wochen hinter sich.«
Ich sehe Steve an in der Hoffnung auf einen Tipp, wie ich mich verhalten soll, und bin befremdet darüber, warum sein Schwager etwas über mein Arbeitspensum weiß. Der Mann gehört nicht zur SEC, er … ich erinnere mich nicht genau. Irgendetwas in der Finanzwelt, aber nicht besonders hoch oben in irgendeiner Nahrungskette, wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt.
Mein Boss beachtet unser Gespräch jedoch nicht, weil seine Konzentration einem Dokument in seiner Hand gilt.
»Schön, Sie wiederzusehen, Ms McKenzie. Steve – ich rufe dich später an. Oder Whitney macht das. Auf jeden Fall laden wir dich und Katherine diese Woche zum Abendessen ein.«
Steve stößt ein nichtssagendes Grunzen aus, während Jacob die Tür schließt.
Vertraut mit der Unfähigkeit meines Chefs beziehungsweise seiner mangelnden Bereitschaft zum Multitasking, nehme ich Platz und nippe an meinem erbärmlichen Kaffee, während ich darauf warte, dass er seine Lektüre beendet.
Ein Weilchen später legt er das Papier in einen Aktenordner auf seinem Schreibtisch, dann blinzelt er ein wenig überrascht, als hätte er vergessen, dass ich da bin.
»Richtig. Lara. Wie geht es Ihnen? Schönes Wochenende gehabt?«
Das beste. »Ja, es war in Ordnung. Und Ihres?«
»Arbeit«, murmelt er. »Viel Arbeit.«
Das soll wohl erklären, warum Sie auf meine E-Mail am Freitag nicht antworten konnten.
Steve klopft mit den Fingern auf den Schreibtisch, dann lehnt er sich in seinem Stuhl zurück, faltet die Hände über dem Bauch und mustert mich.
Ich warte ab. Ich habe gelernt, dass es selten zu etwas Gutem führt, wenn man Menschen zum Sprechen drängt, bevor sie bereit sind.
Er beugt sich vor und stößt den Atem aus. »Ich möchte, dass Sie das zuerst von mir hören.«
Mein Becher befindet sich auf halbem Weg zu meinem Mund, aber ich lasse ihn wieder sinken, und mir wird flau im Magen. »Okay …«
Er stöbert in dem Haufen auf seinem Schreibtisch, bis er auf einen Umschlag stößt. Er reicht ihn mir. »Ich überbringe das hier später.«
Ich nehme den Umschlag entgegen und ziehe das Papier darin heraus. Ich erkenne es sofort. Eine alltägliche Zwangsvorladung, genau wie die, die wir für offizielle Untersuchungen verteilen …
Ich werde ganz still, als ich den Namen sehe.
Ich schaue auf. »Was ist das?«
Sein Gesichtsausdruck ist bedauernd, aber auch resigniert. »Ich habe Ihnen von Anfang an gesagt, wie sich das hier entwickeln würde, Lara. Ian Bradley ist schuldig.«
»Dann haben Sie meinen Bericht nicht gelesen«, erwidere ich, schiebe das Papier zurück in den Umschlag und überreiche ihn mit einer Gelassenheit, die meine klebrigen Hände Lügen straft.
Er hält meinen Blick fest. »Ich habe den Bericht gesehen. Nur weil es bei Wolfe keine Beweise gibt, bedeutet das nicht, dass er nicht schuldig ist.«
»Das Rechtssystem der Vereinigten Staaten sieht das anders«, blaffe ich. »Verdammt, Steve, dieses Amt hier sieht das anders. Was wissen Sie, was Sie mir nicht erzählen? Warum sind Sie so überzeugt davon, dass er schuldig ist?«
»Warum sind Sie so überzeugt davon, dass er es nicht ist?«
»Es gibt keine …«
»Beweise. Ja. Ich habe den Bericht gelesen. Ich bin diesem Burschen außerdem ein oder zwei Mal begegnet, also habe ich ihn in Aktion gesehen.«
Ich beiße die Zähne zusammen. »Was soll das heißen?«
Steve seufzt, als sei ich begriffsstutzig. »Es heißt, dass Sie von jetzt an von dem Fall abgezogen werden. Sie haben gute Arbeit geleistet, ich weiß, Sie haben Ihr Bestes gegeben, aber …«
»Kein ›Aber‹«, unterbreche ich ihn. »Ich habe gute Arbeit geleistet, ich habe mein Bestes gegeben, und es gibt keine Beweise. Sie haben nur Ihre anonyme Quelle. Um sicherzustellen, dass der Fall zu unseren Gunsten ausgeht, würden wir einen weiteren Zeugen brauchen. Und das auch nur, wenn Ihre Quelle einer Aussage zustimmt …«
»Er wird aussagen. Wie dem auch sei, das ist nicht mehr Ihr Problem.«
»Aber …«
»Das Gespräch ist beendet, Lara«, sagt Steve mit mehr Ärger, als er je gegen mich gerichtet hat. »Ich hätte gedacht, Sie würden glücklich darüber sein. Obwohl ich den Fall selbst übernehme, bedeutet Ihre Mitwirkung im frühen Stadium, dass man Sie damit in Verbindung bringen wird …«
»Ich will nicht damit in Verbindung gebracht werden.«
»Wenn Sie zum FBI wollen, sollten Sie das aber.« Ich lehne mich zurück, benommen von der Schlussfolgerung.
Er steht auf. »Wenn Ihnen auch nur das Geringste an Ihrer Karriere liegt, dann halten Sie sich raus.«
Ich erhebe mich ebenfalls. »Oder was?«
Steve blinzelt überrascht. »Wie bitte?«
»Ich gebe diesen Fall ab, oder es passiert was?«
»Lara, Sie wollen mir in dieser Angelegenheit keinen Knüppel zwischen die Beine werfen.«
»Sehen Sie, genau das ist es, Steve. Ich denke, das will ich«, sage ich und lege die Hände auf seinen Schreibtisch. »Ich habe bei jedem einzelnen Schritt nach den Regeln gespielt, und ich erwarte das Gleiche von allen, mit denen ich zusammenarbeite.«
Er lacht, ein harscher, geringschätziger Laut. »Sie sind was? Achtundzwanzig? Sie wissen einen Scheißdreck darüber, wie die Welt funktioniert.«
»Dann erleuchten Sie mich«, sage ich. »Erklären Sie mir, warum wir ohne den Hauch eines Beweises eine offizielle Ermittlung beginnen.«
»Beweise können … ausgegraben werden.«
Ich habe den Ausdruck Das Blut gefriert mir in den Adern noch nie verstanden, aber jetzt verstehe ich ihn, denn genau das passiert, als er diese Worte spricht.
»Was verschweigen Sie mir?«, frage ich, darauf bedacht, meine Stimme ruhig zu halten.
Als er mich ansieht, wirkt er besiegt und ganz anders als der Mann, den ich zu kennen glaubte. »Halten Sie sich einfach da raus, Lara. Die Welt wird nicht aufhören, sich zu drehen, wenn wir an einem aalglatten Anzugträger von der Wall Street ein Exempel statuieren.«
»Nein. Ich werde mich nicht zurücklehnen und zulassen, dass Sie einen unschuldigen Mann zu Fall bringen.«
Er fährt sich müde mit einer Hand übers Gesicht. »Bitte. Ich bitte Sie, mir einen Gefallen zu tun. Sie brauchen nicht zu lügen. Halten Sie einfach den Mund und warten Sie ab, bis ich Sie beim FBI unterbringen kann.«
Ich sehe meinen Boss lange an, und mir wird schwer ums Herz, als ich begreife, was ich tun muss.