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Lara
Woche 6: Sonntagabend
Von allen Abstechern zu Ians Wohnung, die ich während der letzten Wochen unternommen habe, ist dies zweifellos der härteste.
Er öffnet auf mein Klopfen hin die Tür, und ich brauche einen Moment, um den Holzlöffel in seiner Hand zu registrieren und den Geruch von Knoblauch, der durch die Wohnung weht.
»Kochst du gerade?«, frage ich ein wenig verblüfft.
Er deutet mit dem Löffel auf mich und küsst mich auf die Wange. »Ja. Und du solltest dich geschmeichelt fühlen und dir gleichzeitig Sorgen machen, dass dies für mich eine Premiere sein könnte.«
»Warum sollte ich mir Sorgen machen?« Ich trete ein und schließe die Tür.
»Weil ich mir zu neunzig Prozent sicher bin, dass ich den Knoblauch habe anbrennen lassen. Ich konnte im Lebensmittelladen keine Schalotten finden, also habe ich stattdessen Kapern genommen und erst später erfahren, dass die beiden Dinge sich nicht einmal ansatzweise ähneln. Und lass uns einfach sagen, dass das Entbeinen eines Huhns verdammt viel schwerer ist, als es auf YouTube aussieht.« Er schaut über seine Schulter und dreht sich wieder zum Herd um. »Wein?«
»Ich brauche nichts«, sage ich, gehe zur Theke und bete um den Mut zu tun, was zu tun ich hierhergekommen bin.
Er macht es mir jetzt schon schwer. Er kocht, um Himmels willen. Zum ersten Mal. Für mich.
Ich hätte nicht gedacht, dass es einen heißeren Anblick geben könnte als Ian in seinem Anzug oder, besser noch, Ian nackt. Aber dieser Ian hier macht etwas ganz Gefährliches mit meinem Herzen. Dieser Ian hat Krawatte und Jackett abgelegt und die Ärmel seines Hemdes aufgekrempelt und sieht vollkommen entspannt aus.
Nein, nicht nur entspannt. Glücklich.
Und einen flüchtigen Augenblick überlege ich, ob dies unser Leben sein könnte … zusammen.
Aber dann erinnere ich mich daran, dass es zu früh ist, dass alles zu schnell gegangen ist und wir jetzt nicht die Zeit haben, die wir brauchen.
»Lief es gut, alles auf den neuesten Stand zu bringen?«, fragt er, während er in dem rührt, was immer sich auf dem Herd befindet.
Ich zucke zusammen. Ich habe ihm erzählt, dass ich den Tag in der Bibliothek verbringen wolle, um meinen Lebenslauf auf den neuesten Stand zu bringen und nach Jobs zu suchen.
Ich habe gelogen.
»Und bist du dir sicher, dass du keinen Wein willst? Es ist ein exzellenter Malb…«
»Ian.«
Er dreht sich zu mir um, und sobald er mein Gesicht sieht, schaltet er die Herdplatte aus und wirft den Löffel in den Bräter. »Was ist?«, fragt er, kommt auf mich zu und greift nach meinen Händen. »Erzähl es mir.«
»Ich habe gute Neuigkeiten«, sage ich und zwinge mich zu einem Lächeln.
Er runzelt die Stirn, wahrscheinlich weil mein Lächeln sich wie eine traurige Imitation von Glück anfühlt.
»Reiß das Pflaster einfach ab, Lara«, fügt er hinzu und drückt meine Hände. »Ich werde mit allem fertig, was kommen kann.«
Nicht damit.
»Ich habe einen neuen Job«, sage ich.
Er zieht verwirrt die Brauen zusammen, dann bedenkt er mich mit einem zaghaften Lächeln, das mir das Herz bricht. »Das ist toll. Fantastisch. Oder?«
Ich nicke enthusiastisch, aber wie mein Lächeln fühlt es sich falsch an. »Es ist ein Job beim FBI. Aber …« Ich hebe die Hand, bevor er auf falsche Ideen kommt. »Nicht als Agentin. Als Analytikerin. Es ist ein Schreibtischjob. Ganz unten in der Nahrungskette, Papiere hin und her schieben und so weiter.«
»Ah.«
Ja. Ah.
Ich habe keine Probleme mit Verwaltungsarbeit. Hölle, diese Menschen arbeiten härter als irgendjemand, den ich kenne, und einige gehören zu den Klügsten überhaupt.
Aber es ist nicht das, was ich wollte. Es ist nicht mein Traum. Ich weiß es. Ian weiß es.
Wegen allem, was passiert ist, bin ich nicht mehr auf dem Weg, Agentin zu werden. »Meine Eltern haben mit einigen Leuten gesprochen und die Situation erklärt, aber … tja, wie gesagt, in Quantico herrscht großes Konkurrenzdenken. Und mein Ruf im Augenblick? Im Dreck.«
Er zuckt zusammen. »Gott, Lara. Es tut mir so leid …«
»Nein, ist schon gut«, unterbreche ich ihn, und diesmal ist mein Lächeln ein wenig echter, denn es wird gut werden. Ich bin fest entschlossen, dafür zu sorgen. »Ich bin dem FBI trotzdem näher als je zuvor. Es ist ein Job in der Abteilung für Wirtschaftskriminalität, daher werde ich an Enthüllungen beteiligt sein und tonnenweise Beziehungen knüpfen. Und jedes Jahr nimmt Quantico auch Analytiker auf, die Agenten werden möchten. Ich habe zwar gedacht, ich werde auf anderem Weg dort landen, aber ich werde mein Ziel erreichen.«
»He, dann sind das gute Neuigkeiten«, sagt er leise. »Aber« – er beugt sich leicht vor, um mich genauer anzusehen – »du bist nicht glücklich. Warum nicht?«
Ich hole tief Luft. »Ich habe heute nicht meinen Lebenslauf auf den neuesten Stand gebracht. Ich habe gepackt.« Ich sage es schnell, an meine Füße gerichtet.
Seine Hände verkrampfen sich um meine. »Wie bitte?«
Ich zwinge mich aufzuschauen und ihm in die Augen zu sehen. »Ich habe gepackt. Dieser FBI-Job … er ist in Washington D. C.«
Er hebt überrascht den Kopf. »Oh.«
»Ja.«
Er lässt meine Hände los und verschränkt seine hinter dem Nacken, während er auf und ab geht, als versuche er, eine Lösung zu finden, die ihm besser gefällt. »Es gibt auch hier einen Ableger des FBIs, oder? Auch Bürojobs.«
»Das stimmt. Aber sie brauchen keine Analytiker. Und zu denen hat mein Vater keine Beziehungen.«
Er hört auf, im Raum hin und her zu gehen, und lässt die Arme sinken. »Dein Vater hat dir den Job verschafft?«
Ich ziehe eine Schulter hoch. »Mein Lebenslauf hat mir den Job verschafft. Aber ja, er hat mir geholfen.«
Ian lächelt, und es ist ein aufrichtiges Lächeln. »Das ist großartig. Wirklich großartig. Er hat eine Weile gebraucht, aber endlich unterstützt er dich bei deinem Traum.«
Ich mustere sein Gesicht und sehe nichts als Glück. Für mich. Selbst wenn ich ihn verlasse.
Meine Augen werden feucht, denn in diesem Moment weiß ich, dass ich ihn liebe. Es braucht schon einen Mordskerl, um das Glück eines anderen über sein eigenes zu stellen. Um etwas für mich mehr zu wollen, als er etwas für sich selbst will.
Er runzelt die Stirn, als er meine Tränen sieht. »Was ist los?«
»Nichts«, lüge ich. »Es sind Glückstränen.«
Glücklich über den Job, traurig darüber, dich zu verlassen.
»He«, murmelt er und nimmt mich in die Arme. »Nicht weinen. Das ist doch gut.«
Ich nicke und lasse mich in seine Umarmung sinken, um etwas von seiner Stärke in mich aufzunehmen.
Ich höre ihn schlucken, und er hebt die Hand an meinen Hinterkopf. »Aber ätzend für uns.«
Ich schlinge ihm die Arme um den Rücken. »Ja. Ätzend für uns.«
Wir halten einander lange Zeit umfangen. Wir reden nicht. Wir küssen uns nicht. Halten einander nur fest.
Ich überlege, ob er tut, was ich während der vergangenen vierundzwanzig Stunden getan habe, nämlich versucht herauszufinden, wie das alles gehen soll. Sein Job. Mein Job. Wir.
Wenn er darüber nachdenkt, fällt ihm anscheinend keine Lösung ein, denn er schiebt mich langsam von sich weg. »Was brauchst du von mir? Ich kann eine Pizza bestellen. Dir beim Packen helfen.«
Ich fühle mich versucht – schrecklich versucht –, einfach ein klein wenig mehr Zeit mit ihm zu verbringen. Aber ich glaube nicht, dass ich das überstehe.
Ich drücke den Handrücken gegen meine Nase, um die schlimmsten Tränen abzuwehren, aber sie kommen trotzdem. »Ich fürchte, ich brauche einen sauberen Schnitt«, bringe ich hervor.
Seine Züge entgleisen kurz, und er schiebt die Hände in seine Taschen und schaut zu Boden und dann wieder zu mir. »Klar. Ja. Ich verstehe.«
Wir stehen ein Weilchen still in stummem Elend da.
Dann streckt er die Hände nach mir aus, und ich gehe zu ihm. Unsere Münder kollidieren in einem Kuss, der ebenso heiß wie traurig ist, eine hektische Verschmelzung von Lippen, die gleichzeitig Versprechen und Lebewohl ist.
Geh nicht, sagt sein Kuss.
Ich muss, antwortet ihm meiner.
Als wir uns voneinander lösen, sind wir beide außer Atem, er hält mein Gesicht umfangen und hat seine Stirn an meine gelegt.
Ich verspüre einen wilden Drang, mich an ihn zu klammern, und einen noch zerstörerischen Drang, meine Meinung zu ändern. Zu sagen, zum Teufel mit dem FBI und allem, was ich mir mein ganzes Leben lang gewünscht habe, seit ich erwachsen bin, wofür ich die ganze Zeit gearbeitet habe, und zwar für einen Mann, der mich will, von dem ich aber denke, dass er immer noch weit davon entfernt ist, mich zu lieben.
»Ich sollte gehen«, flüstere ich. Ich muss gehen.
Ian nickt, gibt mich langsam frei und lässt die Arme dann fallen.
Ich schaffe es bis zur Tür, bevor er meinen Namen sagt, das Wort hektisch und zögerlich zugleich.
»Lara, was würdest du sagen … was würdest du tun … wenn ich dich bäte zu bleiben?«
Ich könnte es tun. Der Mann hat mehr als genug Geld. Ich könnte ihn um ein Darlehen bitten, und ich weiß, dass er es mir binnen eines Herzschlags zugestehen würde, und sich dann furchtbar anstellen und es mich ihm nicht zurückzahlen lassen würde.
Und was dann? Ich ziehe ein? Lebe von seinem Einkommen? Werde zu der ausgehaltenen Frau, die dafür bekannt ist, dass sie ihre Integrität für einen Mann aufgegeben hat? Es ist nicht wahr, aber der Ruf würde mir anhaften, und selbst wenn es nicht so wäre …
Ich brauche mehr, als Ian Bradleys Freundin zu sein. Ich muss Lara McKenzie sein, und Lara McKenzie will immer noch zum FBI.
»Nicht«, wispere ich. »Bitte, frag nicht.«
Er nickt und lässt mich ohne ein weiteres Wort gehen.
Ich schaffe es immerhin bis auf den Rücksitz des Taxis, bevor ich richtig anfange zu weinen.