2. KAPITEL

Kate umklammerte die Teetasse mit beiden Händen und zwang sich, ein paar Schlucke zu trinken.

„Ich hasse gezuckerten Tee“, sagte sie. Sie sah auf, versuchte zu lächeln und tapfer zu sein. Doch seine Miene war verschlossen, ausdruckslos, und Kate spürte, wie die Angst mit eisiger Hand wieder nach ihr griff.

„Nick? Er wird es schaffen.“ Er muss, dachte sie, verzweifelt bemüht, nicht zusammenzubrechen. Ben war zuversichtlich gewesen und Josh auch.

„Nick?“

Er atmete tief durch und drehte ihr den Kopf zu. „Entschuldige, ich war meilenweit weg.“

Meilenweit weg? Während die Ärzte versuchten, bei seinem Sohn die lebensbedrohlichen Blutungen zu stoppen? Wo zum Teufel war Nick mit seinen Gedanken? Und dieser Ausdruck in seinen Augen …

Er sah sich im Zimmer um. „Ich war seit Jahren nicht hier. Hat sich nichts verändert. Immer noch dieselben hässlichen Vorhänge.“

Und da begriff sie. Dieses Zimmer erinnerte ihn an Annabels tragischen Tod. „Oh, Nick, es tut mir so leid“, sagte sie mitfühlend.

„Schon gut. Es ist fünf Jahre her“, wehrte er ab. „Wichtiger ist, wie geht es dir? Was meinte Ben mit deinen Füßen? Wo warst du eingeklemmt?“

„Nicht schlimm, nur zwischen den Pedalen. Mir geht es gut.“

Nick schien davon nicht überzeugt, denn er kam zu ihr herüber, setzte sich neben sie und blickte ihr forschend in die Augen. „Wie ist es passiert?“

„Er war mit seiner Klasse auf einer Freizeit gewesen, und ich wollte ihn von der Schule abholen. Es war meine Schuld … ich habe auf der anderen Straßenseite gehalten, ihn angerufen, er kam rausgelaufen und ist eingestiegen, und dann bin ich auf die Fahrspur zurück. Ich konnte kaum etwas sehen, es regnete in Strömen, aber ich habe auch kein Scheinwerferlicht gesehen. Und ich weiß noch, wie ich dachte, nur ein Idiot wird bei diesem Wetter ohne Licht fahren, also muss die Straße frei sein. Im nächsten Moment gab es einen gewaltigen Schlag, und wir rammten seitwärts einen Wagen, die Airbags gingen auf und …“

Sie verstummte und senkte den Kopf.

Einen Moment später war alles vorbei gewesen. Sie hatte nichts tun, nichts mehr ändern können. Doch für den Rest ihres Lebens würde sie diese wenigen Sekunden nicht vergessen. Wie in Zeitlupe spielten sie sich auch jetzt wieder vor ihrem inneren Auge ab. Sie hörte das metallische Knirschen, den Aufschrei ihres Kindes und den dumpfen Knall, bevor sich der Airbag in ihr Gesicht presste.

„Ach, Kate“, sagte er leise, und sie sah auf, in seine tiefgründigen dunkelbraunen Augen, die seine Gefühle sonst so gut verbargen. Aber nicht jetzt. Kate las Mitgefühl und noch etwas in ihnen, das sie nicht benennen konnte. „Es tut mir so leid“, fuhr er fort. „Es muss furchtbar gewesen sein.“

Sie versuchte, stark zu bleiben, nicht der Versuchung zu erliegen, sich in diesem sanften Blick zu verlieren. „Ich begreife einfach nicht, dass ich den Wagen nicht gesehen habe.“

„Du hast gesagt, da wäre kein Scheinwerferlicht gewesen.“

„Ich habe keins gesehen, aber …“

„Dann ist es auch nicht deine Schuld.“

„Erzähl keine Märchen, Nick“, erwiderte sie ungehalten. „Ich habe einen dicken Geländewagen gerammt, weil ich bei eingeschränkter Sicht auf die Straße gefahren bin. Jem hätte auf der Stelle tot sein können.“

Nick presste kurz die Lippen zusammen. „Bestimmt ist er mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren, Kate.“

„Kann sein. Trotzdem ist es meine Schuld.“

„Tu es nicht“, warnte er. „Glaub mir, es ist nicht gut, die Schuld allein auf sich zu nehmen. Es kann dich zerstören.“

So wie dich deine Schuldgefühle nach Annabels Tod fast zerstört hätten? Kate schluckte die Antwort wieder hinunter und blickte zur Uhr. Die Zeiger hatten sich kaum bewegt, obwohl ihr das Warten schon wie eine Ewigkeit vorkam.

„Jem ist in guten Händen, Kate.“

„Ja, ich weiß.“ Sie lächelte schwach und hob die Hand, um ihm über die Wange zu streichen. Die Bartstoppeln kratzten an ihrer Haut, raue Männlichkeit, die sie plötzlich als unendlich tröstlich empfand. Nicks Stärke tat ihr gut. Kate musste sich zurückhalten, ihn nicht zärtlich mit dem Daumen zu streicheln, wie sie es bei Jem tun würde. Bei jedem, den sie liebte.

Hastig ließ sie die Hand sinken. „Das mit Jack tut mir leid.“

„Ich wusste, dass er es mir übel nehmen wird“, antwortete er achselzuckend. „Aber das macht nichts. Er hat mir schon so vieles übel genommen, damit kann ich leben.“

Das ist nicht wahr, Nick. Sie wusste, dass er sich etwas vormachte. „Er ist ein guter Kerl, Nick, er wird sich damit abfinden. Und er wird es nicht an Jem auslassen. Auch seine Geschwister nicht.“

Er nickte, stand auf und schob die Hände tief in die Hosentaschen, bevor er ans Fenster trat und in den strömenden Regen hinaussah. „Oh, natürlich nicht. Sie werden ihn in ihre Mitte nehmen und ihm das Gefühl geben, dass er zur Familie gehört. So sind sie. Da schlagen sie nach Annabel.“ Sein Blick fiel auf den Tisch mit den Tassen. „Trink deinen Tee, bevor er kalt wird.“

Kate ließ ihn das Thema wechseln und hob ihre Tasse an den Mund. Wozu ihn bedrängen? Nick war kein Mann, der gern Gefühle zeigte, geschweige denn lang und breit über sie reden wollte. Und heute, sie konnte es sich genau vorstellen, drohte er in Gefühlen zu ersticken.

Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie presste unwillkürlich die Hand aufs Herz. Dabei spürte sie, dass ihr die Brust an der Stelle wehtat. Das muss vom Sicherheitsgurt kommen, dachte sie. Die Haut war dort immer noch empfindlich, obwohl die Brustoperation und die folgenden Bestrahlungen schon einige Monate her waren.

Kate verspürte eine plötzliche Unsicherheit. Dr. Bower hatte ihr im Januar zwar bestätigt, dass der Krebs überwunden war, aber eine Garantie für die Zukunft bedeutete das nicht. Wenn mir etwas zustößt, braucht Jem seinen Vater, dachte sie. Falls er überlebt …

„Dein Tee wird auch kalt, Nick“, sagte sie abrupt, um den schrecklichen Gedanken im Keim zu ersticken.

Er setzte sich wieder neben sie, nahm einen Schluck und sagte unerwartet: „Josh O’Hara ist ein Freund von Jack aus der Londoner Zeit. Ein fähiger Kollege. Ben hat auch mit ihm zusammengearbeitet und ihn deshalb hergeholt, als die Stelle frei wurde. Und Ben wird es nicht zulassen, dass Jeremiah …“ Nick unterbrach sich mitten im Satz, als die Tür aufging und Ben hereinkam.

Kate stellte klirrend die Tasse ab. Ihr Hals war vor Angst auf einmal wie zugeschnürt. „Wie geht es ihm?“, stieß sie hervor.

„Er ist stabil, sein Blutdruck niedrig, aber noch okay. Josh und der Anästhesist haben ihn deshalb zum CT gebracht, um sich ein genaues Bild von seinen Verletzungen zu machen. Danach kommt er sofort in den OP.“ Er lächelte aufmunternd. „Und jetzt kümmern wir uns um dich, Kate. Komm mit.“

Sie stand auf und merkte erst jetzt, wie sehr ihre Beine zitterten. Das Schwächegefühl wurde schlimmer, in ihrem Kopf hallte ein Echo wider. Er ist stabil. Unendliche Erleichterung überschwemmte sie und ertränkte auch den letzten Rest ihrer Selbstbeherrschung. Kate wollte Luft holen, aber sie konnte nur schluchzen, Tränen liefen ihr über das Gesicht, immer mehr.

Da spürte sie Nicks starke Arme um sich und lag im nächsten Moment an seiner breiten Brust. Sie fühlte sich so unbeschreiblich sicher und geborgen, dass sie für immer so bleiben wollte. Wenn sie sich bei Nick anlehnte, wenn er sie hielt, dann konnte ihr doch nichts passieren, oder?

Nick stand ein paar Sekunden steif da, doch dann bewegte er sich, legte sanft die Hand an ihren Hinterkopf, drückte ihn an seine Schulter und sprach beruhigend auf Kate ein.

Es muss schrecklich für sie sein, dachte er, bis ihm einfiel, dass es nicht nur ihr, sondern auch sein Sohn war. Emotionen stürmten auf ihn ein, doch er verdrängte sie mit Gewalt. Kate brauchte ihn, er musste jetzt für sie da sein. Um seine Gefühle konnte er sich später kümmern.

„Willst du nicht ins Labor gehen und dir das Blut abnehmen lassen?“, schlug Ben vor, nachdem Kate sich wieder gefangen hatte und von einer Schwester zum Röntgen gebracht wurde. „Ich achte schon auf Kate.“

„Wartet Lucy nicht zu Hause auf dich?“

Ben lächelte. „Nicht mehr … ich habe sie angerufen und ihr erzählt, was passiert ist.“

„Alles?“ Das Herz hämmerte ihm gegen die Rippen.

„Nein. Das wollte ich dir oder Jack überlassen.“

„Sie wird von mir enttäuscht sein.“

„Ich weiß nicht“, meinte sein Schwiegersohn nachdenklich. „Anfangs vielleicht, aber sie hat schon öfter gesagt, wie gut du und Kate zusammenpasst. Sie weiß, dass ihr eine Zeit lang zusammen wart, bevor du Annabel kennengelernt hast. Vor gut einer Woche hat sie sich sogar gefragt, warum ihr nicht ein Paar werdet. Schließlich seid ihr beide ungebunden.“

Nick lachte, aber es klang hohl. „Daraus wird nichts. Kate geht weg. Sie hat beim PCT gekündigt und will Penhally Bay verlassen.“

„Ist das wahr?“

Nick zuckte mit den Schultern. „Sie hat es mir heute gesagt … das heißt, sie hat mir einen Brief geschrieben.“ Dass sie es ihm nicht persönlich erzählt hatte, tat immer noch weh.

„Das tut mir leid“, sagte Ben.

„Warum sollte es das?“

„Sag du’s mir.“ Seine Stimme klang eine Spur sanfter.

Unruhig wich Nick seinem Blick aus. „Sie gibt sich selbst die Schuld“, sagte er statt einer Antwort. „Sie meint, sie hätte kein Scheinwerferlicht gesehen und wäre deshalb rübergefahren.“

Ben ließ sich nichts anmerken und schwenkte sofort auf den Themenwechsel ein. „Bei dem Regen ist die Sicht eingeschränkt, aber ich vermute, der andere Fahrer hatte nicht nur vergessen, das Licht einzuschalten, sondern ist auch viel zu schnell gefahren. Dafür gibt es Zeugen. Außerdem war er nicht angeschnallt, und der Wagen hatte keine Steuerplakette. Wir behalten den Mann zur Beobachtung über Nacht hier, und die Polizei war schon bei ihm. Es war definitiv nicht Kates Schuld.“ Er wandte sich zum Gehen. „Ich kümmere mich um sie. Geh du zum Blutspenden, wir sehen uns hinterher.“

Nick machte sich auf den Weg in die Hämatologie und traf dort auf Jack.

Der musterte ihn aufmerksam. „Geht’s dir gut?“

„Ja. Ben ist bei Kate.“

„Wann hast du zuletzt etwas gegessen?“

Fast hätte Nick aufgelacht. Im ersten Moment hatte er geglaubt, dass Jack sich mitfühlend nach seinem Wohlbefinden erkundigt hätte. Aber nein, er wollte nur wissen, ob er für die Blutspende körperlich fit war.

„Heute Mittag.“ Er überlegte, was, und erinnerte sich vage an ein Sandwich. Die Hälfte hatte er liegen lassen … es schien eine Ewigkeit her zu sein. Ich hätte Hazels Kekse essen sollen, statt sie Mr. Pengelly zu überlassen, dachte er. „In der Notaufnahme habe ich ein bisschen Tee getrunken.“

„Hier.“ Jack zog eine schmale Packung Kekse aus der Tasche. „Iss das und hol dir am Wasserspender etwas zu trinken, sonst kippst du um, wenn sie dir Blut abzapfen.“ Ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab.

Nick folgte ihm, füllte unterwegs am Wasserspender einen der Pappbecher, und bald darauf lag er auf einer der Liegen, von seinem Sohn durch einen Vorhang getrennt.

„Gut, dass Sie regelmäßig spenden, Dr. Roberts“, sagte die junge Frau freundlich. „Das erspart uns Arbeit und Zeit. Ich vermute, dass sich seit dem letzten Mal nichts geändert hat?“

„Nein, nichts.“ Abgesehen davon, dass sein jüngster Sohn mit dem Tode rang und Kate beschlossen hatte, Cornwall zu verlassen. „Nehmen Sie zwei Einheiten.“

Damit war sie nicht einverstanden, Nick widersprach, und so ging es hin und her, bis Jack sich barsch einmischte.

„Tun Sie es einfach, er wird nicht nachgeben. Nehmen Sie von mir auch zwei.“

„Sind Sie sicher? Ich würde es gern vermeiden, aber andererseits sind wir wirklich knapp an B negativ. Sie müssen doch heute Abend nicht mehr arbeiten?“

„Nein, ich habe für heute Feierabend, und morgen liegt nicht viel an“, antwortete Jack. „Wenn alle Stricke reißen, kann mein Oberarzt für mich einspringen.“

„Und ich bleibe vorerst hier im Krankenhaus, bis es Jem besser geht“, fügte Nick hinzu.

Falls es ihm besser gehen wird, fügte er im Stillen hinzu. Oh, verdammt, er muss wieder gesund werden. Er hatte ihm noch so viel zu sagen, so viel verlorene Zeit aufzuholen. Nick erschien es wie eine hämische Ironie des Schicksals, dass er Jem verlieren könnte, jetzt, da er endlich akzeptierte, dass der Junge sein Sohn war.

Er legte den Kopf zurück und schloss die Augen. Ich ertrage es nicht, schon wieder jemanden aus meiner Familie zu verlieren, dachte er. Und Kate auch nicht. Nick pumpte mit der Hand, damit das Blut schneller aus ihm herausfloss und er so bald wie möglich wieder bei ihr sein konnte …

„Gebrochen ist nichts, aber sie hat ein leichtes Schleudertrauma und ein paar ordentliche Prellungen“, erklärte Ben und nahm Nick beiseite. „Vor allem am rechten Knöchel. Und der Gurt hat Spuren hinterlassen. Die Haut ist da, wo sie die Krebsoperation hatte, sowieso noch ziemlich empfindlich. Ich habe ihr ein Schmerzmittel gegeben, aber ein Beruhigungsmittel wollte sie nicht – obwohl sie immer noch unter Schock steht.“

„Sie kann ziemlich stur sein.“

„Genau wie du.“

Nick verzog das Gesicht. „Topf und Deckel, meinst du?“

Ben grinste. „Geh rein zu ihr, sie wartet schon auf dich. Ach, und gib mir deine Autoschlüssel, damit ich den Wagen wegfahren lassen kann. Er steht im Weg, die Sanitäter sind schon sauer.“

Sie war eingeschlafen.

Das dachte er jedenfalls, doch als er ans Bett trat, schlug sie die Augen auf.

„Hast du etwas Neues gehört?“

Nick schüttelte den Kopf. „Nein. Er ist noch beim CT. Bist du so weit okay, dass wir runtergehen können?“

Kate stieß ein humorloses Lachen aus, das ihm durch und durch ging. „Klar. Mein rechter Knöchel tut ziemlich weh, aber ich habe Arnika-Gel in meiner Handtasche, damit kann ich ihn nachher einreiben. Gehen wir.“

„Ich kann es auch jetzt machen, wenn du willst“, bot er an, während er sich gleichzeitig fragte, ob er es ertragen würde, über ihre weiche, warme Haut zu streichen … und gleichzeitig zu wissen, dass er kein Recht hatte, Kate zu berühren, zu halten … zu lieben?

„Nicht jetzt“, antwortete sie. „Später vielleicht. Ich möchte zu Jem.“

„Warte, ich hole einen Rollstuhl.“

„Sei nicht albern, Nick.“ Sie schwang die Beine vom Bett und verzog das Gesicht, als sie die Füße in die feuchten Schuhe zwängte. „Ich kann laufen, mir geht’s gut.“

Es ging ihr nicht gut, natürlich nicht. Aber sie hat Mumm, dachte er bewundernd. Nick nahm ihre Hand und hakte sie bei sich unter, damit Kate sich auf ihn stützen konnte. Langsam machten sie sich auf den Weg zur Radiologie. Er fühlte sich seltsam leicht im Kopf und überlegte, ob es doch keine so gute Idee gewesen war, gleich zwei Einheiten Blut zu spenden. Eigentlich sollte er etwas essen und trinken, aber dazu war keine Zeit.

„Er müsste gleich rauskommen, sie sind fast fertig“, erklärte ihnen eine Krankenschwester.

Warten bekam ihr gar nicht. Kate wurde noch nervöser, ihr Magen schien voller Bleigewichte zu sein, und die Schmerzmittel, die Ben ihr gegeben hatte, wirkten nicht. Jedenfalls nicht genug. Sie bewegte vorsichtig den Kopf, rollte mit den Schultern, aber die Verspannung blieb.

Kein Wunder, aus Angst vor schlechten Nachrichten war sie gespannt wie eine Sprungfeder.

„Ich kann hier nicht sitzen bleiben“, sagte sie zu Nick und stand in dem Moment auf, als die Türen aufschwangen. Josh und der Anästhesist schoben Jem heraus, und der Radiologe kam herüber.

Er nickte Nick zu und wandte sich an Kate. „Mrs. Althorp?“

„Ja.“ Kate drückte die zitternden Knie durch und spürte im nächsten Moment Nicks Hand auf ihrer Taille. Dankbar lehnte sie sich an ihn und löste den Blick von Jem und dem Spalt in den Tüchern, wo das Metallgestänge, das sein Becken zusammenhielt, zu sehen war. „Wie geht es ihm?“, fragte sie ängstlich.

„Er hat Glück gehabt, außer der Beckenfraktur konnten wir keine weiteren Verletzungen feststellen. Eine Hirnblutung ist ausgeschlossen, deshalb kann er direkt nach oben in den OP gebracht werden. Am besten begleiten Sie ihn. Sie müssen ein paar Formulare unterschreiben, falls Sie das noch nicht erledigt haben, und ich vermute, dass Sie oben auf Neuigkeiten warten wollen, oder?“

Kate nickte und blickte wieder zu ihrem Sohn. Sie wollte ihn so gern berühren, mit ihm sprechen, aber er war noch betäubt von der Narkose. Trotzdem beugte sie sich über die Rollliege und legte ihm die Hand auf die Wange. Beruhigt spürte sie seine Wärme.

„Jem? Ich bin’s, Mum“, sagte sie sanft. „Du wirst wieder gesund, mein Schatz, ganz bestimmt. Ich bin bei dir, hörst du? Ich hab dich lieb …“

Ihr versagte die Stimme, und Nick drückte Kate an sich, während sie hinter den anderen zum Fahrstuhl gingen.

Minuten später beobachtete sie, wie er in den OP-Saal gerollte wurde, und dann führte Nick sie zu der Stuhlreihe. Das lange Warten begann …

„Das ist also dein Schwiegervater?“

Ben brummte nur zustimmend, und Josh fuhr fort: „Zuerst habe ich ihn für den Vater des Jungen gehalten. Ich nehme an, er und die Mutter sind befreundet?“

Ben seufzte und ließ den Füller sinken. „Sie sind auch Kollegen. Sie kennen sich seit einer Ewigkeit.“

Josh nickte. „Ich weiß, dass du nicht immer gut mit ihm klargekommen bist. Jack erwähnte mal, dass er …“

„Schwierig sein kann?“

Josh grinste. „So höflich hat er sich nicht ausgedrückt.“

„Das glaube ich gern.“ Ben lachte auf. „Aber das haben wir zum Glück hinter uns.“

„Sicher? Auf dem Weg in den Schockraum bin ich Jack begegnet. Er stürmte den Flur entlang und machte ein Gesicht, als wollte er jemanden erwürgen. Haben sie sich gestritten?“

Ben ging nicht darauf ein. Stattdessen schraubte er die Kappe auf seinen Füller, lehnte sich im Stuhl zurück und wechselte das Thema. „Gute Arbeit, Josh“, meinte er. „Die Beckenfixierung, sehr ordentlich. Du wirst für die Abteilung eine Bereicherung sein.“

Josh verstand den Wink mit dem Zaunpfahl. „Danke. Ich hoffe, ich kann auch alle anderen davon überzeugen.“

„Machen sie es dir schwer?“

Er zuckte mit den breiten Schultern. „Einige. Nicht alle. Wieso auch nicht? Ich bin der Neue, da sind sie nun mal misstrauisch.“

„Was wirklich Blödsinn ist. Ich rede mit ihnen.“

„Nein, nein, lass nur. Ich werde Doughnuts mitbringen, viel lächeln, länger arbeiten. Du weißt ja, wie das läuft … Süßholzraspeln für einen guten Zweck.“

„Glaub nicht, dass du mich damit beeindrucken kannst. Ich weiß, was ich an dir habe, und die Sympathie der anderen erringst du eher, wenn du deine Sache gut machst. Rette ein paar Leben, das wirkt am besten.“

„Das mache ich noch zusätzlich.“ Josh lächelte, froh darüber, dass Ben mit ihm zufrieden war. Das Thema Nick Roberts war vergessen, als er das Zimmer verließ, fest entschlossen, ein paar Skeptiker für sich zu gewinnen.

Warum verging die Zeit nur so langsam?

Kate betrachtete die Wanduhr, und es kam ihr vor, als würden die Zeiger im Schneckentempo über das Zifferblatt kriechen. Sie rutschte unruhig auf dem gepolsterten Kunststoffstuhl hin und her, ließ den Kopf zurücksinken und seufzte leise.

„Er wird wieder gesund, Kate“, sagte Nick zum wohl hundertsten Mal.

Sie nickte nur und bewegte vorsichtig ihren schmerzenden Knöchel.

„Gib mir die Arnikasalbe.“

Sie holte die Tube aus ihrer Handtasche, reichte sie ihm und zog ihr Hosenbein ein Stück hoch, während sie gleichzeitig den Schuh abstreifte. Nick drückte sich einen großzügigen Klecks Gel in die Handfläche und ging vor Kate in die Hocke, sodass sie den Fuß auf seinem Oberschenkel abstützen konnte. Unter ihrer Fußsohle spürte sie feste, harte Muskeln. Kein Wunder, Nick joggte regelmäßig lange Strecken im Moor, Meile um Meile.

Als er sich jetzt vorbeugte, sah sie im offenen Hemd den Puls an seiner Kehle pochen, schnell und stet. Angetrieben von Adrenalin, das auch durch ihren Körper strömte und sie hellwach in Alarmstimmung versetzte …

Kate legte ihm die Hand auf die Schulter, und er erstarrte. „Danke, Nick“, flüsterte sie. „Für alles.“

„Sei nicht albern.“

„Doch, ich meine es ernst. Wir müssen reden, Nick.“

Er quetschte noch mehr Salbe aus der Tube und begann, ihren anderen Fuß einzucremen, dort, wo sich bereits ein kleiner Bluterguss bildete.

„Worüber?“

„Hast du meinen Brief bekommen?“

Er schwieg, rieb weiter ihren Fuß ein, mit langsamen, kreisenden Bewegungen, bis die Salbe in die Haut eingezogen war. Dann stand er auf, um sich am Waschbecken in der Ecke die Hände zu waschen.

Umständlich schlüpfte sie in ihre Schuhe und fragte sich, wie lange es dauern würde, bis das Leder wieder trocken war. Sie fröstelte, als sie daran dachte, wie sie im strömenden Regen gestanden hatte, während die Feuerwehrmänner Jem aus dem Auto schnitten.

„Nick?“

Immer noch stumm trocknete er sich die Hände ab und begann, in dem kleinen Warteraum hin und her zu gehen, von einer Wand zur anderen, wie ein Löwe im Käfig. Gelegentlich fuhr er sich durchs Haar und zerzauste es noch mehr. Es steht ihm, dachte sie flüchtig. Die silbergrauen Strähnen in dem schimmernden dunklen Haar verliehen ihm ein distinguiertes Aussehen und betonten seine markanten männlichen Züge. Gesichtszüge, die Jem von ihm geerbt hatte. Er würde eines Tages ein gut aussehender Mann sein, ihr Sohn … und Nicks.

Nick hörte auf, herumzutigern, atmete einmal tief durch und blieb vor Kate stehen. Forschend betrachtete er ihr Gesicht, aber ihre Miene verriet nichts. Ihre warmen goldbraunen Augen begegneten ruhig seinem Blick, wie immer.

„Darf ich fragen, warum du weggehst?“, fragte er bemüht ausdruckslos.

„Warum?“, wiederholte sie. „Ich dachte, das wäre längst klar, Nick. Dachtest du, dass ich ewig warte, bis du dich entschieden hast? Dass du deinen Sohn gelegentlich sehen kannst, ohne ihm sagen zu müssen, dass du sein Vater bist? Oder, um es auf den Punkt zu bringen … damit du deinen anderen Kindern nicht gestehen musst, dass wir etwas miteinander hatten, als ihre Mutter noch lebte?“

„Ein Mal“, erwiderte er tonlos. „Nur ein einziges Mal. Es ist ja nicht so, dass wir eine Affäre gehabt hätten, Kate.“

„Nein, das nicht. Wir hatten es nicht geplant“, sagte sie sanft. „Wir haben einfach Trost gesucht, bei jemand, dem wir vertrauten. Aber wir waren verheiratet … gut, ich war wohl zu dem Zeitpunkt schon Witwe, aber du hattest Annabel. Trotzdem haben wir uns geliebt.“

Und ein Kind gezeugt.

Nick wandte den Blick ab. „In der Nacht damals konnte keiner von uns klar denken.“

„Und danach hast du es verdrängt, als könntest du es damit ungeschehen machen. Deshalb nehme ich Jem und gehe, fange ein neues Leben an.“

„Mit Rob?“, zwang er sich zu fragen, obwohl er gehört hatte, dass es aus war zwischen Kate und dem Lehrer. „Kommt er auch mit?“

Ein schuldbewusstes Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Nein. Er hat jemand Besseres verdient als mich.“

„Wer hat Schluss gemacht, du oder er?“ Nick konnte die Frage nicht zurückhalten.

„Ich. Er hatte mich gebeten, seine Frau zu werden, aber ich habe Nein gesagt. Ich kann ihn nicht lieben, nicht so, wie er es verdient hat.“ Traurig blickte sie vor sich hin. „Also gehen Jem und ich und fangen woanders neu an.“

Eine gigantische Faust presste sein Herz zusammen, und einen Augenblick lang bekam er kaum Luft. Aber wenn es das ist, was sie will, dachte er, dann muss sie es eben tun. Vielleicht ist es das Beste. Für alle.

„Du hast recht. Tu, was du tun musst, Kate, ich halte dich nicht zurück.“

„Das wirst du auch nicht, Nick.“

„Was ist mit Jem? Sehe ich ihn dann überhaupt noch?“

Sie lachte spöttisch auf. „Was soll mit ihm sein? Er weiß nicht, dass du sein Vater bist, ich werde es ihm erst erzählen, wenn er achtzehn ist. Und was das Sehen betrifft – hier bist du ihm doch aus dem Weg gegangen. Es würde sich also nichts ändern, oder?“

„Das ist lächerlich. Natürlich sehe ich ihn, sogar oft.“

„Nicht, wenn du es vermeiden kannst. Sei ehrlich, Nick, er erinnert dich daran, dass du schwach geworden bist, und das magst du nicht.“

Ja, er wollte vergessen, dass er Annabel betrogen und James’ Andenken entehrt hatte. Aber das bedeutete nicht, dass er nicht sehen wollte, wie sein Kind aufwuchs … „Wie zum Teufel soll ich es meinen Kindern erklären? Sie werden kein Verständnis dafür haben!“

„Du könntest ihnen sagen, dass du auch nur ein Mensch bist.“

Nick schnaubte. „Oh, das wissen sie längst.“

„Ach, und für dich geht es nur darum, was sie denken? Was meinst du, wie Jem sich fühlen wird, wenn er herausfindet, dass er dir weniger bedeutet als deine anderen Kinder? Nur weil sie ehelich sind? Deshalb sind sie nicht besser als er, Nick.“ Ihre Stimme klang sanft, aber jedes Wort war wie eine Pfeilspitze, die mitten ins Schwarze traf. „Ich mag nicht mehr“, fügte sie matt hinzu. „Sobald es Jem besser geht, ziehen wir von hier weg, und du wirst nie mehr von mir hören.“

Von einer grenzenlosen Furcht erfüllt, dass er Kate nie wiedersehen würde, setzte er sich neben sie. Die Stühle standen so dicht, dass er Kates Wärme spürte. „Ich dachte, ich soll in seinem Leben eine Rolle spielen?“

„Schon, aber nicht so. Er hat mehr verdient als ab und zu ein bisschen Aufmerksamkeit von dir.“ Auf einmal füllten sich ihre Augen mit Tränen. „Ich kann nicht mehr, Nick. Bitte, lass mich gehen.“

Lass mich gehen …

Nick sah ihr in die Augen, sah erschrocken, wie die erste Träne auf den Boden tropfte. Kate weinte so gut wie nie. Er hielt es nicht aus, wenn sie weinte. So wie damals vor zwölf Jahren, in jener dunklen, stürmischen Nacht, als er Kate in die Arme genommen und gehalten hatte. In dieser Nacht war Jem gezeugt worden.

Gallebitter stieg Bedauern in ihm auf. Nick erhob sich, um seine unruhige Wanderung wieder aufzunehmen.

Er konnte Kate unmöglich gehen lassen.

Aber was sollte er tun, damit sie blieb?