10. KAPITEL

„Und nun kommen wir zum persönlichen Nachlass“, erklärte der Anwalt und wandte sich an die Anwesenden, die sich in Martyns Arbeitszimmer versammelt hatten. Mehr als eine Stunde lang hatte er über die Geschäftsführung der Plantage, über Vermögenswerte im In- und Ausland und über kleinere Vermächtnisse für entfernte Verwandte und langjährige Mitarbeiter gesprochen. Molly und Ben hatten jeweils ein hübsches Sümmchen geerbt und außerdem lebenslanges Wohnrecht in einem der Bungalows auf dem Grundstück erhalten. Bis jetzt war Ambers Name noch nicht gefallen, und sie fragte sich inzwischen, ob Ethan vielleicht irgendetwas missverstanden hatte.

Oder hatte er sich nur gewünscht, dass sie ihm bei dieser letzten Tortur zur Seite stand? Martyns letzten Willen vorgelesen zu bekommen war auch für Amber nur schwer zu ertragen, denn es fühlte sich an, als würde der Verstorbene selbst zu ihnen sprechen.

Bei der nun folgenden Aufzählung erfuhr Ethan, dass er nicht nur den Großteil von Martyns Firmenanteil erbte, sondern außerdem das Haus, in dem sie im Augenblick saßen. Damit wurde er zum Hauptaktionär des Unternehmens und besaß von nun an fünfundsechzig Prozent der Anteile.

Amber wunderte sich über diese Regelung. Wieso hatte Martyn das Haus nicht Caitlin hinterlassen? Vielleicht, weil das Land ringsherum zur Plantage gehörte?

Caitlin würden ab sofort siebzehneinhalb Prozent des Unternehmens gehören. Zusätzlich bekam sie einen beträchtlichen Geldbetrag und verschiedene Fonds, sodass sie für den Rest ihres Lebens finanziell abgesichert war.

„Und dann hat Mr. Wyndham Brookes noch einige Vorkehrungen für Miss Amber Shaw getroffen“, verkündete der Anwalt schließlich. „Miss Shaw erhält die restlichen siebzehneinhalb Prozent des Unternehmens, das Haus, in dem sie gerade lebt, und einen Geldbetrag.“

Amber war blass geworden und schnappte nach Luft. Gleich würde sie ohnmächtig werden. Bestimmt hatte der Anwalt sich geirrt. Es musste eine Verwechslung vorliegen, und irgendjemand anderes hatte dieses Vermögen geerbt.

Genau wie Amber war Caitlin fassungslos, als dieser Teil des Testaments ihres Vaters verlesen wurde. Amber sah, dass sie hilfesuchend zu Ethan herübersah, doch auch er schien völlig benommen zu sein. Amber bemerkte, dass er angespannt sein Kinn vorstreckte – ein sicheres Zeichen dafür, dass er verärgert war.

Der Anwalt war noch nicht fertig. „Ich habe hier einen Brief für Sie, Miss Shaw. Mr. Wyndham Brookes hat empfohlen, dass sie ihn allein lesen.“

„Es muss ein Irrtum vorliegen!“, erklärte Amber entschlossen. „Wieso sollte Martyn mir irgendetwas hinterlassen? Könnte es sein, dass die Namen verwechselt wurden?“

Lächelnd schüttelte der Anwalt den Kopf. „Es ist kein Irrtum, Miss Shaw. Ich vermute, dass Sie eine Erklärung in diesem Brief hier finden werden.“

Dann wandte er sich an Ethan und Caitlin. „Auch für Sie habe ich einen Brief. Mr. Wyndham Brookes fand, dass er Ihnen eine Erklärung für die Verteilung seines Nachlasses schuldet.“

Mit zitternden Händen nahm Amber den Umschlag entgegen. Die anderen Teilnehmer der Testamentseröffnung hatten sich erhoben und schenkten sich Kaffee ein oder unterhielten sich leise in kleinen Grüppchen.

Amber stand auf und sah sich um. Schon von Weitem konnte sie erkennen, dass Caitlin sie verwirrt anstarrte, und Amber hatte das dringende Bedürfnis, mit Martyns Tochter zu sprechen und ihr klarzumachen, dass sie keine Ahnung von Martyns Absichten gehabt hatte.

„Caitlin, ich bin genauso schockiert wie Sie. Es ist mir völlig unklar, weshalb Martyn mir dieses unglaubliche Vermögen hinterlassen hat.“

Caitlin nickte. „Es geht mir nicht um das Geld, aber trotzdem war es ein Schock für uns alle.“

Voller Unbehagen sah Amber Ethan an. „Vielleicht solltest du diesen Brief hier gemeinsam mit mir lesen. Ich habe nichts zu verbergen – und ich habe nicht die Spur einer Ahnung, was darin stehen könnte.“

Doch er schüttelte den Kopf. „Er hat gesagt, du sollst den Brief allein lesen. Und genau das solltest du auch tun. Wir können uns ja später darüber unterhalten.“ Er sah Caitlin an. „Alles in Ordnung? Es war ein schwerer Tag für dich, nicht wahr?“

Caitlin lächelte ihn traurig an. „Ich mache jetzt am besten einen Spaziergang mit James. Hier im Haus erinnert mich alles so sehr an Vater … Ich kann mich einfach noch nicht daran gewöhnen, dass er nicht mehr da ist.“

Ethan nickte verständnisvoll und wandte sich dann wieder an Amber. „Wollen wir uns in einer Stunde treffen?“

„Ja, gern. Ich geh zurück in meinen Bungalow. Genau wie Caitlin brauche ich etwas Abstand.“

Langsam ging sie den kleinen Weg zu ihrem Haus hinunter. Ihrem Haus! Es war unbegreiflich! Was hatte Martyn sich nur dabei gedacht?

In ihrem Wohnzimmer ließ sie sich erschöpft aufs Sofa fallen und betrachtete zögernd den Briefumschlag in ihren Händen. Würde dieser Brief alle ihre Fragen beantworten? Würde sie Martyns Absichten verstehen?

Vorsichtig riss sie den Umschlag auf und nahm einen Briefbogen heraus, der dicht mit Martyns ausladender Handschrift beschrieben war.

Meine liebe Amber,

sicher bist du im Augenblick völlig verwirrt und fragst dich, was es mit dieser Erbschaft auf sich hat.

Ich werde versuchen, es dir zu erklären. Die Geschichte begann vor vielen Jahren. Ich lebte und arbeitete damals in London. Unsere Geschäftsräume waren in der Gegend, die heute als ‚Docklands‘ bezeichnet wird. Da wir eine Werbeagentur brauchten, kam eines Tages eine talentierte Grafikerin zu uns, um ein Marketingkonzept zu präsentieren. In dem Augenblick, als sie den Raum betrat, war es um mich geschehen. Ich verliebte mich Hals über Kopf in sie, und – ich konnte mein Glück kaum fassen! – sie schien meine Gefühle zu erwidern. Doch kurz nachdem wir uns kennengelernt hatten, musste ich nach Hawaii zurück, um die Plantage zu übernehmen. Ich habe deine Mutter angefleht, mit mir zu kommen, doch sie war nicht bereit zu diesem Schritt.

So trennten wir uns, und ich vermisste sie schrecklich. Eine Weile haben wir uns noch geschrieben, doch die große Entfernung hat unsere Liebe letztlich zerstört. Die Briefe wurden seltener und blieben schließlich ganz aus.

Danach hatten wir keinen Kontakt mehr. Erst durch dich habe ich sie wiedergesehen. Ich habe mich oft gefragt, was wohl aus ihr geworden ist und bin sehr froh, dass sie anscheinend ihr Glück gefunden hat. Sie hat schon bald nach meiner Abreise deinen Vater geheiratet, und ich bin mir sicher, dass sie beide sehr stolz darauf sind, eine so schöne, intelligente und liebevolle Tochter zu haben.

Den Rest der Geschichte überlasse ich deiner Mutter. Bitte nimm die Erbschaft an und genieße sie. Es hat mich sehr glücklich gemacht, dich kennenlernen zu dürfen – selbst wenn unsere Bekanntschaft nur von kurzer Dauer war.

Falls du in Zukunft etwas brauchen oder ein Problem haben solltest, wende dich vertrauensvoll an Ethan. Er war immer wie ein Sohn für mich, und ich weiß, dass er dir gern helfen wird.

Pass auf dich auf! Ich wünsche dir von ganzem Herzen eine wundervolle Zukunft.

Dein Martyn

Wieder und wieder las Amber den Brief. Martyn hatte ihr so viel geschrieben, und doch fehlten die wichtigsten Informationen. Warum überließ er es ihrer Mutter, den Rest der Geschichte zu erzählen?

Rastlos ging sie im Wohnzimmer auf und ab. Es fühlte sich komisch an zu wissen, dass ihre Mutter und Martyn vor vielen Jahren ein Liebespaar gewesen waren. War ihre Mutter genauso heftig in ihn verliebt gewesen, wie er in sie? Warum war sie nicht mit ihm nach Hawaii gegangen?

Es klopfte leise an ihrer Tür. Schnell öffnete sie. Mit einem zurückhaltenden Lächeln begrüßte Ethan sie. Sicher hatte er sich während der letzten Stunde ununterbrochen gefragt, was in ihrem Brief stand.

„Komm mit ins Wohnzimmer“, bat Amber ihn. „Ich hab die Terrassentür aufgemacht, damit eine frische Brise vom Ozean herüber ins Haus weht. Wir können von hier sogar den Sonnenuntergang sehen …“

Ohne auf ihr Geplauder einzugehen, sah Ethan sie an. „Sagst du mir, was mein Onkel dir geschrieben hat? Du musst es natürlich nicht, wenn du nicht willst.“

„Hat er dir in deinem Brief nicht alles erklärt?“

Ethan schüttelte den Kopf. „Nein, er hat uns nur gebeten, dich wie ein Familienmitglied zu betrachten. Caitlin hat er geschrieben, dass es ihn sehr glücklich machen würde, wenn sie dich als ihre Schwester ansieht. Und mir hat er ein paar gute Ratschläge für die Zukunft gegeben.“

„Wie zum Beispiel?“

Er lächelte gequält. „Vielleicht sollten wir erst einmal die Gegenwart klären, bevor wir uns um die Zukunft kümmern. Sagst du mir nun, was er dir geschrieben hat, oder willst du es für dich behalten?“

„Es ist kein Geheimnis. Aber so ganz verstehe ich es trotzdem nicht.“ Sie reichte ihm den Brief.

Er las ihn sorgfältig und schaute dann Amber an. „Er hat mir gegenüber angemerkt, dass du deiner Mutter sehr ähnlich siehst.“

„Ja, stimmt. Auf Fotos aus ihrer Jugend sieht sie aus, als wäre sie meine Schwester. Vielleicht habe ich ihn an sie erinnert. Aber warum hat er sich nicht klar ausgedrückt? Warum möchte er, dass meine Mutter mir den Rest der Geschichte erzählt?“

„Weißt du das wirklich nicht?“

Ein Schauer überlief sie. „Ich kann nur Vermutungen anstellen … Und die Konsequenz daraus würde meine Welt völlig auf den Kopf stellen. Diese Ungewissheit ist schrecklich! Warum hat er sich nicht klar ausgedrückt?“

Ethan verzog spöttisch den Mund. „Tja, ich würde sagen, das ist typisch für meinen Onkel. Er möchte niemanden verletzen, und so überlässt er es genau der Person, die am meisten zu verlieren hat, die Wahrheit zu sagen. Oder auch nicht. So kann sie entscheiden, wie viel sie preisgibt.“

Amber presste die Lippen aufeinander. „Du glaubst also, dass ich seine Tochter bin? Was ist dann mit meinem Vater? Ich meine, mit dem Mann, den ich bis heute für meinen Vater gehalten habe? Ich bin überzeugt davon, dass er keine Ahnung hat. Er hätte mir sonst ganz sicher irgendwann die Wahrheit gesagt.“

Mit Tränen in den Augen sah sie Ethan an. „Was soll ich denn jetzt tun? Das kann doch alles nicht wahr sein!“

Ethan reichte ihr das Telefon. „Es gibt nur eine Möglichkeit, Gewissheit zu bekommen“, erklärte er. „Ruf deine Mutter an.“

Amber starrte auf das Telefon. Ihre ganze Welt war auf den Kopf gestellt worden und würde nie wieder so sein, wie sie gewesen war. Wenn ihre Mutter bestätigte, was Martyn angedeutet hatte, dann war sie seine Tochter. Und Caitlin wäre ihre Halbschwester. Und Ethan? Was bedeutete diese Enthüllung für sie und Ethan? War er ihr Cousin?

Eine Welle von Übelkeit ergriff sie. Zitternd gab sie Ethan das Telefon zurück. „Ich kann nicht. Ich will es nicht wissen, denn ich könnte die Wahrheit nicht ertragen. Alles lief gerade so gut in meinem Leben, und jetzt ist das totale Chaos ausgebrochen. Ich weiß nicht mehr, wer ich eigentlich bin.“

Ethan sah sie eindringlich an. „Du schaffst das, Amber. Stell dich deiner Angst und finde die Wahrheit heraus! Du wirst sonst für den Rest deines Lebens an der Ungewissheit leiden.“

Sie wusste, dass er recht hatte. Denn konnte sie damit leben, nicht zu wissen, ob sie und Ethan verwandt waren? Ganz sicher nicht. Sie musste es herausfinden, egal wie schmerzhaft die Antwort war.

Amber wählte die vertraute Nummer, und als ihre Mutter abnahm, ging Amber in die Küche und setzte sich an den kleinen Tisch. Sie wusste nicht, ob Ethan ihr gefolgt war. In diesem Augenblick wusste sie nur eines: Dieser Anruf war die schwierigste Aufgabe ihres Lebens.

„Oh Amber, als du mir gesagt hast, dass er gestorben ist, wusste ich, dass es so kommen würde. Ich hatte solche Angst vor diesem Gespräch.“

„Es ist also wahr? Bin ich wirklich seine Tochter?“

Die Stimme ihrer Mutter war kaum hörbar. „Ja, es ist wahr“, flüsterte sie unter Tränen. „Ich hätte es dir schon viel früher sagen müssen.“

„Aber das hast du nicht! Warum nicht? Warum hast du mich die ganze Zeit belogen?“ Amber konnte es noch immer nicht fassen. Wie hatte ihre Mutter sie so hintergehen können?

„Ich hatte schreckliche Angst … Angst, dass alles herauskommen könnte.“ Aus ihren Worten klang Resignation. „Es war doch alles schon so lange her. Damals hat er mich einfach … umgehauen. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Er war wie ein Wirbelsturm, der durch mein Leben gefegt ist. Und plötzlich war es wieder vorbei.“

„Aber warum hast du ihn gehen lassen, ohne ihm von deiner Schwangerschaft zu erzählen? Wie konntest du das tun?“

„Ich habe erst nach seiner Abreise bemerkt, dass ich schwanger war. Und dann, als ich es herausgefunden hatte, war ich wie gelähmt vor Angst. Meine Eltern waren furchtbar streng und sie hätten niemals verstanden, und schon gar nicht geduldet, dass ich ein uneheliches Kind bekomme. Unmittelbar darauf habe ich deinen Vater kennengelernt. Ich hatte ein Projekt in Henley-on-Thames, wo dein Vater gearbeitet hat. Wir haben uns verliebt und er hat mir einen Heiratsantrag gemacht.“

Sie zögerte. „Er wusste nichts von meiner Schwangerschaft. Und auch nichts über Martyn.“

„Hat Dad denn gar keinen Verdacht geschöpft?“

Ihre Mutter seufzte. „Wir waren sehr jung und unerfahren. Ich habe einfach nichts gesagt und alle glauben lassen, dass du eine Frühgeburt warst. Sogar dein Vater hat es geglaubt. Du warst sehr zierlich, und so hat er nichts gemerkt. Ich habe mich schrecklich dafür geschämt, ihn hintergangen zu haben, doch er hat dich so sehr geliebt. Ich habe es nicht übers Herz gebracht zu sagen, dass du gar nicht seine Tochter bist.“

Amber fand die Erklärungen ihrer Mutter nur schwer nachvollziehbar. Dann hörte sie ein leises Schluchzen am anderen Ende der Leitung. „Mum … bitte glaub mir, dass ich dir keine Vorwürfe mache. Ich wollte nur die Wahrheit wissen. Das Ganze hat mich ziemlich schockiert.“

„Ich weiß. Es tut mir so leid, Amber. Ich schäme mich so sehr, dass ich euch alle belogen habe. Ich habe geahnt, dass es irgendwann auffliegt, aber ich hatte keine Ahnung, wie ich meinen Fehler wiedergutmachen sollte, ohne das Leben der Menschen zu zerstören, die ich liebe.“

„Wie geht es jetzt weiter?“ Amber holte tief Luft. „Ich möchte nicht, dass einer von euch sich schlecht fühlt, aber Dad wird doch sicher wissen wollen, wieso ich dieses kleine Vermögen von Martyn geerbt habe. Was wirst du ihm sagen?“

Ihre Mutter schluchzte. „Ich hab bereits mit ihm gesprochen. Martyn hat mir am Telefon erzählt, dass er dich in sein Testament aufnehmen will. Da war mir klar, dass ich nicht länger schweigen kann.“

„Wie hat er es aufgenommen?“

„Nicht besonders gut. Er leidet furchtbar unter der Situation.“

Die beiden Frauen unterhielten sich noch eine Weile, doch dann beendete Amber das Gespräch. In Gedanken versunken blieb sie in der Küche sitzen. Schließlich wandte sie sich an Ethan, der sich an den Türrahmen gelehnt hatte.

„Hast du zugehört?“ Er nickte.

„Wollen wir ein bisschen am Strand spazieren gehen?“, schlug er vor. „Du brauchst bestimmt etwas Zeit, um diese Neuigkeit zu verdauen.“

Amber sah ihn an, stand auf und lehnte ihre Stirn an seine Brust. „Ethan, ich muss fortgehen. Weit weg. Ich kann nicht länger hierbleiben! Mit der Tatsache, dass ich eine Halbschwester habe, käme ich sicher gut zurecht, aber ich kann es nicht ertragen, dich jeden Tag zu sehen. Jetzt, da ich weiß, dass wir Cousin und Cousine sind, können wir nicht einfach so weitermachen wie bisher …“

Sie spürte, dass sie gleich in Tränen ausbrechen würde. „Ich kann es einfach nicht. Ich brauch Abstand zu dir. Es tut mir leid. Ich habe mich in dich verliebt, und jetzt weiß ich, dass es unmöglich ist. Hätte ich dich doch niemals getroffen.“ Sie versuchte, sich von Ethan zu lösen, doch er hielt sie fest und zog sie noch näher an sich heran.

„Du irrst dich“, sagte er. „Wir sind nicht verwandt. Zwischen Martyn und mir bestand keine Blutsverwandtschaft. Als seine Eltern sich getrennt haben, hat seine Mutter in die Brookes-Familie eingeheiratet. Der neue Mann seiner Mutter war Witwer und brachte einen Sohn mit in die Ehe – meinen Vater. Martyns Mutter und James Brookes hatten keine gemeinsamen Kinder. Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen.“

„Wirklich nicht?“ Amber konnte kaum glauben, was er ihr gesagt hatte.

„Nein, mein Schatz. Wirklich nicht.“ Ethan hatte sie noch immer nicht losgelassen. „Komm, wir gehen an den Strand und unterhalten uns in Ruhe über alles. Ich will nicht, dass du fortgehst. Über ein Leben ohne dich möchte ich noch nicht einmal nachdenken.“

„Bist du dir sicher?“ Arm in Arm gingen sie durch den Garten zum Strand. Die Sonne verschwand gerade am Horizont und hinterließ am Himmel ein sanftes, rötliches Licht. Alles war ruhig und friedlich. Amber spürte, wie die abendliche Stille sie beruhigte.

„Ich war mir noch nie sicherer“, antwortete er, während sie langsam über den Sand liefen. „Es hat mich verrückt gemacht, dass Martyn etwas vor mir verheimlicht hat, aber jetzt, da ich die Gründe kenne, habe ich volles Verständnis für seine Diskretion. Er hat deine Mutter beschützen wollen und hat ihr die Entscheidung überlassen, ob sie deinem Vater alles erzählt.“

Ethan nahm Amber in den Arm. „Ich bin froh, dass nun alles geklärt ist. Jetzt fehlt nur noch eines: Ich muss dir sagen, was ich für dich empfinde. Martyn hat es die ganze Zeit gewusst und mir in seinem Brief seinen Segen gegeben. Amber, ich liebe dich. Aloha au ia’oe.“

Sie sah ihn ruhig an. „Ich liebe dich auch, Ethan. Mau loa. Für immer.“

Er küsste sie zärtlich und hielt sie so fest in seinen Armen, als wollte er sie niemals wieder loslassen. Eine lange, lange Zeit standen sie eng umschlungen auf dem warmen, weichen Sand. So viel war in den letzten Monaten geschehen. Sie hatte so viele neue Erfahrungen gesammelt und so viel Neues gelernt. Doch die wichtigste Erkenntnis war, dass sie Ethan liebte.

„Hat er uns wirklich seinen Segen gegeben?“, fragte Amber nach einer Weile.

Ethan lächelte. „Er hat gesagt, ich solle zusehen, dass ich dir einen Ring an den Finger stecke, bevor ein anderer Mann auftaucht und dich mir wegschnappt.“

„Hört sich ganz nach Martyn an.“

„Ja.“ Ethan lächelte. Dann horchte er auf. „Was ist das für ein Geräusch?“ Fragend sah er sich um.

Amber erkannte den schrillen Ton sofort. „Mein Telefon.“ Sie warf einen Blick auf das Display. „Es ist noch einmal meine Mutter“, stellte sie fest und sah Ethan ängstlich an. „Hoffentlich geht es ihr gut. Ich fürchte, ich hab ihr ganz schön zugesetzt.“

Sanft streichelte er ihre Schulter. „Du hast nur getan, was du tun musstest, Amber. Und jetzt geh schon ran!“

„Hallo Mum?“

„Nein, Amber. Ich bin es. Dein Vater.“

„Oh Dad! Es ist so schön, deine Stimme zu hören. Geht’s dir gut? Ich dachte, du bist schon in der Praxis.“

„Ich war bei einem Hausbesuch und wollte kurz zu Hause hereinschauen und einen Kaffee trinken. Dabei hab ich bemerkt, dass deine Mutter völlig fertig ist.“

„Oje.“ Amber wusste nicht, wie sie reagieren sollte.

„Sie hat mir alles erzählt. Über Martyn und ihre Affäre damals. Ich wollte nur, dass du weißt, dass es in Ordnung für mich ist, Amber. Natürlich war ich am Anfang sehr verletzt, doch das lag hauptsächlich daran, dass deine Mutter mich so lange belogen hat. Ich hatte von Anfang an ein komisches Gefühl, doch dann hab ich dich so sehr geliebt, dass ich nicht weiter darüber nachdenken wollte. Ich liebe deine Mutter, und es ist gut, dass sie mir endlich alles gesagt hat. Für dich war es sicher auch ein Schock.“

„Das kann man wohl sagen“, antwortete Amber. „Aber ich komm schon damit zurecht. Und du bleibst auf jeden Fall mein Dad. Schließlich warst du immer für mich da, und das ist das Einzige, was zählt. Ich liebe euch beide. Sagst du Mum das bitte auch?“

„Ja, das mach ich. Sie steht hier neben mir und hat mitgehört.“

Als sie ihr Gespräch beendet hatten, sah Amber Ethan an. „Ich glaube, es wird alles gut. Hoffentlich schaffen die beiden es.“

„Liebe vermag alles“, murmelte Ethan. „Sie macht dich blind, verrückt und verletzlich.“

„Sprichst du aus eigener Erfahrung?“, erkundigte sich Amber lächelnd.

„Allerdings. Ich habe vom ersten Augenblick an gewusst, dass du die Frau bist, mit der ich mein Leben verbringen will. Doch ich hatte Angst, enttäuscht zu werden. Schließlich war ja dein Plan, wieder nach England zurückzukehren. Aber mein Entschluss, Abstand zu dir zu halten, war lächerlich. Du hast dich jeden Tag mehr in mein Herz geschlichen, und jetzt kann ich nicht mehr ohne dich sein.“

Glücklich lächelte Amber ihn an. „Ich werde nirgendwo hingehen. Jedenfalls nicht ohne dich.“ Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und zog ihn zu sich herunter, um ihn zu küssen.

Ethan holte tief Luft. „Wenn das so ist, sollten wir anfangen, Pläne zu schmieden.“

„Pläne?“

„Für unsere Hochzeit“, erklärte er, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt. „Ich kann es nicht riskieren, dass du mir entwischst.“

Amber lachte leise. „Meine Eltern hatten ja sowieso vor, nach Hawaii zu kommen. Das wäre doch ein wunderbarer Anlass.“

„Du hast vollkommen recht. Wie immer.“ Er sah ihr tief in die Augen. „Nau ko’u aloha“, flüsterte er mit rauer Stimme. „Meine Liebe gehört nur dir. Mau loa. Für immer.“

„Ja, für immer“, wisperte Amber und gab sich seinem leidenschaftlichen Kuss hin. Am Horizont war die Sonne untergegangen, und das silbrige Mondlicht beleuchtete den Strand. Das Leben war einfach wundervoll.

– ENDE –