9. KAPITEL

Während des lebhaften Gesprächs formten sich Ideen in Gemmas Kopf. Vielleicht erreichte man die Nomadenfrauen mit einem speziell ausgestatteten Bus, einer Art rollenden Sprechstunde. Dann müssten sie nicht immer ins Krankenhaus kommen, aber man würde ihr Vertrauen in die öffentliche Gesundheitsversorgung stärken.

Obwohl in der kleinen Gruppe eine heitere Stimmung herrschte, schweiften Gemmas Gedanken immer wieder zu Yusef ab. Verantwortlich war der schwere Rosenduft, der in der Luft hing.

„Ah, meine Kleine!“, rief Noura plötzlich.

Die Schatten waren allmählich länger geworden. Gemma verspürte inzwischen eine leichte Müdigkeit nach der intensiven Unterhaltung. Sie blickte auf und bemerkte, dass die Kinder am Springbrunnen in der Mitte des Innenhofes spielten. Fajella war auch dabei.

Noura erhob sich anmutig und ging zu ihr.

„Es ist wirklich traurig“, meinte eine der Frauen. „Yusef und Wardah haben geheiratet, weil es der Wunsch ihrer Väter war, um die Stämme enger miteinander zu verbinden. Aber sie war nicht so kräftig und mutig wie Noura, eher eine scheue Rose, die im Schatten blühte. Hätte es schon damals so eine Abteilung im Krankenhaus gegeben, wo Frauen sich sicher fühlen, hätte sie vielleicht früher Hilfe gesucht und überlebt.“

Ihre Worte lösten eine schmerzliche Erkenntnis aus. Yusef mochte zwar behaupten, sein Projekt sei eine notwendige Modernisierung der medizinischen Versorgung der Bevölkerung, aber Gemma schien er wie ein Versuch, für den Tod seiner Frau zu sühnen. Diese düsteren Gedanken gingen ihr durch den Kopf, als jemand an ihrem Kleid zupfte. Es war Fajella, die ihr eine hübsche Muschel hinhielt.

„Oh, vielen Dank, mein Schatz.“ Gemma umarmte sie und gab ihr einen Kuss.

Die anderen Frauen klatschten lächelnd in die Hände.

„Sie haben ihr Herz erobert“, sagte eine.

„Es liegt an meinem Haar“, wehrte Gemma ab. „Eine solche Farbe hat sie sicher vorher noch nie gesehen.“

Wenig später verabschiedeten sich die Frauen und brachen auf. Gemma dankte ihnen herzlich für ihre Hilfe, konnte es aber kaum erwarten, ihre Eindrücke und Anregungen niederzuschreiben. Nachdem die Frauen gegangen waren, klappte sie ihren Laptop auf. Fajella setzte sich neben sie.

Da rief Anya unten an der Treppe nach Fajella, aber die Kleine rührte sich nicht.

„Meinetwegen kann sie ruhig bleiben“, sagte Gemma. „Sie stört mich nicht.“

Von nun an saß Fajella jeden Nachmittag bei ihr auf der Loggia, spielte still für sich, während Gemma sich konzentriert ihrer Arbeit widmete.

Mit jedem Tag nahm das Projekt mehr Gestalt an. Es gab viele Bewerbungen von Schwestern und Ärzten, die großes Interesse daran zeigten. Einige, im Ausland ausgebildet, steckten Gemma mit ihrer Begeisterung an. Gemma merkte, dass die fordernde Arbeit sie von den Gedanken an Yusef ablenkte – außer in den langen dunklen Abend- und Nachtstunden, wenn sie in seinem großen Haus auf der anderen Seite des Gartens Licht schimmern sah. Dann stellte sie sich vor, wie er am Schreibtisch noch an der Arbeit saß, die Stirn konzentriert in Falten.

Die kleine Fajella wich kaum von ihrer Seite. Mit der Zeit war es auch für Gemma zu einer lieben Gewohnheit geworden, nach getaner Arbeit mit dem Mädchen zu spielen. Dabei entwickelte sich eine immer innigere Bindung zwischen ihnen.

Auch an diesem Nachmittag kam Fajella wieder zu ihr, und sie spielten Fangen. Fajella, nun schon sicherer auf den kleinen Beinchen, rannte einen Wandelgang unter leuchtend rot blühenden Rosen entlang. Gemma tat so, als hätte sie Mühe, sie zu fangen, und das Mädchen kreischte laut vor Freude.

Sie waren gerade um eine Ecke gebogen, da erschien Yusef.

Auch wenn Gemma per E-Mail Kontakt mit ihm hielt, so hatte sie ihn doch nicht mehr gesehen, seit sie Fajella gemeinsam zu Bett gebracht hatten. Jetzt erschrak sie bei seinem Anblick. Er wirkte müde und abgespannt, hatte dunkle Ringe unter den Augen.

„Man hat mir erzählt, ich finde meine Tochter hier“, sagte er, schwang Fajella auf die Arme und warf sie ein Stückchen in die Luft, woraufhin die Kleine hell auflachte. „Von ihrem Vater fortgelockt von einer rothaarigen Hexe.“

Ihre Blicke trafen sich über den Kopf des Mädchens hinweg. Das glutvolle Verlangen in seinen schwarzen Augen ließ Gemmas Haut prickeln.

„Morgen ist Freitag, unser traditioneller Feiertag, wie du weißt“, sagte er. „Als Herrscher von Fajabal ordne ich an, dass du an dem Tag nicht arbeitest. Abed wird dich um neun Uhr abholen. Es wird Zeit, dass du etwas von meiner Heimat siehst, besonders vom Meer. Hast du einen Badeanzug eingepackt?“

Gemma wollte antworten, aber ihr Herz pochte so heftig, dass sie kaum atmen konnte. So nickte sie nur. Sie würden also nicht allein sein, aber immerhin würde sie ein wenig Zeit mit Yusef verbringen, ihm nahe sein können.

Doch es kam anders. Abed holte sie wie vereinbart ab und fuhr sie zu einer Hafenmole weit draußen vor der Stadt, an der eine Reihe hochbordiger Daus vertäut lagen. Er führte sie zu einem kleineren, aber schmaler und eleganter geschnittenen Boot aus dunklem Holz. Am Heck flatterte eine Fahne mit dem Landeswappen. Das typische rotbraune dreieckige Segel war bereits gesetzt.

„Hast du vor dem Wasser genauso viel Angst wie vor der Luft?“ Yusef begrüßte sie in Jeans und schwarzem Polohemd und half ihr galant an Bord. Das neckende Lächeln in seinen Augen ließ sie alle Gründe vergessen, warum sie mit diesem Mann nicht allein sein sollte. Als er sie in seine Arme zog, wehrte sie sich nicht.

Kein Kuss, nur eine Umarmung. Sie hielten einander fest, in stummer Einigkeit, dass mehr nicht nötig war … vorerst.

„Jetzt sollten wir aber ablegen“, brachte er schließlich rau hervor, löste die Haltetaue und warf sie auf den Kai. Der Wind füllte das Segel und die Dau setzte sich langsam in Bewegung. Sie nahmen Kurs aufs offene Meer.

„Das Wasser ist wirklich türkis“, flüsterte Gemma, als würden laute Worte den Zauber dieses Morgens zerstören.

„Und der Sand ist weiß, trotz der schwarzen Felsen der Berge.“ Yusef zog sie an sich, während er das Boot mit einer Hand steuerte. „Wir segeln zu meiner Insel.“

„Deiner Insel?“, fragte Gemma überrascht.

Er lachte. „Einer der wenigen Vorteile meiner Stellung, die ich bislang entdecken konnte“, erklärte er. „Eine Insel, die nur der Herrscher betreten darf. Früher sollen die Herrscher hier angeblich göttliche Ratschläge oder Befehle entgegengenommen haben.“

„Endlich ungestört“, entfuhr es ihr leise, doch es lag ein ironischer Unterton in ihren Worten. Widersprüchliche Gefühle erfüllten sie. Einerseits war sie aufgeregt und voller prickelnder Erwartung, weil sie mit ihm allein war. Andererseits, was brachte ihr schon ein wunderschöner Tag mit ihm, wenn eine Beziehung letztendlich sowieso nicht möglich war?

„Hast du dich nicht danach gesehnt?“ Ihr Sarkasmus war ihm nicht entgangen.

Gemma seufzte. „Ich würde lügen, wenn ich Nein sage“, gab sie zu. „Aber machen wir es uns dadurch nicht noch sehr viel schwerer? Wir haben es schließlich geschafft, uns in den letzten Wochen nicht zu sehen.“

„Ist es das, was du möchtest?“

Gemma sah die Besorgnis in seinen dunklen Augen. Hilflos zuckte sie mit den Schultern. „Nein.“ Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen. „Aber wäre es nicht vernünftiger?“

„Lass uns nicht daran denken. Nicht jetzt jedenfalls“, fügte er leise Stimme hinzu und lenkte das Boot in eine schmale Bucht. Von hohen zerklüfteten Felswänden umgeben, lag ein weißer Sandstrand vor ihnen. Dahinter erstreckte sich ein halb verborgenes grünes Tal mit bizarr gewachsenen Bäumen.

Yusef half ihr beim Aussteigen. Weiter oben am Strand waren im Schatten der Bäume ein Teppich und große bequeme Kissen ausgebreitet. Daneben standen eine Feuerschale mit einer orientalischen Kaffeekanne auf dem Rost und ein großer Picknickkorb.

Gemma ließ sich wohlig seufzend in die Kissen sinken.

„Kaffee?“

„Servieren Hoheit persönlich, oder wartet hinter den Felsen bereits die Dienerschaft auf ihren Einsatz?“

„Keine Diener.“ Lächelnd setzte Yusef sich dicht neben sie.

„Dann keinen Kaffee.“ Ihr Ton ließ keinen Zweifel daran, wonach ihr wirklich der Sinn stand.

Jetzt war es mit Yusefs so lange eisern aufrechterhaltenen Selbstbeherrschung endgültig vorbei. Er zog sie in die Arme und küsste ihre vollen Lippen. Wieder schmeckte er den zarten Duft nach Erdbeeren, während er mit wachsender Leidenschaft ihren Mund erforschte. Ihr Körper war warm und anschmiegsam. Ihre leisen Seufzer schürten sein Verlangen, und er wollte mehr.

Yusef wusste, dass die Dau sie vor neugierigen Blicken vom Meer her schützte. Da die Insel völlig unbewohnt war, begann er schließlich, Gemma langsam auszuziehen. Dass sie dabei lustvoll erschauerte, erregte ihn nur noch mehr.

Gemma schob die Hände unter sein Hemd und presste die gespreizten Finger auf seine breite, muskulöse Brust. Sie brauchte diesen Halt, weil sie schon beim ersten Kuss weiche Knie bekommen hatte und jetzt eine köstliche Schwäche am ganzen Körper spürte.

Flüchtig fuhr ihr der Gedanke durch den Kopf, ob Herzen bersten konnten, denn ihrs schlug rasend schnell. Geschickt streifte Yusef ihr ein Kleidungsstück nach dem anderen ab, küsste die nackte Haut und strich liebkosend darüber. Mit jeder Berührung wuchs ihr Verlangen, bis sie in zittriger Erwartung an seinem Hemd zerrte, es ihm über den Kopf zog und dann an den Knöpfen seiner Jeans fingerte.

„Wir haben noch den ganzen Tag“, flüsterte er heiser, aber Geduld war nicht ihre Stärke an diesem sonnenwarmen Morgen am Strand. Gemma bog sich ihm entgegen und drängte ihn, sich zu beeilen, weil sie einfach nicht mehr länger warten konnte.

Endlich waren sie beide nackt. Yusef zog sie an sich, und Gemma presste sich seufzend an seinen harten männlichen Körper. In seinen schwarzen Augen brannte heißes Verlangen, als er ihre Lippen suchte und sanft in sie eindrang. Endlich vereint, intensivierten sie ihren Rhythmus und erreichten gemeinsam den Höhepunkt ihrer Lust.

Erhitzt und außer Atem lagen sie schließlich da, bis Yusef sich auf den Rücken rollte. Gemma kuschelte sich in seine Armbeuge, lauschte seinem regelmäßigen Herzschlag. Sonnenwärme streichelte ihre Haut. Die leichte Brise, die vom Meer her wehte, war eine willkommene Erfrischung. Genau wie die Trauben, mit denen Yusef Gemma eine Weile später fütterte.

„Wie die Göttinnen auf den antiken Vasen“, scherzte sie.

Er beugte sich vor, um ihre vom Traubensaft feucht glänzenden Lippen zu küssen. „Die Götter wurden gefüttert, faules Weib“, grollte er. „Du solltest mir die Trauben in den Mund stecken, nicht umgekehrt!“

Leise lachend strich sie mit dem Zeigefinger über seine Unterlippe. „Wirst du nicht genug verwöhnt?“

Er schüttelte den Kopf, aber das verwegene Lächeln verschwand rasch, und sie begriff, dass auch eine Heerschar von Dienern nicht alles vermochte.

Gemma richtete sich auf. „Also bin ich jetzt dran?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm sie ihm die Weintraube aus der Hand, legte sie aber, anstatt ihn zu füttern, zurück in den Korb. Dann holte sie aus ihrer Badetasche eine Tube Sonnencreme. „Dreh dich auf den Bauch“, befahl sie, während sie eine großzügige Menge zwischen den Händen verrieb.

Sobald er in den Kissen lag, setzte sie sich rittlings auf ihn, nackt und ohne Scheu. Sanft begann sie, die Creme in seine Schultern einzumassieren. Mit geübtem Griff fand sie die verspannten Stellen und knetete sie, bis Yusef leise aufstöhnte. Gemma rutschte tiefer, bis sie auf seinem straffen Po saß, und genoss es, seinen herrlichen Körper unter ihren Händen zu spüren. Sie strich mit den Daumen längs der Wirbelsäule über seinen Rücken, glitt über die Rippenbögen bis zu seiner Taille. Da spürte sie eine Narbe.

„Hattest du einen Unfall?“

„Eine Operation.“

Sie hielt inne. „Nicht am Blinddarm, falsche Seite“, erkannte sie. „Was ist passiert?“

„Ich habe Abed eine Niere gespendet.“

Das sagte er in einem Ton, als hätte er einem Freund seinen Wagen geborgt.

„Du hast ihm eine deiner Nieren gegeben?“

Er rollte sich auf den Rücken, zog Gemma aber dicht an sich.

„Als Kind erkrankte Abed an einer schweren Niereninfektion. Danach funktionierten beide Nieren nur noch eingeschränkt. Mit Anfang zwanzig beschlossen wir, nach einer Spenderniere für ihn zu suchen. Es stellte sich heraus, dass ich ein geeigneter Spender war.“

„Das heißt, du hast jetzt nur noch eine Niere!“, rief sie alarmiert.

„Jeder von uns besitzt eine voll funktionierende Niere, das ist völlig ausreichend“, entgegnete er gelassen. „Wie du weißt, wächst die verbleibende Niere und übernimmt achtzig bis neunzig Prozent der Leistung von zwei Nieren. Es besteht also keine Gefahr für den Spender.“

„Keine Gefahr? Aber musst du nicht besonders vorsichtig sein, weil es die einzige Niere ist, die du noch hast?“

„Und wie macht man das?“, neckte er sie. „Achtest du bei allem, was du tust darauf, deine Nieren zu schützen? Wie auch immer, du kannst sicher sein, dass ich vorsichtig bin.“ Wieder zog er sie an sich und küsste sie leidenschaftlich.

Doch Gemma war in Gedanken bei der Transplantation. Wäre er von Anfang an als Regent bestimmt gewesen, hätte man die Operation bestimmt nicht zugelassen. Oft genug kam es vor, dass der Spender unter mehr Problemen litt als der Empfänger, das wusste sie aus der Zeit ihrer praktischen Ausbildung.

„Du bist nicht bei der Sache.“ Yusef hob den Kopf und stützte sich auf dem Ellbogen ab. „Hast du Lust zu schwimmen? Komm.“ Er sprang auf und zog sie mit sich hoch. „Meinst du, ich habe mir das nicht auch alles überlegt? Damals studierte ich noch und wusste schon genug über die möglichen Folgen einer solchen Operation.“

Gemma wusste, er hatte recht. Ihre Panik war unbegründet, und doch konnte sie das sorgenvolle Gefühl nicht völlig vertreiben. Sie folgte ihm den Strand hinunter zum Wasser, das wunderbar warm und kristallklar war. Als sie sich auf den Rücken legte, ihr Haar sich wie Seetang auf der Oberfläche ausbreitete und die sanften Wellen über ihren nackten Körper plätscherten, fühlte sie sich wie eine verführerische Nixe. Nie hätte sie es für möglich gehalten, dass sie frei und unbeschwert nackt mit einem Mann im Meer baden würde.

Und was für ein Mann!

Mit ausgreifenden, kräftigen Zügen schwamm er bis ans Ende der Bucht und kehrte um. Die letzten Meter legte er unter Wasser zurück, um dicht neben ihr aufzutauchen. Ein glutvoller Ausdruck lag in seinen Augen. „Ich will dich“, sagte er heiser. „Jetzt.“

Gemma spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Die scheue, schamhafte Gemma war doch noch nicht ganz verschwunden. Doch dann vergaß sie alles um sich herum und überließ sich der Lust, die er mit kundigen Händen und Lippen in ihr weckte.