Kapitel 2
Bevor sie durch die offen stehende Gartenpforte trat, atmete Finola einmal tief durch. Der erste Schritt in ihren neuen Job, in ihr neues Leben! Die untergehende Septembersonne warf goldene Strahlen auf den Kiespfad, der zum Haus führte. Finola wertete dies als gutes Omen.
Tatsächlich schien sich, seit Mr Reginald sie in seinem Testament bedacht hatte, ihr Leben zum Positiven zu wenden.
Ein Blick auf die Armbanduhr verriet ihr, dass sie trotz des Zusammenstoßes mit Laurie gerade noch pünktlich war. Sie stieg die Steintreppe hinauf zur weinrot gestrichenen Haustür. Der Türklopfer aus Messing, der daran angebracht war, zeigte nicht den so weit verbreiteten Löwenkopf, sondern den eines indischen Elefanten. Viele Hände schienen den Elefantenkopf berührt zu haben, denn die Gravur seines Kopfschmucks wirkte in der Mitte abgerieben. Ob er ein Glücksbringer war?
Finola zögerte. Rechts der Tür gab es zwei Klingelknöpfe, einen für A. S., den anderen für MWS
Investigators. Klingeln? Oder lieber klopfen?
Langsam hob sie ihre Hand und stellte überrascht fest, dass diese leicht zitterte. War sie doch so nervös?
Noch bevor sie sich bemerkbar machen konnte, öffnete sich die Tür.
»Da sind Sie ja!« Finolas neue Arbeitgeberin trat einen Schritt zur Seite. »Kommen Sie rein. Den Rucksack können Sie hier in der Diele lassen, wir gehen zuerst mal ins Büro. Das Zimmer oben ist aber fertig und Ihr netter brasilianischer Freund hat Ihre beiden Kisten heute Morgen schon vorbeigebracht.«
Finola grüßte, ließ den schwarzen Trekkingrucksack von ihren Schultern gleiten, lehnte ihn an die Wand und folgte der Frau geradeaus durch die Flügeltür in das großzügige Büro.
Auf dem Schreibtisch, auf dem sich neben dem Laptop Akten stapelten, stand ein schwarzes Namensschild mit weißer Schrift: Anne Scott
.
»Tee? Kaffee?«, fragte Anne Scott und deutete auf eine Sitzecke mit drei weinroten Sesseln und einem runden Tisch, auf dem zwei bunte Tassen und ein Teller mit Shortbread standen.
»Gerne einen Tee.« Kaffee würde ihren Herzschlag nur noch weiter antreiben.
Anne Scott drehte sich um und schaltete den Wasserkocher auf dem Schränkchen ein. Sofort begann das Wasser zu brodeln – es war nicht zu verkennen, dass Finola pünktlich erwartet worden war.
»Milch, Zucker?«, fragte Anne Scott.
»Etwas Milch, keinen Zucker, bitte.«
»So mag ich den Tee auch am liebsten.« Lächelnd kam sie mit der Teekanne und einem Milchkännchen zu Finola an den Tisch und setzte sich ihr leicht schräg gegenüber. »Er muss noch kurz ziehen.«
Finola nickte und betrachtete die Frau im schlichten grauen Kleid. Sie schätzte Anne Scott auf Mitte bis Ende 50, sie war groß und weder dick noch schlank, ihre graumelierten Haare trug sie kurz geschnitten, und außer einem beerenfarbenen Lippenstift hatte sie offenbar kein Make-up verwendet. Seriös und vertrauenerweckend – ganz die Chefin von MWS
Investigators!
Finola versuchte, ihren Jeans-Minirock ein wenig weiter Richtung Knie zu ziehen. Sie hätte sich vor ihrem ersten Gespräch mit Anne Scott lieber noch umgezogen. Aber immerhin waren ihr aschblonder Pferdeschwanz und das schwarze Shirt unauffällig und passten in diese Umgebung.
»Hatten Sie schöne Ferien?«, fragte Anne Scott und schob den Gebäckteller näher zu ihr.
»Ja, danke. Tatsächlich entpuppte sich die Gartenparty meiner Freunde als ihre Hochzeitsfeier.« Finola nahm sich ein Shortbread.
»Ach, wie nett.«
Nach ein paar weiteren Sätzen Small Talk und den ersten Schlucken Tee ging Anne Scott zum geschäftlichen Teil über. »Ich hatte Ihnen ja schon gesagt, dass die Auftragslage der Detektei nach dem Tod meines Mannes ein wenig dünn geworden ist und ich selbst auch erst sehen muss, wie es dauerhaft weitergeht. Ich hoffe also, wir
schaffen es in den kommenden drei Monaten, die Sie hier arbeiten werden, alle gemeinsam, das Geschäft auf starke Beine zu stellen. Wenn das klappt, sollte Ihrer Weiterbeschäftigung auch nichts im Wege stehen.«
Sie wartete, bis Finola genickt hatte, dann fuhr sie fort: »Zum Glück läuft ein Bereich schon mal ganz gut. Unser Lachie ist ein Zauberer am PC
, wenn es darum geht, alte Freunde, abgetauchte Ehemänner oder die wahre Identität eines Catfishs zu finden.«
»Catfish?«
»Jemand, der versucht, unter falscher Identität im Internet eine Beziehung aufzubauen.«
Finola nickte.
»Damit werden Sie aber normalerweise nichts zu tun haben. Sie brauche ich, wie ich Ihnen ja schon sagte, vor allem für den Außendienst.«
Finola nickte erneut.
»Ich habe da auch gleich etwas für Sie – einen möglicherweise untreuen Ehemann.«
»Den soll ich beschatten?«
»Wir sprechen hier lieber von beobachten oder observieren, wir sind ja nicht im Krimi.«
»Selbstverständlich. Ich soll also diesen Mann observieren. Ab sofort?«
»Nein, nein, natürlich ab morgen. Sie müssen sich ja erst mal häuslich niederlassen! Ich hoffe, oben ist alles nach ihrem Geschmack, und gleich zeige ich Ihnen auch noch die Küche.« Anne Scott erhob sich.
Schnell trank Finola ihren letzten Schluck Tee und folgte ihrer Chefin aus dem Büro. Sie wandten sich nach links und gingen in einen Seitenflur und an einer verschlossenen Tür vorbei.
»Lachies Büro«, erklärte Anne Scott, »aber für heute hat er sich schon auf den Heimweg gemacht.«
Sie öffnete die Tür am Ende des Ganges, knipste das Licht an und ließ Finola in eine geräumige Wohnküche treten. Auf einem imposanten Esstisch aus altem Holz stand eine Vase mit bunten Gartenblumen, drum herum verschiedene Stühle in leuchtenden Farben. Die Küchenschränke waren modern, glatt und weiß, der große AGA
-Herd glänzte in Dunkelgrün.
»Heutzutage gilt der eigentlich als Energieverschwender«, erklärte Anne Scott, als sie Finolas Blick sah, »aber ich habe dieses neue Programm einbauen lassen, sodass man ihn auch abschalten kann. Sie werden jedoch sehen, er ist Gold wert, wenn es im Winter …« Sie räusperte sich. »Sollen wir jetzt raufgehen?«
Sie wirkte plötzlich fast ein wenig verlegen, was Finola überraschte. Ja, vielleicht würde sie im Winter nicht mehr hier sein. Aber das war ja nicht Anne Scotts Verschulden, und schließlich hatte sie sich bereitwillig auf die dreimonatige Befristung als Probezeit eingelassen. Ihr Grundgehalt konnte man auch als eher gering oder sogar als mies bezeichnen, aber Anne Scott hatte ihr dazu in ihrem Haus ein Zimmer mit eigenem Bad und Küchen- und Gartenbenutzung angeboten, was in der guten Lage des Stadtteils Morningside einiges wert war. Das Arrangement war für sie beide günstig, denn das Zimmer, ehemals das Reich von Anne Scotts ältestem Sohn, hatte ohnehin leer gestanden. Zudem würde sie auch eine Provision aus dem Honorar für ihre Fälle erhalten.
Finola warf einen letzten Blick auf die Glastür, die von der Küche in den Garten führte. »Ja, das wäre schön. Ich würde mich gerne etwas frisch machen.«
»Selbstverständlich. Ich hätte Sie nicht aufhalten sollen, aber … nun kommen Sie mit.«
Da war es wieder, das kurze Zögern. So selbstsicher, wie Anne Scott tat, schien sie nicht wirklich zu sein. Aber die Situation war ja für sie beide fremd. Und im selben Haus zu arbeiten und zu wohnen, konnte sich für beide als Herausforderung erweisen. Wahrscheinlich war es einfacher, wenn sie ein wenig vorsichtig miteinander umgingen.
Die Zimmertür klackte leise ins Schloss, Finola war allein. Endlich! Die Anreise war doch sehr anstrengend gewesen.
Sie hievte ihren Rucksack auf das Bett und sah sich um. Bei ihrem Vorstellungsgespräch vor drei Wochen hatte sie das Zimmer nur kurz gesehen, von daher hatte sie es noch vollgestellt mit Möbeln, Kisten und Bücherstapeln in Erinnerung. Ein richtiger Abstellraum, in den Anne wohl alles gepackt hatte, was ihr anderswo im Weg
herumgestanden hatte.
Nun wirkte ihr neues Heim klar und luftig, die Wände waren weiß gestrichen, das Bett neben der Tür war mit einem himmelblauen Überwurf bedeckt, der Bettvorleger auf dem grauen Teppichboden blau-weiß gestreift. Finola lächelte unwillkürlich. Deshalb also hatte Anne sie bei ihrer Zusage am Telefon nach ihrer Lieblingsfarbe gefragt. Bis auf das Bett und den Schreibtischstuhl waren die Möbel sichtlich alt und aus einem orange-rötlichen Holz. Eibe?
Der Schrank sah geräumig aus, der randlose Spiegel war praktisch, es gab eine Kommode, über der ein kleines Aquarell in Blau-Grün-Tönen hing, das an Meer und Inseln erinnerte, und einen Schreibtisch unter dem Fenster mit einem Bücherregal daneben. Ein Sessel mit einem blau-weiß gemusterten Überwurf und ein dreieckiges Beistelltischchen vervollständigten die Einrichtung.
Schön. Finola lächelte. Sie hatte schon befürchtet, in einem dieser Zimmer wohnen zu müssen, in denen große gelbe oder pinkfarbene Blumen den Ton angaben.
Sie wandte sich wieder dem Bett und ihrem Rucksack zu, um das Wichtigste gleich auszupacken. Der Rest, auch die beiden Kartons, die Antônio hergebracht hatte, hatte noch Zeit. Jetzt sehnte sie sich erst mal nach einer Dusche. Und dann …
Es klopfte. Finola legte die aufgerollten Shirts, die sie gerade aus dem Rucksack gezogen hatte, aufs Bett und öffnete.
Anne Scott hielt ihr eine graue Mappe entgegen. »Ich wollte Ihnen schnell noch die Unterlagen bringen. Vielleicht möchten Sie ja heute Abend schon mal reinschauen. Ansonsten treffen wir uns pünktlich um neun im Büro und sprechen über Ihr genaues Vorgehen.«
Finola nahm die Akte aus der ausgestreckten Hand. Der Ärmel des Kleides war ein Stück hochgerutscht und gab einen weißen Fleck an Anne Scotts Handgelenk frei. Er sah aus wie ein Farbklecks. Hatte sie noch anderswo renoviert? Oder war dies Korrekturflüssigkeit von der Büroarbeit? Nun, das konnte Finola egal sein. Es war nur auffällig angesichts von Anne Scotts sonst makellosen Aussehens.
»Danke, Mrs Scott, dann noch einen schönen Abend.«
»Anne, bitte. Mrs Scott bin ich nur für meine Klienten. Und jetzt lass ich Sie wirklich in Ruhe.« Sie lächelte, nickte und drehte sich
um, um die Treppe wieder hinunterzugehen.
Finola schloss die Tür und atmete tief durch. Hoffentlich kam ihre Arbeitgeberin jetzt nicht dauernd mit allem an, was ihr gerade einfiel.
Sie legte die Mappe auf ihren Nachttisch, nahm sie ein paar Sekunden später jedoch wieder in die Hand, um zumindest schon einmal den Namen zu lesen, der in Schönschrift auf dem kleinen Plastikreiter stand: Erskine, Craig.
Dies also war ihr erster Fall als Privatdetektivin: Der ungetreue Craig!