Kapitel 4
Anne blickte von ihrem Teller auf, als Finola die Küche betrat, um sich einen Tee zu kochen.
»Sie sind früh zurück.«
»Donnerstag ist Ehemann-zu-Hause-Tag, steht in der Akte. Und Craig Erskine ist tatsächlich nach seiner Arbeit direkt mit dem Bus heimgefahren und nach Hause marschiert. Morgen geht’s länger, mit Pubbesuch und so.«
»Und wie war es? Ach, nehmen Sie sich doch auch was von den Spaghetti, ich habe ohnehin mal wieder viel zu viel gekocht.«
»Gut war’s.« Finola kam Annes Aufforderung nur zu gern nach. Vor lauter Verkleidungsshopping hatte sie völlig vergessen, an ihren Magen zu denken und Lebensmittel für das Abendessen einzukaufen. Sie füllte eine Portion Spaghetti und einen Schöpfer Soße mit Gemüsestückchen auf einen Teller – tatsächlich sah es aus, als hätte Anne für eine Großfamilie gekocht – und setzte sich zu ihrer Chefin.
»Ich habe in der Mittagspause ein paar Fotos gemacht, er ist mit zwei anderen aus der Bank in die Princes Street Gardens gegangen. Ein Mann, Dan, und eine junge Frau, Jess. Die schien sehr angetan von unserem Craig, aber wirklich Verdächtiges habe ich nicht gesehen.«
Anne nickte und widmete sich ihren Spaghetti. Das Gespräch verstummte.
In die Stille erklang plötzlich ein klägliches Miauen, und eine kräftige graue Katze stolzierte in die Küche. Sie setzte sich vor den Herd und sah von Anne zu Finola und wieder zurück.
»Darf ich vorstellen? Finola – Olga. Olga – Finola«, sagte Anne und stand auf. »Olga ist übrigens immer hungrig, wenn sie Menschen essen sieht, selbst wenn sie eigentlich satt ist. Deshalb kriegt sie jetzt etwas zum Knabbern, bevor sie uns unsere Spaghetti streitig macht.«
Anne nahm eine Schachtel aus dem Oberschrank und füllte ein paar Knuspersnacks in einen der beiden Näpfe neben der Tür zum Garten, die Finola erst jetzt auffielen.
»Freddy dagegen jagt seine Beute lieber draußen. Den sehen wir manchmal tagelang nicht. Vielleicht frisst er sich aber auch bei den Nachbarn durch.«
»Sie haben zwei Katzen?«
Anne nickte und setzte sich wieder. »Hatte ich das nicht erwähnt? Oh, ich hoffe, Sie sind nicht allergisch oder so?«, fragte sie besorgt.
Finola schüttelte den Kopf. »Ich mag Katzen. Hab allerdings wenig Erfahrung mit ihnen.«
Annes Aufatmen verriet ihre Erleichterung, während Olga beim Fressen eher misstrauisch zum Tisch schielte. Sie schien noch nicht wirklich davon überzeugt zu sein, dass Finola hierhergehörte.
»Wieso glaubt Amanda Erskine eigentlich, dass ihr Mann sie betrügt?«, fragte Finola schließlich. »Was sind die Anzeichen?«
Anne zuckte mit den Schultern. »Das Übliche. Er macht oft Überstunden, kürzlich ist er zu einer Fortbildung gefahren, von der er vorher nichts erzählt hatte. Sie findet, er hat sich verändert, ist ihr gegenüber kühler geworden.«
»Inwiefern?«
»Ach, was weiß ich. Gesagt hat sie es natürlich nicht, aber mir klang das, als hätten die beiden weniger Sex als früher.«
Überrascht ob der direkten Aussage zögerte Finola kurz, bevor sie fragte: »Wie lange sind sie denn schon zusammen? Wissen Sie das zufällig?«
»Drei Jahre. Davon zwei verheiratet.«
»Hm. Aber sie hat keinen Verdacht, wer die andere sein könnte? Ich habe in der Akte nichts dazu gefunden.«
»Nein. Sie hat nur vage Ideen. Eine Kollegin in der Bank findet sie recht wahrscheinlich. Oder eine Frau, die er irgendwo kennengelernt hat, wo er alleine hingeht. Im Fitness-Studio, beim Golfen oder so. Obwohl sie wohl schon vergeblich versucht hat, ihn dort zu erwischen.«
Finola lächelte bei dieser Vorstellung.
»Nun hat sie alles uns Profis übergeben, und wir werden die Sache klären«, fuhr Anne fort. »Damit die arme Seele Ruhe hat.«
»Haben die beiden Kinder?«
»Nein.«
»Immerhin.«
»Noch eine Portion?«, fragte Anne mit einem Blick auf Finolas leeren Teller.
»Sehr gerne.«
Anne füllte beide Teller noch einmal, als die Küchentür aufging, die Katze hinaussauste und ein Mann hereinkam. Finola schätzte ihn auf etwa fünfzig, er hatte eine Stirnglatze, trug einen dunkelgrauen Strickpullover, und die Augen hinter den Gläsern seiner Hornbrille weiteten sich überrascht, als er sie sah.
»Ah, Lachie. Wir haben dir noch ein paar Spaghetti übrig gelassen, komm, setz dich zu uns. Dies ist Finola, unsere neue Kollegin für den Außendienst.« Anne griff nach einem dritten Teller.
Der Mann kam zum Tisch und reichte Finola förmlich die Hand. »Lachlan MacKinnan. Schön, Sie kennenzulernen.«
»Finola MacTavish, ich freue mich.«
»Lachie ist unser Hacker«, erklärte Anne und stellte die gefüllten Teller auf den Tisch.
»Das sollst du nicht sagen, Anne – bitte!« Lachie runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Dann ging er zum Kühlschrank, um sich ein Bier herauszuholen.
Anne grinste nur.
Lachie aß schweigend. Erst als er sein Mahl beendet hatte, wandte er sich an Finola. »Konnten Sie schon etwas herausfinden, damit die kleine Amanda wieder ruhig schlafen kann?«
»Sie kennen Amanda Erskine?«, fragte Finola überrascht.
»Klar. Die Gibsons – Amanda ist eine geborene Gibson – sind doch alte Freunde der Scotts. Und ich auch.«
»Das hat mir Anne gar nicht erzählt.«
»Das hat ja auch nichts mit dem Fall zu tun«, rechtfertigte sich Anne.
»Nun ja, irgendwie schon, sie hat immerhin dich beauftragt und nicht eine der schnieken großen Erfolgsdetekteien wie Anderson’s.« Lachie lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.
»Malcolm, mein verstorbener Mann, war mit Amandas Vater und vor allem mit dessen Bruder befreundet«, erklärte Anne. »Da liegt es doch nahe, sich bei so einer vertraulichen Angelegenheit an MWS Investigators zu wenden.«
»Eben.« Lachie nickte. »Ich habe übrigens nichts gefunden, keine verdächtigen Zahlungen, keine häufigen Telefonate mit einer bestimmten Nummer. Natürlich könnte er ein zweites Handy haben. Oder er verabredet sich mit der Dame immer nur persönlich.«
»Danke, Lachie. Schade, dass du nichts entdeckt hast. Dann hätte Finola nur noch ein paar Fotos machen müssen.«
Lachie stand auf. »Nun ja, Lassie, glaub ja nicht, dass das Fotografieren in flagranti leicht ist!«
Er hob die Hand zum Gruß und verließ die Küche. Ob er mit Lassie , der schottischen Bezeichnung für Mädchen, sie oder doch eher Anne gemeint hatte, blieb unklar.