Kapitel 6
Pünktlich um neun am nächsten Morgen, noch vor ihrem ersten Kaffee, saß Finola in Annes Büro, um ihr zu gestehen, dass sie Craig Erskine nicht bis nach Hause gefolgt war.
»Die sind geblieben, bis der Pub um Mitternacht zugemacht hat«, erklärte sie. »Dann haben sie sich lautstark voneinander verabschiedet und sind in alle Richtungen verschwunden. Craig hat ein Taxi genommen. Alleine. Ein zweites gab es natürlich nicht, also …« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich konnte ihn schlecht fragen, ob er mich in seinem Taxi mitnimmt.«
Anne zog einen Mundwinkel ironisch nach oben. »Stimmt.«
»Ich werde gleich noch meinen Bericht schreiben. Seine Frau kann ja beurteilen, ob er nach einer angemessenen Zeit zu Hause war.«
Anne nickte. Ihrem Gesichtsausdruck nach schien sie mit Finolas Arbeit zufrieden zu sein. »Gut. Für dieses Wochenende steht nichts Weiteres an, die Observierung von Craig Erskine setzen Sie bitte am Montag fort. Da geht er abends immer ins Fitnessstudio.«
»Ich weiß, hab’s in der Akte gelesen. Ich werde mich dort ebenfalls anmelden.«
»Gut.«
»Ich habe da noch eine Idee …«
»Ja?« Anne sah Finola aufmerksam an.
»Mir kam gestern Abend der Gedanke – könnten wir die Ehefrau nicht in die Observierung mit einbinden? Also, ich denke mir das so, dass sie mich kurz anruft oder eine Nachricht schickt, wenn ihr Mann mit einem bestimmten Ziel das Haus verlässt. Dann bin ich schon vor Ort, wenn er ankommt. Also zum Beispiel im Fitnessstudio. So wäre er viel unauffälliger zu beobachten.«
Anne legte den Kopf schief. »Keine schlechte Idee«, sagte sie. »Aber wenn er dort nicht auftaucht?«
»Dann wissen wir, dass er lügt. Und beim nächsten Mal hefte ich mich ihm eben doch an die Fersen.«
»Okay. Am besten kriegen Sie dafür ein Diensthandy. Solche Aufträge wird es ja immer wieder geben, und wir wollen privat und dienstlich doch auseinanderhalten. Ich rufe gleich mal Amanda an und …«
In diesem Moment klingelte es an der Haustür.
»Das ist für die Detektei«, sagte Anne, stand auf und kam um ihren Schreibtisch herum. Sie wirkte überrascht. »Ich habe für mich privat einen Gong. Ach ja, wir müssen auch noch Ihren Namen an die Klingel …« Sie verließ das Büro, ließ jedoch die Tür offen stehen.
Finola lauschte, unsicher, ob sie bleiben oder sich diskret zurückziehen sollte.
»Amanda! Das ist ja Gedankenübertragung, ich wollte dich gerade anrufen. Meine Ermittlerin sitzt hier bei mir, komm rein!«
Einen Moment später kam Anne zurück ins Büro, gefolgt von einer zierlichen, dunkelhaarigen Frau in Jeans und Pullover.
Finola stand auf.
»Dies ist Ms MacTavish, die ich mit deinem Fall betraut habe – Amanda Erskine«, stellte Anne die beiden einander vor.
Sie tauschten einen Händedruck und höfliche Begrüßungsfloskeln und folgten dann Anne in die Besucherecke mit den weinroten Sesseln.
»Ich hole schnell noch Wasser für den Tee, setzt euch schon mal«, sagte Anne, nahm den Wasserkocher und ging hinaus.
»Aber ich …«, rief ihr Amanda hinterher, doch Anne schien ihre Worte nicht mehr zu hören.
Nun wandte sich Amanda Erskine Finola zu und gab ihr damit Gelegenheit, ihre Klientin genauer zu betrachten. Sie sah gut aus, war dieser sportlich-disziplinierte Typ, der mehrmals die Woche joggen oder ins Fitnessstudio ging und wahrscheinlich Kalorien zählte. Nun, es schien sich auszuzahlen. Die enge Jeans schmiegte sich an wohlgeformte Beine, und unter dem lachsfarbenen dünnen Pullover – Finola tippte auf Cashmere – zeichnete sich kein Gramm Fett zu viel ab. Ihre Füße steckten in ebenfalls lachsfarbenen Sneakers, die eindeutig keiner Billigmarke zuzuordnen waren.
Amanda räusperte sich. »Ms MacTavish …«, setzte sie an.
Finola zögerte. Sollte sie sie bitten, sie beim Vornamen zu nennen, oder war das unprofessionell? Sie atmete auf, als Anne zurückkam und sich die Frage für den Moment erledigte.
Anne stellte den gefüllten Wasserkocher auf den Heizring und schaltete ihn an, dann holte sie eine Teekanne und drei bunte Becher aus dem Schränkchen darunter.
»Wir haben gerade über deinen Fall gesprochen, als du geklingelt hast«, sagte sie zu Amanda und stellte die Teebecher auf den Tisch. »Wann ist Craig heute Nacht nach Hause gekommen?«
»Drei nach halb eins!« Amandas Stimme klang vorwurfsvoll, und sie kniff nach ihren Worten die Lippen zusammen, was ihrem hübschen Gesicht deutlich Abbruch tat. Auch fielen Finola jetzt bei genauerem Hinsehen dunkle Ringe unter den Augen auf, die schlecht überschminkt waren. Craigs Frau litt sichtbar unter seiner potenziellen Untreue.
»Das deckt sich damit, dass er nach dem Pubbesuch mit seinen Kollegen kurz nach Mitternacht in der Rose Street ein Taxi genommen hat. Also zusammengefasst: Bisher hat sich dein Verdacht noch nicht bestätigt.«
»Dann stimmt es also, dass sie im Pub den ganzen Abend Maggies Geburtstag gefeiert haben?«
Das Wasser sprudelte plötzlich laut, und Anne bedeutete Finola, das Gespräch zu übernehmen, während sie den Tee aufgoss.
»Wenn Maggie rothaarig ist beziehungsweise hennarot gefärbt, kann ich das bestätigen«, sagte Finola. Klar, warum hatte sie das nicht gleich erkannt? Eine Geburtstagsfeier! Die Rothaarige hatte schließlich fast alle Runden ausgegeben.
»Sei ganz beruhigt, Sweetie, wenn er dich betrügt, werden wir das noch herausfinden«, ergänzte Anne. Sie brachte die Teekanne mit und setzte sich.
Amanda nickte. »Ich vertraue dir da völlig«, sagte sie und fügte mit einem Blick zu Finola schnell hinzu: »Beziehungsweise natürlich Ihnen. Aber das ist es nicht, warum ich gekommen bin.«
Anne sah sie fragend an.
»Es geht um Uncle Ernie«, erklärte Amanda.
»Ernie? Was ist mit ihm?« Anne hob die Hand, als wolle sie ihre Besucherin bitten, mit ihrer Antwort zu warten, und nickte Finola zu. »Danke, Sie können dann …«
»Nein, lass!«, unterbrach Amanda sie. »Ist nicht privat. Wir brauchen deine Ermittlerin! Uncle Ernie ist nämlich seit Tagen spurlos verschwunden, und ich will, dass sie ihn findet!«