Kapitel 7
So schnell kam man also an einen zweiten Fall. Und das am Wochenende! Aber da Finola ohnehin in Edinburgh bisher so gut wie niemanden kannte und nichts vorhatte, war ihr das nur recht. Mit einem weiteren Auftrag konnte sie ihr Gehalt ein wenig aufbessern.
Ernest Gibson, Amandas Onkel, war nach deren Aussage seit dem letzten Wochenende nicht mehr gesehen worden.
»Zunächst habe ich mir nichts dabei gedacht, als ich ein paar Tage nichts von ihm gehört habe, schließlich hat er sein eigenes Leben, aber am Donnerstag wollte er eigentlich zum Abendessen kommen. Als er dann nicht aufgetaucht ist … Wir haben erst angenommen, dass er sich nur verspätet hat – du weißt ja, wie er ist, Anne. Aber er ist gar nicht erschienen und hat auch nicht abgesagt. Ich hab ihn natürlich angerufen. Aber er ist weder zu Hause ans Telefon noch ans Handy gegangen. Und seitdem – er ist einfach nicht zu erreichen!«
Amanda Erskines Stimme überschlug sich und Finola entdeckte Tränen in ihren Augen.
»Amanda, warte. Das heißt noch lange nicht …« Anne legte beruhigend die Hand auf ihre Schulter.
»Ihm ist etwas passiert!«, unterbrach Amanda sie. »Ich fühle das. Das ist genau wie damals, als Daddy …« Sie schlug die Hände vor ihr Gesicht und begann zu schluchzen.
Anne und Finola sahen sich an, und Finola zog ein Päckchen Taschentücher aus ihrer Hosentasche. Mit einem fragenden Blick legte sie es auf das Tischchen. Anne nickte.
»Warst du schon bei ihm zu Hause?«, fragte sie sanft und zog eines der Taschentücher aus der Packung. Als Amanda die Hände sinken ließ und aufschaute, drückte sie es ihr in die Hand.
Amanda tupfte ihre Tränen ab. Die Mascara erwies sich als wasserfest – um die Augen war die Haut zwar ein wenig geschwollen, aber nicht verschmiert.
»Ja, natürlich«, sagte sie. »Gestern Nachmittag. Im Briefkasten war noch die Post vom Montag, und die Zimmerpflanzen waren kurz vorm Vertrocknen! Die Nachbarn wussten auch nichts. Es muss etwas passiert sein – er würde seine Pflanzen doch nie …« Ihre Tränen flossen wieder, und sie wischte sie vorsichtig weg. »Kannst du nicht Ms MacTavish einsetzen?«
Anne schüttelte den Kopf. »Ich kümmere mich erst mal selbst darum«, erklärte sie und legte beruhigend eine Hand auf Amandas. »Was sagt dein Mann dazu?«
»Craig liegt noch im Bett! Hatte wohl gestern Abend einiges intus. Und er nimmt mich überhaupt nicht ernst. Ich hab die ganze Nacht nicht geschlafen. Bitte, Anne, ich weiß nicht, was ich tun soll!«
»Warte einen Moment, ich hol schnell ein paar Kekse, und dann sprechen wir beide in Ruhe weiter und überlegen«, sagte Anne. »Finola, kommen Sie bitte kurz mit?«
Dieses Mal schloss Anne die Bürotür hinter sich. Sie seufzte tief.
»Ich brauche Sie, glaube ich, im Moment nicht mehr«, sagte sie leise. »Aber können Sie heute erreichbar bleiben, Finola? Ich weiß nicht, was an Amandas Geschichte dran ist. Ihr Onkel könnte einfach irgendwohin gefahren sein, wo er keinen richtigen Handyempfang hat. Vielleicht zu einem seiner Hobbygärtnertreffen. Oder er hat vergessen, das Ding aufzuladen. Er ist nicht unbedingt verlässlich, egal, was Amanda sagt.«
»Sie kennen ihn gut?«
»Er ist mit meinem verstorbenen Mann zur Schule gegangen. Malcolm, also mein Mann, Ernie und John, Amandas Vater, waren eine verschworene Gemeinschaft.«
Finola nickte. »Amandas Vater – sie hat da was erwähnt …«
»Ach je, ja. John hatte vor ein paar Jahren auf einer Bergwanderung einen Herzinfarkt. Als man ihn fand, war es zu spät.«
»Wie traurig.«
»Seitdem hängt sie natürlich besonders an ihrem Onkel. Ihre Mutter lebt mit ihrer zweiten Familie in England, und er ist der einzige Verwandte in der Nähe.«
»Ich bleibe erreichbar«, versprach Finola. »Meine Handynummer haben Sie ja. Rufen Sie einfach an! Ich wollte mich ohnehin hier in Morningside umsehen, dazu bin ich bisher noch nicht gekommen.«
»Und ich schaue mal, ob ich etwas mehr über Ernie herausfinde, wenn ich mit Amanda alleine spreche.« Anne atmete tief durch. »Drücken Sie bitte die Daumen, dass dies kein neuer Fall für uns wird! Und vor allem – keiner für die Polizei.«